Die Weltenbibliothek
„Es ist das letzte Bisschen Schlafpulver“, sagte Anne mit zitternder Stimme. „Verwende es unter keinen Umständen für dich selbst. Es ist besser, einen Feind damit unschädlich zu machen.“ Während die alte Frau mit ihrer Enkelin sprach, strich sie ihr wiederholt über den Kopf. Der Abschied fiel ihr sichtlich schwer – wie so oft schon. Doch hatte sie es mittlerweile aufgegeben, Arrow von Reisen dieser Art abbringen zu wollen.
Dewayne hatte seine Schwester begleiten wollen, doch sogar davon riet Anne dringend ab. „Ein König muss hier die Stellung halten“, erklärte sie. „Noch weiß niemand außerhalb dieser Mauern über das Bescheid, was mit Keylam geschehen ist. Wir müssen den Anschein wahren, dass der Frühling in wenigen Wochen kommt. Dadurch gewinnen wir Zeit. Wenn die Leute erfahren, dass der ewige Winter erneut hinter dieser trügerischen Idylle lauert, bekommen wir Schwierigkeiten.“
„Traust du ihr etwa zu, dass sie auf sich selbst aufpassen kann?“, fragte der Elf vorwurfsvoll.
Anne schluckte. „Ich traue ihr zu, dass sie ihren Weg gehen wird.“
Gerührt von diesen Worten und dem Vertrauen, das ihre Großmutter in sie setzte, fiel Arrow ihr in die Arme. „In meinem Herzen wirst du immer mein kleines Mädchen sein“, flüsterte Anne so leise, dass keiner der Anderen es hören konnte.
Es war so seltsam. Jetzt, da Anne endlich akzeptiert hatte, dass sie erwachsen geworden war, und sie gehen ließ, fiel der Abschied weitaus schwerer als zu dem Zeitpunkt, da sie vor einigen Wochen zum Holunderwald aufgebrochen war. Damals war sie davon überzeugt gewesen, das Richtige zu tun und sicher nach Haus zurückzukehren. Dieses Mal fühlte es sich anders an. Es gab keine Wut oder Verärgerung über jemanden, der ihr etwas nicht zutraute. Jetzt war da nur Verständnis.
Natürlich hatte sie auch vollstes Verständnis für die besorgten Worte ihres Bruders, denn er wollte sie nur beschützen, und dafür war sie ihm zutiefst dankbar. Allerdings wurde ihr jetzt auch bewusst, warum Anne ihr wenige Minuten zuvor noch etwas anvertraut hatte, das die Anderen um keinen Preis erfahren sollten. Sie hatte Arrow das Versprechen abgenommen, darüber kein Wort zu verlieren, denn es war tatsächlich von höchster Wichtigkeit, dass ein König für alle anderen präsent war. Und wenn Dewayne um das Geheimnis wüsste, würde er sie nie und nimmer allein gehen lassen – das war Anne nach ihrer Auseinandersetzung mit ihm klar geworden.
„Eine Sache muss ich dir dennoch mit auf den Weg geben“, hatte sie mit Nachdruck auf Arrow eingeredet. „Unter gar keinen Umständen darfst du deine Geduld verlieren. Tust du es doch, wirst du Dinge übersehen.“ Mit zitternden Händen holte sie ein Blatt Papier hervor, welches sie offenbar einem der Bücher entrissen hatte. „Wenn es stimmt, was hier geschrieben steht, kann man einen Phönix nur dann töten, wenn man im Besitz seiner Asche ist. Und die befindet sich hier bei uns. Dieser Hinweis muss nicht unbedingt auch eine zuverlässige Quelle sein, es war der einzige Vermerk dieser Art, den ich in unseren Büchern gefunden habe.“
Argwöhnisch hatte Arrow den Abschnitt über die Phönixasche durchgelesen. „Seit wann weißt du davon?“
„Ich habe es heute Mittag entdeckt und mich seither mit nichts Anderem mehr beschäftigt. Eigentlich hatte ich gehofft, noch weitere Artikel zu finden, um sicher zu sein. Doch meine Suche war erfolglos.
Arrow, sollte dies die Wahrheit sein, können sie Keylam nichts anhaben. Ich weiß, wie schwierig diese Ungewissheit für dich ist und dass du sie lieber heute als morgen nach Hause holen möchtest. Doch du darfst unter gar keinen Umständen den Kopf verlieren. Es könnte eine Falle sein.“
„Eine Falle?“, hatte sie ängstlich nachgefragt. „Mit welchem Ziel?“
„Dich unschädlich zu machen. Wenn ich die Sache richtig einschätze, haben wir es hier nicht mit einem Dummkopf zu tun. Wer immer Keylam auch in die Unterwelt verschleppt hat, weiß sehr wohl, dass er ihn allerhöchstens gefangen halten, jedoch niemals töten kann. Trotzdem hat er das Tor gerade so weit geöffnet, dass Keylam die Schneeglöckchen noch immer blühen lassen kann. Weder denke ich, dass es in der Macht deines Gegners steht, die Schwelle zwischen unserem und dem Totenreich noch weiter zu öffnen, noch, dass es in seiner Absicht liegt, dich lebend in die Unterwelt zu locken. Er will dich mit diesem Zeichen nur in den Wahnsinn treiben, und dich somit dazu veranlassen ... dich aufzugeben.“
Bei diesen Worten war Arrow kreidebleich geworden. „Warum sollte jemand so etwas tun?“
Anne schluckte. „Weil im Moment niemand sonst an dich heran kommt. Keylam ist nur das Mittel zum Zweck. Und du bist ein wichtiger Teil in diesem Krieg, denn du bist das Mädchen aus der Prophezeiung.“
Ein Schauer lief Arrow über den Rücken, als sie ihrer Großmutter ein letztes Mal in die Augen sah und an das Gespräch zurück dachte. Doch sie musste unbedingt Fassung bewahren, damit ihr Bruder nicht misstrauisch werden konnte. Normalerweise hatten Elfen ein Gespür für Geheimnisse und Lügen, doch Dewaynes eigene Gefühlswelt war derweil ebenso stark aus dem Ruder geraten wie die von Arrow. Somit war er gegenwärtig nicht imstande, diesen Dingen auf die Schliche zu kommen.
Neve hatte Tränen in den Augen, als sie ihre Freundin verabschiedete, und bei diesem Anblick konnte selbst Sally ein Schluchzen nicht unterdrücken. Adam verabschiedete sich ohne große Worte. Dafür umarmte er sie so fest, dass auch Arrow eine Träne wegstreichen musste. Harolds Abschiedsgruss bestand darin, bei jeder Verabschiedung mit den Augen zu rollen und ungeduldig auf die Uhr zu schauen.
„Wenn du Unsinn machst, werde ich dir das nie verzeihen“, sagte Dewayne mit einem drohenden Blick. Noch einmal umarmte er seine Schwester, und als sie ihrer Familie den Rücken zukehrte, nahm Dewayne einen tiefen Atemzug, um die Fassung wahren zu können.
Als Arrow hinter sich das Tor zuzog und hörte, wie es von den vielen Schlössern verriegelt wurde, war das Gefühl der Traurigkeit verschwunden. Jetzt wurde sie nervös.
Natürlich hätte sie sich auf ihrer Reise lieber von den Zwergen begleiten lassen, doch gegenwärtig stand diese Möglichkeit nicht zur Diskussion. Bon hatte erwähnt, dass im Untergrund erschreckend wenige Trolle anzutreffen waren und dafür die Anzahl der Finsterlinge enorm angestiegen sei. Er befürchtete, dass jemand die Trolle gefangen hielt, um aus ihren Schatten diese böswilligen Kreaturen zu züchten. Viel weiter wollte er auf das Thema nicht eingehen, doch es behagte Arrow gar nicht, wenn es schon so weit im Argen lag, dass sich nicht einmal die Zwerge in ihrem Reich noch sicher fühlten. Und eine Reise an der Oberfläche wäre für sie viel zu gefährlich gewesen.
Dieses Thema hatte Arrow eine Gänsehaut bereitet. So oft schon hatte sie von Feinden und einem geheimen Krieg in dieser Welt gehört. Am Anfang hatte sie jedoch so erschreckend wenig davon mitbekommen, dass sie diese Sache irgendwann ausgeblendet hatte. Und nun überschlugen sich die Ereignisse. Keylam und sein Perseide, Urban, waren verschleppt worden, und die tapfersten und mutigsten Männer, die es in dieser und jeder anderen Welt gab, waren derart eingeschüchtert, dass es ihr Angst einjagte.
Plötzlich ertönte das Geheul.
Die Kapuze ihres Mantels tief ins Gesicht gezogen, umklammerte sie ängstlich das Zaumzeug des Rappen. Wieder und wieder strich sie ihm sanft über den Hals. Es sollte ihn besänftigen, doch sowohl Arrow als auch ihr Perseide wussten, dass sie selbst die Beruhigung weit nötiger hatte.
Dieses Mal schien es eine gefühlte Ewigkeit zu dauern, bis die Dämonen endlich das Dorf erreicht hatten. Wie üblich stand kein einziger Stern am Himmel. Obwohl diese Himmelskörper über alles thronten, fürchteten selbst sie das gruselige Schauspiel, das die Wilde Jagd stets bot. Die gelegentlichen Blitze, die das Treiben von Frau Perchtas Gefolge beständig mit sich brachte, ließen Arrow auch dieses Mal die Orientierung verlieren. Der andauernde Wechsel zwischen grellem Licht und absoluter Finsternis hatte sie damals schon beinahe in den Wahnsinn getrieben. Jedoch hatte sie – im Gegensatz zu diesem Mal – ihrer ersten persönlichen Teilnahme an der Wilden Jagd nicht unbedingt freiwillig beigewohnt. Obwohl es im Grunde auch jetzt nicht aus freien Stücken, sondern vielmehr aus einer Notwendigkeit heraus geschah.
Eilig nahm sie eine bauchige Titanglasflasche aus der Satteltasche. Neve hatte sie ihr überlassen. Darin waren noch immer die Irrlichter, welche die Elfe einst gefangen und mit auf die Suche nach Dewayne genommen hatte. Die kleinen Biester hatten irgendwann das Singen gelernt, da ihnen die Prügeleien mit der Zeit zu langweilig geworden waren. Nach einer Woche verdorbener Seemannslieder hatte Dewayne keine Lust mehr auf das – wie er es genannt hatte – Katzengejammer. Mit einem Trick hatte er es geschafft, die Irrlichter gegeneinander aufzubringen und ein Set winziger Spielkarten in die Flasche zu schmuggeln. Die kleinen Kerlchen waren damals so rauflustig gewesen, dass sie die Karten erst einen halben Tag später bemerkt hatten. Aufmerksam hatten sie Sally, Harold und Dewayne beim Pokern beobachtet und es seitdem zu ihrer Lieblingsbeschäftigung gemacht.
Als Arrow kurz nachsah, ob es den kleinen Kerlchen denn auch gut ging, fühlten sich diese durch ihre Blicke belästigt und musterten sie grimmig. Sobald ihr eines der Irrlichter den Mittelfinger zeigte, wurde sie sauer und rief den anderen zu: „Der hier hat übrigens ein Fullhouse. Und außerdem hat er eine Karte zwischen seinen Pobacken versteckt!“ Daraufhin begannen die kleinen Quälgeister erneut, sich zu prügeln.
Als die Dämonen im Dorf eintrafen, kamen der General und seine Männer sogleich herbeigeeilt, um Arrow und Whisper als Eskorte zur Seite zu stehen.
Der dicke Sockenmann hatte eine schwere Kette um den Hals. Einer der Perchten hielt ihn damit an der Leine, denn bei Arrows Anblick knurrte er wie eine übergewichtige Dogge. Und jedes Mal, wenn er versuchte sich loszureißen, röchelte er anschließend unter der Anstrengung.
Die anderen Geister ignorierten sie. Mit leeren Blicken schwebten sie durch die Lüfte und jammerten, als würde es kein Morgen geben. Arrow konnte kaum verstehen, was genau sie zu beklagen hatten, denn sie riefen alle durcheinander und schenkten dem Geheule der anderen nicht die Geringste Beachtung.
„Bist du so weit?“, fragte Frau Gaude forsch.
Arrow nickte und saß anschließend auf Whisper auf.
„Du darfst den Kreis nicht verlassen“, wies Frau Gaude sie an. „Im Schutz der Perchten bist du sicher. Für alles andere übernehme ich keine Garantie!“
Arrows Herz schlug so heftig, dass ihr für den Bruchteil einer Sekunde ganz schwummrig wurde. Die vielen Geister um sie herum ließen sie immer angespannter werden. Und obwohl sie ohnehin schon unregelmäßig atmete, hielt sie einen Moment lang die Luft an. Das schrille Gekreische einer jungen Frau hallte durch das Dorf. Einer der Perchten hatte sie an ihren langen Haare gepackt und mit sich geschleift.
„Das ist Mrs. Simmons“, bemerkte Arrow schockiert. „Ich kenne diese Frau. Sie wohnt hier bei uns im Dorf.“ Mit Hilfe suchenden Blicken wandte sie sich an Frau Gaude. „Das muss ein Irrtum sein. Mrs. Simmons flechtet Körbe und ist bei allen Leuten sehr angesehen.“
Frau Gaude zog die Augenbrauen hoch. „Ach wirklich?“, fragte sie mit spöttischem Unterton. „Ich denke nicht, dass ihr Ansehen ihr dabei helfen wird, ihre gerechte Strafe zu umgehen.“
„Aber was hat sie denn getan?“, entgegnete Arrow entsetzt.
„Sie hat ihr Baby ertränkt“, antwortete Frau Gaude kühl, und ohne weiterer auf Arrow einzugehen, gab sie den Befehl zum Aufbruch.
Arrow warf noch einen letzten bestürzten Blick auf Mrs. Simmons. Dann setzte Whisper zum Trab an und ging nach wenigen Augenblicken zum Galopp über. Die Umgebung verschwamm vor Arrows Augen, doch die Schreie von Mrs. Simmons hallten grell in ihren Gedanken wider.
Wie ein gigantischer Wirbelsturm fegte die Wilde Jagd über das Land. Als sie die Hälfte der Strecke hinter sich gelassen hatten, legten sie eine Pause ein.
Ein normales Pferd hätte diese Entfernung in vier Tagen zurückgelegt, ein Salamanderross womöglich in der Hälfte der Zeit. Zusammen mit Whisper und Arrows Naturkräften war es leicht, das angestrebte Ziel bis zum Morgengrauen zu erreichen.
Am Rande eines Waldweges ließ Arrow sich an einem Baum nieder. Sie war vollkommen angespannt und das raubte ihr weit mehr Kraft als nur der wirbelnd schnelle Ritt.
Der Sockenmann ging Arrow auf die Nerven. Keine Sekunde ließ er von ihr ab. Ständig hatte er während der Reise die Zähne gefletscht und selbst jetzt, da er an einem Baum gekettet in sicherer Entfernung saß, knurrte er sie ständig an. Seine aufdringlichen Blicke stachen wie lästige Mückenstiche. Für sein ungehobeltes Verhalten bekam er gelegentlich von einem der Perchten eins übergebraten, doch das wirkte nur, bis er wenige Sekunden nach dem Schlag erneut wieder klar wurde.
Aufgebracht griff Arrow in ihre Tasche, holte ein Sockenknäul hervor und warf es dem dicken Mann an den Kopf. Als er registriert hatte, was da geflogen kam, war er plötzlich ganz aus dem Häuschen und stülpte sich die Socken mit einem überschwänglichen Grinsen über die Füße. Als Frau Gaude das bemerkte, rollte sie mit den Augen und zog ihm gewaltsam die Socken wieder aus. Dann knüllte sie sie zusammen, stopfte sie dem dicken Mann in den Mund und schnürte ihn wie ein kostbares Päckchen mit seiner Kette an den Baum. Nachdem sie ihm dann auch noch einen Stofffetzen über den Kopf geworfen hatte und er nichts mehr sehen konnte, verstummte auch das Winseln und Arrow hatte endlich ihre Ruhe.
Mit einem zufriedenen Grinsen lehnte sie sich an ihren Baum und schloss die Augen. Zwar tobte um sie herum noch immer die Wilde Jagd, doch jetzt war sie weitaus erträglicher als während der ersten Hälfte der Reise.
Nachdem sie es weitestgehend geschaffte hatte, ihre Anspannung zu lösen, griff sie nach ihrer Tasche und entnahm ihr eines der Brote, die Sally vor ihrer Abreise noch so liebevoll zubereitet hatte. Als sie es ausgewickelt hatte, bemerkte sie endlich das kleine Paar Schühchen vor ihren Füßen. Sie gehörten zu einem kleinen Mädchen, das vor ihr stand und sie ausdruckslos betrachte. Wäre die Kleine nicht so blass gewesen und hätte sie weniger dunkle Augenränder gehabt, hätte Arrow sie als allerliebst empfunden. Denn mit ihrem gelockten, haselnussbraunen, mit einer blauen Schleife zusammengebundenen Haar und ihrem niedlichen Cape, das für diese Jahreszeit viel zu kurz war, mutete das Mädchen wie ein kleiner Engel an.
„Hallo“, sagte Arrow lächelnd.
„Hallo“, erwiderte die Kleine, ohne eine Miene zu verziehen.
Hilfe suchend schaute Arrow sich um. Es schien nicht unbedingt zu den Stärken der Kleinen zu gehören, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Trotzdem stand sie da und starrte Arrow an. Allerdings war es nicht lästig. Im Gegensatz zu dem knurrenden Dickwanst empfand sie die Aufmerksamkeit dieses Engelchens als sehr angenehm.
„Möchtest du dich zu mir setzen?“, fragte Arrow zurückhaltend. Die Kleine antwortete nicht, sondern verharrte weiterhin ganz starr in ihrer Position.
„Was ist das für ein Brot?“, fragte das Mädchen.
Arrow schaute nach. „Sieht aus wie ein Käsebrot“, antwortete sie. „Möchtest du auch eines?“
„Nein, ich kann nichts essen“, erwiderte das Mädchen und schlug bedauernd die Augen nieder.
Arrow runzelte die Stirn. „Dann bist du wohl schon satt?“
„Nein, ich war niemals satt, glaube ich jedenfalls. Auf jeden Fall habe ich jetzt keine Gelegenheit mehr dazu, dieses Gefühl erfahren zu dürfen.“
Nicht wissend, worauf die Kleine hinauswollte, musterte Arrow sie nachdenklich.
„Das ist Emily Jane“, unterbrach Frau Gaude ihre Grübeleien.
Arrow erstarrte. Bedauernd schaute sie das Mädchen an, so als müsse sie ihr einen Teil der Last abnehmen, die auf ihren schmalen Schultern ruhte.
So oft schon hatte Arrow an die Kleine denken müssen. Ihre herzzerreißenden Schreie, während sie mit der Wilden Jagd über das Land zog, würde sie nie vergessen können. Und nun stand das Mädchen plötzlich vor ihr. Aber dieses Mal klagte sie ihr Leid nicht.
Als Arrow sich innerlich wieder gefasst hatte, lächelte sie Emily an. „Es freut mich sehr, deine Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Arrow.“
Emily schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln. „Du hast ein schönes Pferd“, sagte sie. Ihre Blicke glitten zu Whisper, der sich nur wenige Meter entfernt ausruhte, um neue Kraft für den Rest der Reise zu schöpfen.
„Ja, das ist er“, erwiderte Arrow lächelnd.
Frau Gaude beugte sich zu Emily und strich ihr liebevoll über den Kopf. „Kind, möchtest du nicht wieder zu den Anderen gehen? Du weißt doch, wie gern sie deinen Liedern lauschen.“
Und ohne weitere Worte lief Emily davon und verschwand in der rabenschwarzen Nacht.
„Ist es wirklich so?“, fragte Arrow Frau Gaude. „Muss sie noch immer den Hunger erleiden, den sie zum Zeitpunkt ihres Todes gespürt hat?“
Mitfühlend schaute Frau Gaude ihr hinterher. „Sie erleiden die Erinnerung an ihre Qualen. Wirklichen Hunger spürt keiner von ihnen, auch keine Kälte. Doch sie vergessen diese Gefühle nicht, und das macht sie unglücklich.“
Ein trauriger Ausdruck schlich über Arrows Gesicht. Die kleine Emily Jane war noch jünger und liebenswerter, als Arrow es sich vorgestellt hatte. „Es ist nicht fair, dass so ein unschuldiges Mädchen die Verdammnis erleiden muss“, murmelte sie in die Nacht.
„Nein, das ist es nicht“, erwiderte Frau Gaude niedergeschlagen und ließ Arrow mit ihren Gedanken wieder allein.
Bevor der Morgen graute, ließen die Dämonen der Wilden Jagd Arrow in einem urigen Wald zurück. Wander- oder Reisewege waren nirgends zu erkennen und überall, wo der Boden nicht vom Schnee bedeckt war, wucherte Moos bis hoch auf die Baumstämme. Sonnenstrahlen funkelten geheimnisvoll durch die Zweige und spielten dabei eine Melodie wie die Klänge eines Windspiels.
Die Bäume erschienen Arrow beinah so hoch wie im Mammutwald, doch dieser Wald war eindeutig unberührter. Es wirkte, als hätten die Bäume ihr eigenes Territorium erobert und sich darin ihre eigene Welt erschaffen.
Zwischen den Bäumen sah der Boden ziemlich holprig aus. Reitend würde Arrow noch langsamer vorankommen als zu Fuß. Doch nicht nur das hielt sie davon ab, wieder auf Whisper zu steigen. Irgendwie erschien es ihr auch respektlos.
Ohne ihren Blick von der scheinbar verzauberten Umgebung zu nehmen, holte sie ihr Medaillon unter den Kleidern hervor und nahm Whisper die Satteltasche ab. Dann öffnete sie ihr Schmuckstück und bedeutete ihm, darin zu verschwinden. Ohne sich lange bitten zu lassen, verwandelte sich der gewaltige Rappe in das funkelnde Leuchten, als welches Arrow ihren Perseiden einst kennen gelernt hatte, und verschwand in dem Medaillon. Anschließend ließ sie es wieder unter ihren Kleidern verschwinden.
Plötzlich hielt sie inne. Ein schwaches Flüstern umgab sie, doch es war eine Sprache, derer sie nicht mächtig war. Und nicht nur das – es mussten unzählige Stimmen sein, die da miteinander murmelten. Es kam Arrow so vor, als würden sich unzählige Geister in den Baumkronen aufhalten und miteinander reden.
Arrow behagte die Sache nicht. Sie fühlte sich plötzlich von allen Seiten beobachtet, und obwohl sie ganz deutlich die Präsenz von etwas spüren konnte, blieb diese für ihre Augen unsichtbar. Einen Moment lang glaubte sie, dass sie von den Bäumen selbst ausging.
In der Befürchtung, dass ihre Angst ihr einen Streich spielen wollte, setzte sie sich in Bewegung. Dieser Platz war ihr nicht geheuer und schon bald wurde ihr klar, dass sich dieses seltsame Gefühl auf jeden Bereich des Waldes ausweitete. Zwar spürte sie keine absolute oder unmittelbare Gefahr, doch immerhin war sie von dem Unbekannten umgeben.
Arrow versuchte, sich auf das knautschende Geräusch ihrer Schritte im Schnee zu konzentrieren. Nebenbei summte sie eine Melodie, die ihr selbst ziemlich gruselig vorkam. Es war kein Lied, das sie kannte, sondern einfach nur etwas, das der Ablenkung dienen sollte. Wie alles an diesem seltsamen Ort verfehlte es seine eigentliche Wirkung.
Beunruhigt durchwühlte sie die Taschen ihres Mantels und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor. Die Wegbeschreibung, die Anne vor Arrows Abreise angefertigt hatte, wirkte auch jetzt noch genauso lächerlich und beschämend wie bei ihrem ersten Anblick. Kreuz und quer hatte sie einige hässliche Bäume skizziert und über dem Zielbaum, der mit einem grinsenden Gesicht versehen war, prangte ein dicker Pfeil.
„Was soll mir das denn bitteschön sagen?“, hatte Arrow ihre Großmutter mit einem Anflug von Spott gefragt.
„Na dort musst du hin“, hatte Anne ganz selbstverständlich geantwortet.
„Zu einem grinsenden Baum?“
„Er ist eben nett!“
Er ist eben nett … Das war die Antwort gewesen. Arrow hatte sich vertrauensvoll in die Hände der Wilden Jagd begeben, um meilenweit entfernt nach einem netten Baum zu suchen. Während sie darüber nachdachte, stellte sich ihr einmal mehr die Frage, warum sich die ganze Welt eigentlich über ihren Geisteszustand Gedanken machte. Vielleicht war es ja bedenklich, dass sie nach einer solchen Auskunft diese Reise überhaupt angetreten hatte. Doch viel mehr noch war sie davon überzeugt, das eigentliche Problem im Ursprung zu suchen. Niemand, der bei klarem Verstand ist, sollte seiner Enkelin raten, mit den gefährlichsten Dämonen überhaupt einen netten Baum am anderen Ende der Welt zu suchen. Das hörte sich nicht nur total bescheuert an – es war auch bescheuert!
Wütend zerknüllte Arrow den Zettel und ließ ihn wieder in ihrer Tasche verschwinden. Dann setzte sie ihren Weg fort. Das Flüstern war irgendwann verstummt und die Unbehaglichkeit einer entnervten Wut gewichen. Diese Bäume sahen alle gleich aus. Naja – vielleicht nicht unbedingt gleich. Sie unterschieden sich schon in Form und Größe und in allem, was Bäume nun einmal voneinander unterscheidet. Trotzdem sah da jetzt keiner in irgendeiner Weise besonders „nett“ aus …
Nach einigen Stunden des Umherirrens ließ Arrow sich für eine Pause an einem der Bäume nieder. Ihr taten die Füße weh, und außerdem hatte sie schon lange keine Nahrung mehr zu sich genommen. Nach der Begegnung mit Emily Jane war ihr der Appetit auf das Käsebrot deutlich vergangen und so hatte sie es unberührt wieder in die Tasche zu den anderen Broten gesteckt. Ihr war einfach nicht wohl bei dem Gedanken, in der Gegenwart eines kleinen Mädchens zu essen, das ihr unmittelbar zuvor noch erzählt hatte, dass sie vermutlich niemals das Gefühl des Sattseins verspürt hatte.
Nachdem Arrow das vormals verschmähte Käsebrot und ein weiteres Schinkenbrot verdrückt hatte, holte sie wieder den Zettel hervor, entknüllte ihn und betrachtete ihn abermals.
Suchend schaute sie sich um. Der Baum, an dem sie lehnte, schien recht nett zu sein. Er schubste sie nicht weg und störte auch sonst nicht beim Ausruhen.
Verärgert murmelte Arrow einige Flüche vor sich hin. Nach einem weiteren Griff in die Tasche zog sie einen Bleistift hervor und malte den anderen Bäumen auf dem Zettel grimmige Gesichter an. „Vielleicht kann ich sie ja jetzt besser voneinander unterscheiden“, grummelte sie griesgrämig. Dann setzte sie ihren Weg fort.
Während sie immer weiter lief, fluchte sie ununterbrochen. „Du kannst ja auch jemanden nach dem Weg fragen“, äffte sie Annes Worte nach. „Das funktioniert ja auch so fantastisch, wenn man außer einer Vielzahl von Bäumen nichts weiter zu sehen bekommt! Wenn ich hier jemals wieder herausfinden sollte, dann kann sie was erleben ... Einen netten Baum soll ich anhand einer beschämenden Kritzelei im verlassensten Teil dieser Welt suchen!“ Grimmig lachte Arrow auf. „Vielleicht kann ich ja einen der Bäume fragen, ob er den Weg kennt.“
Gereizt marschierte sie auf den erstbesten Baum zu, der ihr in die Quere kam, machte eine überschwängliche Verbeugung und fragte spöttisch: „Entschuldigen Sie, Sir. Es ist unübersehbar, dass Sie gerade vollauf mit dem Herumstehen in diesem Wald beschäftigt sind. Besäßen Sie bitte dennoch die Güte, mir mitzuteilen, wo ich hier einen überaus netten Baum finden könnte?“
Während Arrow aus ihrer Verbeugung wieder hoch schaute, erstarrte sie. Aus dem Baum ragte ein hölzerner männlicher Oberkörper heraus, der sie tatsächlich ziemlich freundlich betrachtete.
Sie schluckte. Ihr Benehmen war ihr jetzt peinlich und sie fühlte, wie sich die Schamesröte in ihrem Gesicht ausbreitete. Und als sie endlich einen Blick um sich herum wagte, da sah Arrow sie – Dryaden ... Für jeden Baum einen Geist. Zu hunderten beobachteten sie Arrow. Einige saßen auf den Ästen, andere standen neben ihrem Baum und wieder andere waren mit ihren Bäumen derart verschmolzen, dass man gerade so ein Gesicht in den Stämmen erkennen konnte.
„Ihr seid das Volk der Baumgeister“, murmelte Arrow mit leuchtenden Augen.
Vor einigen Jahren hatte sie über die Dryaden gelesen. Was sie damals in ihren Büchern gefunden hatte, war nur ein kleiner Abschnitt mit einer wundersamen Abbildung daneben gewesen. Allerdings war dort nur nachzulesen gewesen, dass die Dryaden mit ihrem Baum verbunden sind und – ähnlich wie die Perseiden der Nyriden – Empfindungen und Gedanken teilen. Sie werden zusammen alt und sterben irgendwann auch gemeinsam.
Der Verfasser des Textes hatte sie als überaus freundliche Wesen beschrieben und als Darstellung eine Frau skizziert, deren Haut aus Eichenrinde bestanden hatte. Lange Zweige, die in die Höhe ragten, hatten ihr Haar gebildet und ähnlich wie bei der Grünen Lady war auch ihr Leib mit Blättern und Schlingen bedeckt gewesen.
Wie Arrow jetzt selbst feststellen konnte, hatte der Maler sie mit seiner Darstellung gut getroffen, denn auch wenn nicht alle Dryaden gleich aussahen, kam sie vielen der gerade Anwesenden unglaublich nahe.
Völlig fasziniert ging Arrow einige Schritte. Dies musste eine ganze Dryadenstadt sein. Keiner der Bäume war unbeseelt, und auch wenn sich nicht alle Geister in voller Gestalt zeigen wollten, so waren zumindest die beobachtenden Augen erkennbar.
Von diesem Anblick beflügelt, ging Arrow wieder zu dem Dryadenmann zurück.
„Ich suche nach dem größten Baum im östlichen Zentrum des Waldes“, erklärte sie ihm. „Könntet Ihr mir freundlicherweise sagen, wo ich ihn finde?“
Der Geist verbeugte sich vor ihr, nahm sie auf seine Arme, und bevor sie begriff, was geschah, flog er mit ihr im hohen Bogen durch die Luft. Mit einem schrillen Schrei ließ Arrow ihren Schrecken über diese unvorhergesehene Art zu reisen freien Lauf. Sie spürte ein sanftes Aufsetzen, doch bevor sie sich sammeln konnte, flogen sie wieder weiter.
Es war ein seltsames Gefühl, das eigene Leben einer völlig fremden Person anzuvertrauen, ohne die geringste Ahnung zu haben, was geschehen würde. Doch auf eine völlig ungekannte Art und Weise machte es auch irgendwie Spaß. Der Adrenalinschub kochte bei jedem Absprung erneut hoch und spätestens nach dem dritten Flug sprudelte ein begeistertes Lachen aus Arrow hervor.
Ihr Herz raste, als der Geist sie absetzte. Geduldig wartete er, bis der Boden unter ihren Füßen aufgehört hatte zu wanken. Dann verließ er sie mit einer erneuten Verbeugung und einem freundlichen Lächeln.
Noch immer musste Arrow in sich hinein lachen. Dies war die wohl ungewöhnlichste – wenn auch kürzeste – Reise, die sie je unternommen hatte. Und obwohl sie den Dryaden nicht im Mindesten gekannt hatte, hatte sie dennoch gewusst, dass ihr nichts geschehen würde. Früher hätte sie das in keiner Weise als angenehm empfunden, und während ihr das klar wurde, kam sie nicht umhin sich zu fragen, woran das seinerzeit wohl gelegen haben könnte. Eine Antwort darauf fand sie nicht, trotzdem war es eine erstaunliche Erkenntnis.
Ohne sich großartig umsehen zu müssen, fand Arrow sich endlich vor dem gesuchten Baum wieder. Er war wirklich erstaunlich groß, doch auf den ersten Blick auch nicht größer als die Bäume im Mammutwald. Prüfend betrachtete sie ihn. Jeden Fleck in der Rinde schaute sie sich genauestens an und lief sogar mehrere Male um den breiten Stamm herum, doch der Eingang war nicht zu finden. Sie blickte zur Seite und entdeckte unweit entfernt ein junges Dryadenmädchen. Sie machte Arrow gegenüber eine Handbewegung, als müsste sie an der Rinde klopfen, und so tat Arrow, was ihr der niedliche Baumgeist auftrug. Wie aus dem nichts kam eine hölzerne Hand aus der Rinde hervor geschossen, packte Arrow und zerrte sie in den Stamm hinein. Ihr war nicht einmal die Zeit geblieben, sich bei dem Mädchen zu bedanken.
Unsanft fiel sie auf den Boden und fand sich inmitten einer gemütlichen Behausung wieder. Bei ihrer Abreise hatte sie sich keine Gedanken darüber gemacht, wie die offenbar größte Bibliothek des Landes wohl aussehen möge, doch auf den ersten Blick empfand sie sie als äußerst angenehm.
Als Arrow sich vom Boden erhoben und ihre Kleider vom Staub gereinigt hatte, erblickte sie vor sich ein hölzernes Geländer. Davor lag auf einem hohen Ständer ein aufgeklapptes Buch mit einem Stift darin. Ohne dem Wälzer weitere Beachtung zu schenken, stieg sie über das Geländer und augenblicklich ertönte ein warnendes Knurren, welches nahtlos in lautes Bellen überging. Überrascht erkannte Arrow, dass die Geräusche von dem Buch ausgingen, und sprang schnell wieder zurück. Hinter einem Durchgang auf der anderen Seite des Geländers lugten einige Köpfe hervor, die verärgert um Ruhe baten. Und bevor Arrow sich versah, kam ein kleiner Gnom herbeigeeilt, der in strengem Ton „Morbi, aus!“ rief.
Das Buch winselte und verstummte anschließend.
Freundlich musterte der Gnom sie. „Du bist wohl das erste Mal hier?“, fragte er.
Arrow nickte zurückhaltend.
„Dann ist es ja nicht verwunderlich, dass der gute Morbius so ein Theater macht. Du musst deinen Namen und den Tag deiner Ankunft bei ihm eintragen. Dann lässt er dich durch.“
Etwas verwirrt tat Arrow, worum sie gebeten wurde. Nachdem sie alles aufgeschrieben hatte, fiel ihr auf, dass die letzte Eintragung bereits sechs Monate her war. „Ihr bekommt wohl nicht sehr oft Besuch?“, fragte sie verwundert.
Der Gnom winkte ab. „Meistens trifft sich hier die Stammbesetzung. Lesen ist wohl nicht mehr so in Mode, wie es früher einmal war. Vielleicht liegt es auch an der langen Reise. Viele Leute haben sich während des langen Winters eigene Bibliotheken eingerichtet. Bei solch einer langen Kälteperiode wäre ich auch nicht freiwillig durch das Land gereist.“
Prüfend klemmte sich der Gnom eine kleine runde Glasscheibe vor sein rechtes Auge und schaute den vorletzten Eintrag an. Unverhofft entspannte er seine Gesichtsmuskeln wieder, und die Glasscheibe fiel an, einer kleinen Kette hängend, auf seinen runden Bauch. „Das letzte Mal hat sich auch nur Tarim eingetragen, weil er draußen kurz austreten wollte. Also kann man ihn nicht wirklich als neuen Gast bezeichnen.“
Das Geländer teilte sich in zwei Flügel, die zur Seite glitten und Arrow den Eingang freigaben. Freudig streckte der Gnom ihr seine Hand entgegen und sagte: „Herzlich willkommen in der Weltenbibliothek. Bei uns findest du alles, wonach du suchst, und manchmal auch Dinge, die dir nie in den Sinn gekommen wären, weil sie einfach keine Sau interessieren.“
Froh gestimmt gab Arrow dem Gnom ihre Hand und erwiderte: „Vielen Dank für die freundliche Begrüßung. Mein Name ist Arrow.“
„Und ich bin Shoes“, entgegnete der Gnom freundlich und versank dann in einer Verbeugung. „Komm mit. Ich mache mit dir eine Führung.“
Arrows Augen leuchteten schon, als sie den ersten Raum betrat. Der Duft verschiedener Teesorten lag in der Luft. An mehreren Tischen und Sofas hatten es sich vereinzelte Leute mit puscheligen Hausschuhen und flauschigen Morgenmänteln gemütlich gemacht. Und sie alle waren so sehr in ihre Bücher vertieft, dass sie die Welt um sich herum völlig vergessen hatten. Überall standen und stapelten sich die Bücher bis unter die Decke. Abgesehen vom Kamin bestand die gesamte Inneneinrichtung aus Holz und sie fügte sich so perfekt ein, als wäre der Baum genauso gewachsen. Nichts war hier symmetrisch und trotzdem war alles vollkommen stimmig. Das alles ließ die Bibliothek absolut urig wirken.
„Wir haben nichts umgebaut“, beantwortete Shoes Arrows Blicke. „Dieser Baum ist genauso gewachsen und wir haben uns seinen Formen angepasst.“
„Und die vielen Regale haben auch schon immer so ausgesehen?“, fragte Arrow begeistert.
Shoes nickte. „Dies ist der Dryadenwald. Fügt man hier einem Baum einen Schaden zu, wäre es nichts Anderes, als irgendwo irgendeinem Typen in einem x-beliebigen Dorf mal eben so einen Arm abzuhacken. Das würden die Nachbarn dort mit Sicherheit auch nicht besonders witzig finden. Ohne diese Geister würde es den Dryadenwald nicht geben und somit sind ihre Launen Gesetz.“
Begeistert schnappte Arrow sich das nächstgelegene Buch und fühlte über die bunten Seiten. „Was ist damit?“, fragte sie. „Die Seiten dieses Buches wurden einst doch auch aus einem Baum gemacht.“
„Da hast du vollkommen Recht, gutes Kind. Du bist sehr aufmerksam.“ Behutsam nahm Shoes ihr das Buch aus den Händen und strich mit leuchtenden Augen über den Deckel, als wäre es ein kostbarer Schatz. „Dies sind die Hinterlassenschaften der Toten“, beantwortete er ihre versteckte Frage.
Arrow runzelte die Stirn. „Dieser Brauch erscheint mir sehr makaber.“
Der Gnom lachte. „Das glaube ich dir aufs Wort, doch das ist nun einmal die Tradition der Dryaden, mit ihren Toten umzugehen. So wie die Menschen verstorbene Personen in die Erde legen und auf den Gräbern bunte Blumen pflanzen, sind Dryaden der festen Überzeugung, dass mit den Büchern nicht nur das darin enthaltene Wissen unsterblich wird, sondern auch der Baum, aus dem diese Seiten einst gemacht wurden. Und sie sind sehr pingelig, musst du wissen. Nicht alles wird auf diesem Papier abgedruckt. Es muss sich dem verstorbenen Baum und dem dazugehörigen Dryaden als würdig erweisen.“
Shoes schlug den Buchdeckel auf, und tatsächlich fand sich dort die Zeichnung einer alten Dryadenfrau und ihres Baumes.
„Du fehlst an allen Ecken und Enden, mein altes Mädchen“, murmelte Shoes ihr liebevoll entgegen.
„Du hast sie wohl gut gekannt“, bemerkte Arrow mitfühlend.
Der Gnom nickte. „Sie war meine Schwägerin.“ Dann stellte er das Buch behutsam an seinen Platz zurück.
Über eine geschwungene Treppe setzten sie die Besichtigung fort.
„Die vielen Kerzen hier dienen ausschließlich der Dekoration“, erklärte Shoes. „Die Brandgefahr an einem Ort wie diesem ist einfach zu groß. Deshalb muss ich dich dringend bitten, keine von ihnen anzuzünden. Im Übrigen wird es auch gar nicht nötig sein. Wir haben ausreichend Glühwürmchen da.“
Arrow runzelte die Stirn. „Wenn es so gefährlich ist, die Kerzen hier zu haben, warum stellt ihr sie dann aus?“
Der Gnom zuckte mit den Schultern. „Es gehört einfach zur Atmosphäre. Kerzen sind etwas Wundervolles. Manchmal schmiere ich die Dochte mit Honig ein, dann setzen sich die Glühwürmchen drauf und es sieht beinahe wie echtes Kerzenlicht aus. Wir wollen einfach nicht darauf verzichten. Kerzen sind magisch und Bücher auch. Das gehört nun mal zusammen.“
Als sie weitergingen, fielen Arrow sofort die vielen Knospen tragenden Zweige auf, die von den Wänden in das Innere des Baumes ragten. Kleine mit Sprossen besetzte Fenster ließen funkelnde Sonnenstrahlen in das Innere des Baumes und überall hingen Kristalle, die aus dem Licht bunte Regenbögen formten. Wieder stapelten sich unzählige Bücher in allen Ecken, an Tischen saßen wissbegierige Leser und sogar Betten standen in den verwinkelten Räumen, die durch dicke Äste vom Baumstamm abzweigten. Alles wirkte so geheimnisvoll, jedoch auf eine äußerst angenehme Art und Weise. Arrow fühlte sich auf Anhieb wohl und wollte aus dieser gemütlichen Atmosphäre gar nicht mehr auftauchen. Es fühlte sich an wie nach Hause kommen.
„Hier sind schon alle Schlafgelegenheiten belegt“, sagte Shoes, während er sich eine Gießkanne schnappte und einen der nach innen ragenden Triebe wässerte. „Zwei Stockwerke höher müsste aber noch etwas frei sein. Ich werde dir umgehend ein Bett beziehen. Wenn du möchtest, kannst du dich solange in einer der Badewannen aufwärmen.“
Arrow strahlte. Ein schönes heißes Bad wäre in diesem Moment genau das Richtige.
Als sie wenig später bemerkte, dass die Wannen ebenfalls mitten in der Bibliothek standen, war sie dann doch nicht mehr so begeistert.
„Das kriegt hier kein Schwein mit“, beruhigte sie Shoes. „Die sind alle so vertieft in ihre Bücher, dass sie oft selbst nicht merken, dass sie schon mehrere Tage im Wasser sitzen.
Und so war es dann tatsächlich auch. Arrow hatte sich eine hübsche Wanne in der Nähe eines großen Fensters ausgesucht. Sie stand ein wenig abseits der anderen Badewannen und bot einen fantastischen Blick auf den ganzen Raum. Shoes hatte ihr eine Tasse Apfeltee und eine Schale mit frischem Obst daneben gestellt und sie genoss diesen Empfang in vollen Zügen. Während ihre Blicke über die Regale streiften, fiel die Anspannung von ihr ab. Sie fragte sich, wo sie wohl anfangen sollte und ob es möglicherweise Wochen in Anspruch nehmen würde, die benötigten Informationen ausfindig zu machen – so das denn in diesem Meer von Büchern überhaupt zu bewältigen war.
Arrows Blick blieb an einem leuchtend roten Buch am anderen Ende des Raumes hängen, und bevor sie Gelegenheit hatte, darüber nachzudenken, ob sie die Wanne kurz verlassen sollte, um es zu holen, löste sich aus den Wänden eine Dryadenfrau, die der Schwägerin von Shoes verblüffend ähnlich sah. Sie eilte zu dem Regal und brachte Arrow das Buch. Vollkommen überrascht von dieser freundlichen Geste blieben Arrow die Worte weg, doch sie strahlte über das ganze Gesicht. Mit einem freundlichen Lächeln verbeugte sich die Dryade und verschwand anschließend wieder in der Wand.
„Entschuldige bitte, dass ich so lange fort war“, hörte sie Shoes rufen. „Tarim hat schon wieder eines der Bücher verschlungen. Glücklicherweise war es dieses Mal keines aus Dryadenpapier. Dieser Idiot! Den meisten Besuchern passiert das nur ein einziges Mal, aber der Kerl frisst bis zu drei Bücher in der Woche. Manche Leute kapieren es einfach nie … Aber wie ich sehe, hast du in der Zwischenzeit das Vergnügen gehabt, meine liebe Frau Eilidh kennen zu lernen. Sie ist ihrer Schwester verblüffend ähnlich, nicht wahr?“
Arrow nickte zustimmend. „Shoes, darf ich dich etwas fragen?“
„Na klar doch. Schieß los!“
„Könnt ihr in diesem Wald Gedanken lesen?“
Der Gnom lachte. „Nicht wirklich“, entgegnete er. „Doch jedes Wesen hat ja auch noch eine andere Art zu kommunizieren als nur über seine Stimme. Wenn du dich viel mit Bäumen umgibst, dann beobachtest du. Dryaden reden nicht. Sie signalisieren auf eine andere Art, ob ihnen etwas fehlt oder sie sich besonders wohl fühlen. Somit kennen sie sich in der Körpersprache aus und können mit fast allen Lebewesen kommunizieren. Es ist eben eine Sprache, die jeder spricht, nur haben die meisten nie gelernt, diese Ausdrucksweise auch zu verstehen.“
Nachdenklich schlug Arrow ihre Augen nieder. „Denkst du denn, dass jedes Lebewesen das Verstehen dieser Sprache erlernen könnte? Vielleicht auch ich?“
„Gutes Kind, mein erster Eindruck hat mir bereits mitgeteilt, dass du mehr als Willens bist, die Handlungsweisen Anderer zu verstehen. Das allein reicht aber noch lange nicht aus. Du musst ihnen auch zuhören.“
„Ich soll einer Sprache zuhören, die sich keinerlei Geräusche bedient?“, fragte Arrow verwirrt.
Shoes nickte. „Du deutest die Körpersprache anderer mit deinen eigenen Worten. Doch jedes Wesen ist absolut einzigartig und mit ihm seine Sprache. Was in dir eine unbezwingbare Befangenheit auslöst, kratzt andere nicht im Geringsten.“ Der Gnom machte eine ausladende Geste und Arrow wusste, dass er auf ihre Bedenken, in einem öffentlichen Raum ein heißes Bad zu nehmen, anspielte. Er hatte ja auch Recht gehabt – niemanden hatte es interessiert. Vermutlich hatten die Leser ihre Anwesenheit noch nicht einmal bemerkt.
„Und dann“, fuhr Shoes fort, „gibt es wieder andere, denen gegenüber sich deine Befangenheit äußerst gut erklären lässt.“ Mit seiner Hand deutete der Gnom auf das große Fenster und scheuchte anschließend den Dryaden davon, der Arrow völlig ungeniert betrachtete. Im letzten Moment konnte sie noch erkennen, dass es sich bei dem Mann um genau den Dryaden gehandelt hatte, der Arrow zur Bibliothek gebracht hatte.
Shoes rollte mit den Augen. „Noch nicht einmal einen Tag hier und schon den ersten Verehrer an der Backe. Das kann ja heiter werden mit dir.“ Seinem Tonfall war zu entnehmen, dass er den letzten Satz ironisch gemeint hatte. Arrow konnte darüber nur lächeln und verkroch sich mit ihrer Teetasse und dem leuchtend roten Buch im Schaum des Badewassers. Noch nie zuvor hatte sie sich so wohl gefühlt und das Bedürfnis gehabt, so wenig reden zu wollen. Sie schloss gar nicht aus, dass Magie im Spiel war. Genauso gut hielt sie es aber auch für möglich, dass die ganze Atmosphäre automatisch diese Gefühle und Verhaltensweise in ihr auslöste.
Das Buch hatte sich irgendwann als Fehlentscheidung entpuppt. So etwas kommt dabei heraus, wenn ein Exemplar nach seinem Deckel beurteilt wird, dachte Arrow. Und mit dieser Feststellung war ihr dann auch endlich aufgefallen, dass die Regale in diesem Stockwerk erstaunlich aufgeräumt und verstaubt ausgesehen hatten. Hier gab es nur Kochbücher. Zweifellos eignete sich diese Art der Literatur perfekt für einen gemütlichen Haushalt, doch in einer Bibliothek schienen diese Bücher ein wenig beachtetes Dasein zu fristen. Und da Kochen weder zu Arrows Stärken noch zu ihren Schwächen gehörte, sondern vielmehr überhaupt keinen Platz in ihrem Leben einnahm, konnte auch sie sich nicht im Geringsten für diese Art Literatur erwärmen. Natürlich lief ihr bei der Beschreibung für die Zubereitung von Pilzsuppen, Bratkartoffeln oder Pizza – was immer das auch sein mochte – das Wasser im Mund zusammen, doch das half ihr in der gegenwärtigen Situation herzlich wenig. Da war es besser, das Buch ohne weitere Beachtung zur Seite zu legen.
Als Arrow endlich ihr Bett aufgesucht hatte, da sie in der Badewanne beinahe eingeschlafen war, entdeckte sie ein liebevoll zubereitetes Mahl auf dem Nachttisch. Mit knurrendem Magen nahm sie einige Bissen des köstlich schmeckenden Rühreis und des warmen Brötchens zu sich und legte sich dann hin. Zwar hatte sie noch immer großen Hunger, doch war sie zwischenzeitlich viel zu müde geworden, so dass sie Gefahr lief, beim Kauen wegzudösen.
Das Bett war herrlich weich und die dicke Federdecke so kuschelig, als wäre sie das erste Mal in Benutzung. Die Wäsche duftete frisch nach Lavendel und die Regenbogenkristalle hatten eine entspannende Wirkung auf Arrow.
In dem Stockwerk standen noch weitere Betten, die bis auf eines offenbar alle belegt waren. Sogar in diesem Moment lagen die Leute in ihren Schlafgelegenheiten, um zu lesen. Einige saßen auch auf den gemütlich wirkenden Sofas oder lasen ihre Bücher in einem dick gepolsterten Ohrensessel.
Ein Windspiel hing über Arrows Bett, und als sie ihre Augen schloss, um den Klängen desselbigen zu lauschen, war sie wenige Sekunden später eingeschlafen.