Sieben Gegner

Der Weg zum Granitturm kam Arrow endlos vor, was mitunter daran liegen mochte, dass es sich nicht unbedingt bequem anfühlte, an einer Schlinge gefesselt von einem übergroßen Wolf mitgeschleift zu werden. Zudem schmerzten die Kratzer und Schürfwunden vom Kampf im Wald. Schlimmer wurde es allerdings, als sie bemerkte, dass sie nicht länger allein waren. Der Drang, die Augen öffnen zu wollen, wurde immer stärker, doch sie musste sich zusammenreißen, kostete es, was es wollte.

In ihren Gedanken malte sie sich die schauerlichsten Kreaturen um sich herum aus. Wer konnte schon sagen, was genau sie hier erwarten würde und wie es ihr gesonnen war? Ein bisschen Hoffnung setzte sie noch immer in die Stiefel, die sie – wie von Shoes aufgetragen – seit Betreten der Unterwelt nicht abgelegt hatte. Obwohl sie sich in diesem Augenblick nicht vorstellen konnte, dass ihr dieses Schuhwerk mehr von Nutzen sein könnte, als jeder andere x-beliebige Stiefel, aber an irgendwas musste sie jetzt einfach glauben. Außerdem hielt sie es nicht für besonders klug, sich irgendwelchen Zweifeln hinzugeben, die aus einer Angst und nicht aus Tatsachen entstanden waren.

Der Fenriswolf machte Halt. Schritte näherten sich und eine fürchterlich klingende Stimme sprach: „Was habe ich dir gesagt, Invidia? Mein Plan ist aufgegangen.“

„Das war pures Glück, weil das Mädchen so unsagbar dumm ist“, ertönte eine zweite Stimme. „Sie stinkt gerade zu vor Naivität.“

Die erste Stimme lachte höhnisch. „Neid – wie typisch für dich.“

„Oh Superbia, du langweilst mich. Geh doch lieber gleich zu Ira und prahle dort mit deinem großen Erfolg. Richtest du deine Worte an mich, so verschwendest du nur deine ach so kostbare Zeit.“

Invidia, Superbia und Ira – Neid, Hochmut und Zorn. Das waren drei der Sieben Todsünden, das wusste Arrow sofort.

Sie musste sich stark zusammenreißen, um ihre Anspannung nicht preiszugeben. Noch dachten sie, dass Arrow bewusstlos wäre, und vielleicht war es ein guter Trumpf, den es auszuspielen galt. Möglicherweise machte diese Annahme ihre Gegner unvorsichtig. Dann würden sie vielleicht Dinge verraten, die sie anderenfalls nicht so leichtfertig preisgeben würden. Immerhin kannte sie nun schon einige Namen ihrer Widersacher.

„Das gleiche Spiel wie jedes Mal, oder, Superbia?“, erklang eine weitere Stimme. „Denkst immer nur an deinen eigenen Vorteil und tust rein gar nichts für das Wohl der Allgemeinheit.“

„Na das kommt ja aus der richtigen Ecke, Gula“, erwiderte Superbia sarkastisch und entfernte sich.

Arrow hielt die Luft an. Konnte das wirklich sein? Gula – Völlerei? War es tatsächlich möglich, dass es sich bei ihren Gegnern tatsächlich um die Sieben Todsünden handelte? Anfangs hatte sie es noch für wahrscheinlicher gehalten, dass dies eine Art Beinamen waren, doch inzwischen zweifelte sie, was das anging.

„Sie ist hier?“, fragte eine neue Stimme neugierig. „Ich will sie sehen.“

„Bemühe dich nicht, Luxuria. Sie ist bewusstlos. Du wirst mit ihr genauso wenig anfangen können, wie mit dem Phönix.“

Arrow zuckte zusammen. Der Phönix?

„Das ist ja mal wieder typisch für dich, Invidia. Musst immer und überall deine Missgunst kundtun. Ob es dir nun passt oder nicht – ich schaue mir das Mädchen trotzdem an.“

Etwas streifte Arrows Gesicht. Es fühlte sich wie ein zarter Luftzug an, der ihr über die Wange strich. Langsam wurde es ihr zu viel.

„Sie gefällt mir“, sagte Luxuria.

„Etwas Anderes war von dir auch nicht zu erwarten“, entgegnete Invidia. „Ich persönlich finde sie hässlich und abstoßend. Sie kleidet sich wie ein Mann und hat die Figur eines Bauerntölpels.“

„Ähnliches hast du auch schon über den Phönix behauptet“, erwiderte Luxuria. „Da habe ich deine Ansicht ebenso wenig teilen können. Und wäre er nicht seit seiner Ankunft von dem verwässerten Gift der Midgardschlange gelähmt, hätte ich die wunderbarsten Dinge mit ihm angestellt.“

Invidia lachte spöttisch. „Gar nichts hättest du in diesem Fall mit ihm angestellt, weil er umgehend in seine Welt zurückgeflohen wäre. Und überhaupt – mit wem hast du denn noch keine Unzucht getrieben? Dein zügelloses Verhalten widert mich an.“

„So ist nun mal mein Wesen“, erwiderte Luxuria stolz. „Genau wie es in deiner Natur liegt, viel zu oft viel zu viel zu reden.“

Da musste Arrow Luxuria allerdings Recht geben. Auch wenn die Plauderei recht informativ verlief, fing Invidia langsam aber sicher an, ihr auf die Nerven zu gehen. Wieder spürte sie einen leichten Wind auf ihrer Wange, der langsam in Richtung ihrer Bluse strich. Prompt öffnete sie ihre Augen und blickte in ein scheußliches Gesicht. Es hatte wohl das einer Frau darstellen sollen, die von allem zu viel aufgetragen hatte – zu viel Rouge, zu viel Puder und bei weitem zu viel Lippenstift. Von den Schultern abwärts hatte sie allerdings zu sehr gespart. Zwar wurde ihr Körper von weit mehr Stoff bedeckt, als bei der Grünen Lady, doch was bei Elaine immer absolut sinnlich wirkte, sah an diesem blau schimmernden Weib einfach nur abstoßend aus.

Ihre Augen funkelten wollüstig, als sie an Arrow hinunter sah, und dieser Blick änderte sich auch nicht, als Arrow ihre Hand wegstieß und ihr mit der Faust ins Gesicht schlug.

Mit einem lüsternen Ausdruck in ihren Augen fasste Luxuria sich an die Platzwunde auf ihrer Stirn. Als sie das Blut daran entdeckte, formten sich ihre Lippen zu einem widerwärtigen Grinsen. „Wie schön“, sagte sie. „Unsere Prinzessin ist wach. Dann kann ich ja jetzt mit ihr spielen.“

Arrow riss sich die Fessel vom Leib, zückte ihr Messer und sprang auf die Beine. Sie fand sich an einem ungemütlichen Ort wieder, der stark an einen Kerker erinnerte. Dunkles Granit – wohin man auch schaute. Ketten lagen überall herum und ein stinkender Fluss aus grüner Lava schlängelte sich durch die Mitte.

„Versuch es doch“, erwiderte Arrow spöttisch. „Dann erlöse ich die Welt von deiner hässlichen Fratze und schneide dir die Kehle durch!“

Luxuria lachte. „Hast du das gehört, Invidia? Sie denkt, dass sie uns töten kann!“

Invidia sah ebenso scheußlich aus wie Luxuria, nur auf eine andere Art und Weise. Zwar war er in weit akzeptablere Kleidung gehüllt als seine Gesprächspartnerin, doch seine Haut schimmerte grün, und als er in das Lachen von Luxuria mit einstimmte, erinnerte er Arrow an einen äußerst abstoßenden Frosch.

Unweit entfernt saß ein fettes Weib, das sich unentwegt Kuchen in den Mund stopfte und die Sache offenbar ebenso witzig fand. Bevor sie jedoch Gelegenheit hatte, sich darüber lustig machen zu können, verschluckte sie sich und ihre vormals orangefarbene Haut lief blau an. Nach einem kräftigen Hustenanfall und einigen Schlägen auf den Brustkorb fraß die Alte weiter und ihre ursprüngliche Farbe kehrte allmählich zurück. Es schien ganz so, als wäre sie diese Maßlosigkeit gewohnt.

Einzig eine klapperdürre Frau in einer dunklen Ecke des Granitturmes mustere Arrow skeptisch. „Ich wüsste nicht, was daran so komisch sein sollte“, sagte sie beklommen. „Immerhin hat sie gerade vor unseren Augen die magische Fessel Gleipnir zerstört, von der es heißt, dass nicht einmal der mächtige Fenriswolf selbst über sie triumphieren könne.“

„Acedia, du bist ein Trottel!“, sagte der violett schimmernde Superbia, mit einem roten, gehörnten Begleiter im Schlepptau. „Was das Mädchen um ihren Körper getragen hat, war keineswegs Gleipnir, sondern nur ein ganz gewöhnlicher Faden!“

„Dann sollten wir erst recht Vorsicht walten lassen“, sagte die hellblaue Acedia. „Wer weiß, was sie mit der magischen Fessel angestellt hat. Das Mädchen könnte sie gegen uns verwenden.“

„Wenn du nicht ständig so träge in deiner Ecke sitzen würdest, könntest du sehen, dass der Fenriswolf sie noch immer trägt!“

Der Wolf, der etwa einen halben Meter größer war als Arrow, zupfte an seinem Fell und riss sich mühelos die Fessel vom Körper.

„Da wäre ich nicht so sicher“, entgegnete Arrow triumphierend, als sie in die schockierten Gesichter ihrer Gegner blickte. „Gehe ich richtig in der Annahme, dass ihr alle miteinander verwandt seid? Besonders klug erscheint ihr mir nämlich keiner von euch. Das Trottelige scheint euch gewissermaßen im Blut zu liegen...“

Arrow grinste höhnisch. Sie hatte sich schon immer gefragt, wie es sich wohl anfühlen mochte, seinem Gegner gegenüber mit arroganter Überlegenheit zu begegnen. Jetzt wusste sie es und fand Gefallen daran.

Der Fenriswolf stand dicht hinter ihr und gab ihr Rückendeckung. Während Acedias Zähne vor Angst klapperten und sie sich völlig in den Schutz des Schattens flüchtete, blieben die anderen wie angewurzelt stehen. Sogar die gefräßige Gula bekam in diesem Moment keinen Bissen herunter, obwohl ihr mit Kuchen verschmierter Mund weit geöffnet stand.

„Wie hast du das angestellt?“, fragte der rote Ira mit einer tiefen Donnerstimme.

Unbeeindruckt zuckte Arrow mit den Schultern. „Manchmal erreicht man mit Güte und Vertrauen mehr als mit Angst und Misshandlungen. Aber davon dürftet ihr nicht allzu viel Ahnung haben.“

„Du hast den Fenriswolf befreit?“, grollte Ira aufgebracht. „Hast du überhaupt eine Ahnung, was du damit ausgelöst hast?“

„Ehrlich gesagt ist mir das herzlich egal“, entgegnete Arrow kühn.

„Du törichtes Ding!“, schrie Gula sie an. „Der Fenriswolf kann alle anderen Götter vernichten! Damit würde er die Unterwelt zerstören!“

„Hätte, würde, könnte, sollte“, erwiderte Arrow gelangweilt. „Habt ihr nicht mehr auf Lager als ermüdenden Eventualitäten?“

„Dieses Mädchen“, sagte Invidia betont arrogant, „ist weit weniger schüchtern und hilflos, als es uns zugetragen wurde.“

„Sie hat doch nur so eine große Klappe, weil sie den Fenriswolf im Rücken hat!“, entgegnete Superbia verärgert.

„Kann gut sein“, erwiderte Arrow und ging, mit dem Messer in der Hand, in langsamen Schritten auf ihren violetten Widersacher zu. „Um es kurz zu machen – mich kümmert es ausgesprochen wenig, was mit eurer Welt geschehen könnte, wenn mein guter Freund hier auf die Götter losgehen sollte. Was mich allerdings sehr interessiert, ist mein eigenes Wohlergehen sowie das meiner Welt und meines Volkes, welches sich nicht nur in Gefahr befinden könnte, sondern zum Untergehen verurteilt ist, seitdem ihr Keylam hier gefangen haltet. Und wenn euch etwas an eurem Leben liegt, dann solltet ihr ihn lieber rausrücken. Anderenfalls kann ich nicht länger garantieren, dass der Fenriswolf meinen Bitten weiterhin gehorchen wird.“

„Deine Arroganz ist ebenso so offensichtlich, wie deine Dummheit“, sagte ein gelblich schimmernder Mann, der wohl Avaritia sein musste. „Du kannst uns nicht töten. Niemand kann das. Als deine und alle anderen Welten erschaffen wurden, hat jeder Stein, jeder Baum und jedes Lebewesen einen Teil unsererselbst mit auf den Weg bekommen. Wir waren noch vor dem Anfang da und ein jeder trägt uns in sich – sogar du. Und indem du alle deine negativen Gefühle und Eigenschaften offenbarst und wachsen lässt, machst du uns mächtig!“

Arrow hielt inne. Die Göttin Perseis hatte ihr gesagt, dass sie selbst bestimmen würde, wie mächtig ihre Gegner in der Unterwelt sein würden, und jetzt schien das einen Sinn zu ergeben. Obwohl sie mit diesen Kreaturen sprach, waren sie nicht viel mehr als Schatten, die davon lebten, sich wie Parasiten in jemanden einzupflanzen und von dessen negativen Gefühlen zu zehren. Sie hatten nicht die Spur einer eigenen Intelligenz. Je schlechter jemand war, desto mehr Macht verlieh es den Sieben Todsünden. Und weil das so war, konnte Arrow auch nichts gegen sie ausrichten. Inwieweit sie diese Wesen an sich heran ließ, konnte sie jedoch selbst bestimmen. Außerdem musste sie verhindern, dass die Todsünden weiterhin in ihre Seele schauten und ihre Gedanken gegen sie richteten.

Mit dieser Erkenntnis erstickte die Wut in Arrow, und als sie sich umsah, verblassten die bunten Hautfarben ihrer Widersacher. Ihre Macht Arrow gegenüber begann somit zu schwinden.

„Es war gar nicht euer eigener Plan, Keylam zu entführen und hier festzuhalten, richtig?“, fragte Arrow prüfend. „Ihr habt im Auftrag von jemand anderem gehandelt.“

Superbia klatschte antriebslos in die Hände. „Gut erkannt. Offenbar bist du doch kein so dummes Mädchen, wie alle dachten.“

„Wer hat das gedacht?“, entgegnete Arrow fordernd. Inzwischen war sie überzeugt, dass mit alle keineswegs die Todsünden, sondern ihre Wirte gemeint waren.

„Spielt das eine Rolle?“, erwiderte Superbia. „Immerhin haben uns deine Feinde genügend Macht verliehen, um den Phönix als Geisel zu nehmen, und es reißt nicht ab. Allein dadurch, dass du hier bist, hast du uns stark genug gemacht, um aus dem Schatten der Unterwelt herauszutreten. Sobald wir mit dir fertig sind, wirst du das trostlose Schicksal deines ach so geliebten Vaters teilen und zu ihm in die Hölle fahren!“

Diese Worte versetzten Arrow einen Stich. Sie war unfähig, ihre Gefühle weiterhin kontrollieren zu können. Prompt wurden die Farben der Todsünden kräftiger.

Kochend vor Wut sprang sie auf Superbia zu und zielte mit dem Messer auf die Stelle, an der bei normalen Wesen für gewöhnlich das Herz saß. Doch so sehr sie es auch versuchte, gelang es ihr dennoch nicht, ihn zu verletzen oder auch nur eine Schramme in seiner hässlichen Fratze zu hinterlassen.

Höhnisch wurde sie von den Todsünden ausgelacht, und als sie es ein weiteres Mal versuchte und wieder nichts geschah, blickte sie erschrocken in die Runde.

„Du kannst uns nichts anhaben!“, grollte Ira selbstgefällig. „Wir dir allerdings schon.“

Hilflos sah sie die gehörnte Kreatur auf sich zulaufen und konnte sich vor Angst plötzlich nicht mehr rühren. Sie hatte keine Ahnung, ob sie sich zu irgendeinem Zeitpunkt einmal machtloser gefühlt hatte, doch während sie ihr Leben per Schnelldurchlauf in Gedanken durchging, war sie sicher, dass dieser Augenblick einer der schlimmsten in ihrem ganzen Leben war.

Kurz vor dem Aufprall wandte Arrow sich ab und schloss die Augen. Sie wollte nicht sehen, wie es geschah, in welche ihrer Körperteile sich die Hörner bohrten und wie das Blut aus ihren Wunden quoll.

Dann spürte sie einen seichten Windstoß und wartete einen gefühlt unendlichen Moment auf das Ende, doch es geschah … nichts.

Ängstlich öffnete sie ihre Augen und blickte abermals in staunende Fratzen. Bevor sie sich versah, spürte sie abermals den Wind und schaute ungläubig zu, wie Ira einem Geist ähnlich durch ihren Körper glitt.

„Was für ein Zauber ist das?“, fragte Luxuria aufgelöst.

Zielsicheren Schrittes ging Avaritia auf Arrow zu, zückte einen Dolch und machte Anstalten ihr die Klinge zwischen ihre Rippen zu rammen, doch sie blieb abermals unversehrt.

Misstrauisch musterte er sie. Arrow konnte nicht sagen, warum es so war, doch sie ließ es zu. Der Blick seiner pechschwarzen Augen schien sich tief in ihren Verstand bohren zu wollen. Nur mit Mühe gelang es ihr, ihn zurückzudrängen.

„Das ist kein Zauber“, sagte Avaritia angewidert. „Sie birgt eine reine Seele in sich, die sie schützt.“

Von einem Augenblick zum nächsten schwand Arrows Befangenheit. Die Göttin Perseis hatte bereits etwas Ähnliches über sie geäußert und auch da hatte ihr diese Bemerkung nicht gefallen.

Arrow lag nichts an einer reinen Seele – zum einen, weil sie die Unschuld ihrer Seele vor langer Zeit durch einen dummen Fehler in Nebulae Hall verloren hatte, und zum anderen, weil es viel mühsamer war, für den Erhalt dieser Reinheit kämpfen zu müssen, da die Versuchung ohnehin in allen Ecken lauerte.

In der Absicht, ihrem Ärger Luft machen zu wollen, holte Arrow aus und schlug Avaritia ihre Faust mit aller Kraft ins Gesicht. Und wie zuvor schon bei Luxuria funktionierte es nun auch bei ihm.

„Na“, sagte sie herablassend, „wer sitzt jetzt wohl am längeren Hebel?“

Brodelnd vor Wut strich sich Avaritia über die Nase und kam Arrow dabei so nahe, als würde er damit noch immer seine Überlegenheit demonstrieren wollen. „Du kannst uns vielleicht verprügeln, bis du vor Erschöpfung tot umfällst. Doch deine Mühen werden vergebens sein, denn keinen einzigen von uns wirst du jemals vernichten können.“

Am liebsten hätte sie Avaritia am Kragen gepackt und windelweich geprügelt. Doch sie hielt es für Zeitverschwendung und Frau Gaude hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass Arrow nicht trödeln sollte. Ohne ein weiteres Wort an Avaritia zu verschwenden, ging sie selbstsicheren Schrittes durch ihn hindurch und geradewegs auf Acedia zu, die aus der Nähe betrachtet noch viel schlimmer anmutete, als es auf den ersten Blick zu erkennen gewesen war. Man konnte praktisch ihre Knochen zählen und sie schien müde zu sein. Müde der Worte, müde eines Konfliktes, aber vor allem müde ihres Daseins.

Feige hockte sie, die Arme um ihre Beine geschlungen, in der Ecke und musterte Arrow kraftlos.

„Wer ist mein Gegner?“, fragte Arrow forsch und hielt ihr das Messer ganz nah an die Kehle.

Scheu wandte Acedia sich von Arrow ab und gab damit gleichzeitig zu verstehen, dass sie ihre Ruhe haben wollte.

„Antworte!“, schrie Arrow ungehalten, woraufhin Acedia zusammenzuckte.

„Deine Feinde“, erwiderte sie ängstlich und kaum hörbar, „sitzen in deinen eigenen Reihen.“

„Du bist eine jämmerliche Verräterin, Acedia!“, schrie Ira ungehalten. „Sie kann dir gar nichts anhaben und trotzdem machst du dir bei ihrem bloßen Anblick beinahe in dein von Motten zerfressenes, bedauernswertes Hemd!“

Genervt rollte Arrow mit den Augen. „Ruhe auf den billigen Plätzen!“, rief sie ungehalten.

In den eigenen Reihen? Was konnte das bedeuten? War es jemand aus ihrer Familie? Jemand, dem sie vertraute?

Doch plötzlich verblassten all diese Fragen und wurden so unwichtig wie das Knicken eines Grashalmes am Wegesrand, denn aus den Augenwinkeln erblickte Arrow endlich, wonach sie so sehnlichst gesucht hatte. Alles andere rückte in den Hintergrund und nichts war mehr von Bedeutung, denn nur wenige Schritte entfernt auf einem von grüner Lava umschlungenen Sockel lag er – und vor ihm sein Feuervogel.

Ohne darüber nachzudenken, kehrte Arrow Acedia den Rücken und lief. Sie rannte, so schnell sie ihre Beine tragen konnten, und auch wenn sie ihrer Kräfte in dieser Welt nicht mächtig war, überkam sie dennoch das Gefühl, fliegen zu können. Am Rande des Flusses setzte Arrow zum Sprung an, doch mit einem Mal rückte das Gefühl des Erfolgs wieder in weite Ferne, denn obwohl ihr Satz groß und kräftig war, reichte es nicht, um den Lavastrom zu überspringen. Wie in Zeitlupe fiel Arrow in die giftgrüne Glut und nahm dabei keine Sekunde lang den Blick von Keylams Augen, die sie so liebevoll und zugleich entsetzt anschauten.

Überraschenderweise spürte Arrow plötzlich doch festen Boden unter ihren Füßen, was genau genommen nicht möglich sein konnte, denn der Fluss lief weiter und die beißende Hitze war allgegenwärtig.

Verwundert schaute Arrow an sich hinunter. Nichts war passiert. Sie stand gut und sicher. Es musste wohl an den Stiefeln liegen. Dann waren die Dinger also doch magischer, als sie es vermutet hatte.

Die Sieben Todsünden verfluchten Arrow dafür, dass sie auch dieses Hindernis hatte überwinden können, doch diese Tatsache interessierte sie herzlich wenig. Mit einem Sprung war sie bei Keylam auf dem Sockel, und der Fenriswolf folgte ihr.

Wie bereits von Luxuria angedeutet, war Keylam am ganzen Körper gelähmt. Trotzdem bekam er sehr wohl mit, was sich um ihn herum abspielte. Mit leuchtenden Augen schaute er Arrow an, die ihm einige Strähnen aus seinem Gesicht strich und anschließend einen langen, innigen Kuss gab.

„Hey“, sagte sie zärtlich und versuchte dabei, ein Schluchzen zu unterdrücken. „Du hast mir gefehlt.“ Arrows Herz sprudelte über vor Glück. Endlich hatte sie ihren Keylam gefunden und konnte ihn wieder in ihre Arme schließen. Sie war diese Reise nicht umsonst angetreten. Ihr erstes Ziel hatte sie erreicht.

Urban teilte Keylams Schicksal, denn auch er lag völlig gelähmt am Boden.

Arrow zog ihren Mantel aus und wickelte den Phönix darin ein, um ihn anschließend dem Fenriswolf zu übergeben.

Auf einem kleinen Sockel entdeckte sie unter einer gläsernen Glocke zwischen jeder Menge Gerümpel eine einzelne Feder Urbans. Zwar konnte sie sich nicht erklären, ob sie unheimliches Glück hatte, dass ihr diese Kleinigkeit dort oben aufgefallen oder ob es einfach nur ihrer Intuition zuzuschreiben war. Doch völlig egal, was letzten Endes der Auslöser für diese Fügung gewesen war, in jedem Fall hatte sie nun eine Erklärung dafür, wie es die Sieben Todsünden geschafft hatten, Keylam in die Unterwelt zu verschleppen. Jemand hatte ihnen diese ganz persönliche Sache irgendwie zukommen lassen. Deshalb war er nicht, wie gewohnt, im Holunderwald aufgetaucht. Ein Teil seinerselbst hatte sich an diesem Ort befunden, also hatte ihn das Feuer auch hier her geführt.

Mit einigen Sprüngen war Arrow bei der Glocke. Ein bloßer Blick genügte, um zu wissen, dass sich die Feder nicht unter gewöhnlichem Glas befand. So zückte sie ihr Messer, dessen von Zwergen gefertigte Klinge sie schon so einige Male aus den wundersamsten Situationen hatte befreien können, und stach darauf ein. Ein schriller Schrei ertönte und ließ das Glas im nächsten Augenblick in tausend Teile zerspringen. Der Inhalt blieb jedoch unversehrt. Zwischen Schmuck, Juwelen und einem Fläschchen, das eine Handvoll Efeublätter enthielt, fielen ihr besonders einige Haarbüschel und ein ziemlich großes Schneckenhaus auf, in dessen Öffnung sie gut und gerne ihre Hand verstecken konnte. Eilig schnappte Arrow sich die Feder und verstaute sie sicher in ihrer Tasche. Nichts Persönliches durfte an diesem Ort verbleiben, ansonsten wäre es vermutlich ein Leichtes, Keylam oder Urban ausfindig zu machen und erneut hierher zu bringen. Nach kurzem Überlegen steckte sie auch noch das Fläschchen und die Haarbüschel ein. Vielleicht würde sie jemandem, möglicherweise sogar Elaine, damit einen Gefallen tun. Das Schneckenhaus und den Schmuck beließ sie an ihrem Platz. Zum einen wäre es viel zu anstrengend gewesen, diese ganzen Sachen mit sich herum zu schleppen, und zum anderen konnte sie sich nicht vorstellen, dass so etwas die gleiche Wirkung haben könnte wie die wirklich persönlichen Dinge, mit denen man geboren wurde.

Mit einem Sprung war sie wieder bei Keylam. Behutsam schob Arrow einen Arm unter seinen Nacken und den anderen unter seine Knie. Dann nahm sie ihn vorsichtig hoch und trug ihn über die Lava sowie an den Sieben Todsünden vorbei.

„War nett bei euch!“, rief sie triumphierend. „Für eure nächsten Besucher solltet ihr euch vielleicht etwas Besseres als eine grüne Brühe und ein paar blöde Sprüche ausdenken.“

„Dir wird das Lachen noch vergehen!“, rief Superbia wutentbrannt. „Du denkst, dass du dir alles erlauben kannst und allmächtig bist, aber da irrst du dich! Ohne die Unterstützung deiner Freunde wärst du nicht mehr als ein jämmerlicher Wurm, den sogar eine Ratte mühelos zwischen ihren Krallen zerquetschen könnte.“

Arrow hielt inne. Ein letztes Mal wandte sie sich den Todsünden zu und hatte dabei ein Grinsen auf den Lippen, wie es arroganter nicht sein könnte. „Stimmt“, erwiderte sie herablassend. „Aber was auf euch wie eine kümmerliche Schwäche wirkt, ist in Wahrheit meine Stärke. Ohne meine Freunde wäre ich nichts, und deshalb bin ich umso dankbarer, sie zu haben – jeden einzelnen von ihnen, jeden Tag.“

Dann drehte sie sich um und ging, mit Keylam im Arm und dem Fenriswolf an ihrer Seite, davon.

Nur wenige Schritte von der augenscheinlichen Folterkammer entfernt fand Arrow einen kleinen Hohlraum. Der Fenriswolf legte sich schützend vor den Eingang, während sie Keylams und Urbans noch immer gelähmte Körper behutsam darin ablegte.

Eilig wickelte sie das Beutelchen auf, das Frau Gaude ihr vor dem Eintritt in die Unterwelt übergeben hatte, und schaute etwas verdutzt, als sie den Inhalt erkannte. Merkwürdigerweise hatte sie fest damit gerechnet, das schutzbringende Johanniskraut darin vorzufinden, doch ihr Blick fiel eindeutig auf getrocknete Holunderblüten. Eigentlich hätte sie es sich ja denken können, denn was lag näher, als dass eine Bewohnerin des Holunderwaldes ihr eben solche Blüten anvertrauen würde?

Doch da war noch etwas. Ein Zettel lugte zwischen den Blüten hervor.

Bevor du den Phönix in deine Welt zurückbringst, musst du den Holunder in einem Schutzkreis um ihn legen. Es wird sicherstellen, dass seine Asche nicht in der Unterwelt verbleibt und dass er bei seiner nächsten Auferstehung nicht wieder dorthin verschleppt werden kann.

Ohne Zeit zu verlieren, tat Arrow, wie ihr aufgetragen wurde, und schüttete die Blüten in einem geschlossenen Kreis um Keylam und Urban. Dann setzte sie sich zu den beiden und strich Keylam zärtlich über den Kopf.

„Dass ich dich noch mal wiedersehen darf, war die Erfüllung meines größten Wunsches“, flüsterte sie mit zitternder Stimme. „Denn du bist das Beste, das mir passieren konnte. Aber ich muss das jetzt tun, sonst werde ich niemals Frieden finden. Und unsere Welt braucht dich – weit mehr als jemals zuvor.“ Dann gab sie ihm einen liebevollen Kuss auf die Stirn und verweilte für einen Moment so nah bei Keylam, dass er ihren warmen Atem auf seiner Haut spüren konnte. „Ich werde dich auf ewig lieben – bis zum Ende und wieder zurück.“

Zitternd holte sie die Phiole unter ihrer Kleidung hervor und tropfte beiden die Tränen der Grünen Lady auf die Zunge, um das Gift der Midgardschlange damit aufheben zu können. Ihre Lippen zu einem Kuss geformt schaute sie Keylam ein letztes Mal in die Augen. Anschließend zündete sie den Kreis der getrockneten Holunderblüten an und warf die zweite Karte der Göttin Perseis in die Flammen. Dieses Mal hatte sie sich innerhalb eines Wimpernschlags in das rote Metall verwandelt und verschmolz sogleich mit dem Feuer. Dann wurden die Flammen zu groß, und Arrow konnte nicht mehr sehen, was sich innerhalb des Kreises abspielte.

Dieses Schriftstück war die einzige Möglichkeit, die Unterwelt wieder verlassen zu können. Einen weiteren Schlüssel würde es vermutlich nicht geben.

Arrow wandte sich von dem Feuer ab. Keylam sollte die Tränen nicht sehen, die sie ob des erneuten Abschieds vergoss. Und ebenso konnte auch sie nicht mehr die Träne sehen, die Keylam weinte, bevor er mit Urban in Flammen aufging.

Frühlingserwachen
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