Von der Muse geküsst
Jetzt war sie auf sich allein gestellt. Flüchtig dachte sie noch an den Fenriswolf, den sie seit ihrer Begegnung mit den Frostriesen nicht mehr gesehen hatte. Doch so groß ihre Sorge auch war, jetzt musste sie diese Gedanken um jeden Preis verdrängen. Konzentriert brachte sie sich in eine aufrechte Sitzposition und schloss die Augen. Den Kopf frei zu bekommen, war jetzt das Wichtigste. Sie brauchte unbedingt einen einzigen, ganz bestimmten Gedanken, der sie jetzt schnellstmöglich an ihr Ziel bringen würde.
Die Sekunden verronnen und Arrow konnte das schwache Rieseln der Sanduhr hören, die unmittelbar vor ihr aus ihren Gedanken aufgetaucht war. So viele Dinge gingen ihr plötzlich durch den Kopf. Sie dachte an Frau Perchta und die Wilde Jagd, hörte die Schreie der wehrlosen Unseligen, die von den Dämonen verschleppt wurden. Junas Lachen erklang in weiter Ferne und brachte Arrow zum Schmunzeln. Dann erklang jenes unheilvolle Donnern, welches sie schon in jener Nacht vernommen hatte, in der ihr Vater gestorben war. Sie erinnerte sich an seine Stimme und hörte immer wieder, wie er sagte, dass er sie liebe und stolz auf sie sei. Doch selbst diese schönen Gedanken brachten sie nicht zum Ziel, sondern verursachten ein Gefühlschaos in ihrem Innern, welches es ihr unmöglich machte, sich konzentrieren zu können. Entnervt öffnete Arrow die Augen und entledigte sich ihrer schweren Tasche, und als plötzlich das Buch von Charles Dickens dort heraus purzelte, war Arrows Kopf vor lauter Überraschung wie leergefegt. Die Welt um sie herum veränderte sich und sie begann zu lächeln, denn sie wusste genau, was gleich passieren würde. Zuversichtlich streckte sie ihre Hände gen Himmel, und bevor irgendwelche neuen Zweifel von ihr Besitz ergreifen konnten, wurde sie auch schon gepackt und flog mit dem Wind aus ihren Träumen über Welten aus tausend Märchen. Zusammen überquerten sie dunkle Ozeane, erzeugten einen Wirbelsturm in einer trostlosen Sandwüste, beraubten einen Wald all seiner Blätter und schoben dicke Wolken über einen gerade noch strahlend blauen Sommerhimmel.
Arrow fühlte sich so lebendig wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Dieser Wind war ein Teil von ihr. Schon viel zu lange hatte sie ihn tief in ihrem Innern weggesperrt. Allein die Angst vor der Unbefangenheit hatte nicht schon früher vermocht, ihn aus seinem tiefen Schlaf zu wecken. Doch auf eine ganz bestimmte Art und Weise war er schon immer da gewesen. Mit Hilfe von Charles Dickens hatte sie ihm ein Gesicht gegeben und an die Oberfläche geholt. Einst hatte es eine Zeit gegeben, in der Arrow mit sich selbst nie ganz zufrieden gewesen war. Ständig hatte sie über jede ihrer Handlungen zu viel nachgedacht, war zu oft zurückgeschreckt vor ihren eigenen Gedanken und unfähig, sich selbst so zu akzeptieren, wie sie nun einmal war. Doch wer sollte sie schon ernst nehmen, wenn sie es selbst noch nicht mal konnte? Und nun hatte sie den Wind aus ihrem Innern befreit und liebte, wie er war, und alles, was er tat. Er erlaubte sich einen Schabernack ohne Reue, fürchtete keine Konsequenzen, sondern stellte sich ihnen, und vor allem versteckte er sich nicht vor der Welt. Zweifellos gab es noch immer Grenzen, die er um nichts in der Welt überschreiten würde. Es war der Pfad zwischen einem kleinen Spaß und Dingen, die einfach falsch waren. Absichtlich würde er niemals jemandem ernsthaften Schaden zufügen. Doch es gab ein gewisses Maß der Unbekümmertheit, das er sich zeitweise selbst gönnte, um sein Leben zu genießen. Gelegentlich musste er dafür sorgen, dass die strahlende Frühlingssonne von einigen dunklen Regenwolken verdeckt wurde und dass die Bäume im Herbst ihre Blätter verloren. Doch ganz egal, wie viel Missgunst er auch immer dafür ernten würde – es kümmerte ihn nicht, denn es gehörte zu seinen Aufgaben und auch das brachte das Leben nun einmal mit sich. Deshalb ging die Welt nicht unter. Und als der Wind Arrow auf der Lichtung eines verträumten kleinen Wäldchens absetzte, verbeugte er sich voller Bewunderung vor ihr, denn er konnte in ihren Augen sehen, dass sie sich endlich aus den selbst auferlegten Fesseln befreit hatte. Anschließend flog er mit einem schelmischen Kichern davon.
In gewisser Weise hatte sie sich gerade vor sich selbst verbeugt. Arrow fühlte, wie sie mehr und mehr zu der Person wurde, die sie schon immer hatte sein wollen. Mit leuchtenden Augen schaute sie ihrem unbeschwerten Freund hinterher, dessen Lachen noch eine ganze Weile nachhallte. Und als es schließlich verklungen war, schaute sie sich um.
Anstelle dieses Waldes hatte sich hier offenbar einst ein Dorf oder ein kleines Städtchen befunden. Überall standen kleine Häuser, von denen die Natur schon lange Besitz ergriffen hatte. Fenster und Türen waren zerstört, einige der Fachwerkwände waren teilweise beschädigt oder völlig niedergerissen und in jeder Ecke – egal ob vor oder hinter den Mauern – wucherten mehr oder weniger junge Bäume.
Mit großem Interesse betrachtete Arrow jedes Gebäude und fragte sich, warum eine Seele, die offenbar verzweifelt war, eine solch schöne Kulisse im Chaos erschaffen hatte. Im Grunde war dieser Ort von Einsamkeit geprägt, doch auf der anderen Seite wirkte alles überaus idyllisch und inspirierend. Überall wucherte Moos über entwurzelte Bäume und verkümmertes Mauerwerk. An lichteren Stellen ließen sich noch Salatköpfe und jede Menge anderer angebauter Gemüsearten finden. Kleine eingezäunte Weiden deuteten darauf hin, dass hier irgendwann auch einmal Nutztiere gehalten wurden. Alles wirkte so friedlich, als würde die Ruhe selbst hier wohnen.
Zarte Sonnenstrahlen tasteten zwischen den Bäumen den Waldboden ab und trotzdem schien es auf den ersten Blick, als würde es schneien. Doch was da so hübsch strahlend vom Himmel fiel, war nichts Anderes als die unzähligen Blüten weißer Vergissmeinnicht. Sie fielen auf den Boden, färbten sich blau und verwelkten dann innerhalb weniger Sekunden. Dieser Anblick ließ Arrow wachsam werden, denn er bestärkte sie in dem Gefühl, ihrem Ziel jetzt ganz nahe zu sein.
Plötzlich hörte sie das Rascheln vertrockneter Blätter und drehte sich um. In diesem Moment hätte sie wirklich alles erwartet, doch mit einem schwarz gefleckten Schwein, das wohl gelaunt und zutraulich zu ihr aufsah, hätte sie nie gerechnet. Von dieser netten Überraschung erfreut, hockte sie sich zu ihm und kraulte das niedliche Tierchen am Kopf, woraufhin es die Augen schloss und zufrieden grunzte.
„Na, meine Kleine“, sagte Arrow lächelnd. „Hat man dich hier etwa ganz allein gelassen?“
Als das Tier sie wieder ansah, erschrak Arrow, denn sie hätte schwören können, dass sie in zwei völlig unterschiedliche Augen schaute. Während das eine eindeutig zu einem Schwein gehörte, sah das andere nicht nur ganz anders aus, sondern wirkte auch noch überaus menschlich. Es war absolut verblüffend und Arrow hätte schwören können, dass es sie anlächelte, als es bemerkte, dass sie diesen Unterschied erkannte. Und während ihr endlich auffiel, dass dieses Tier genauso anmutete wie das Schwein, das Torra so oft auf Schritt und Tritt folgte, drehte es sich um und lief zwischen den Bäumen einfach davon. Arrows Überraschung wurde blitzschnell von dem Gefühl verdrängt, diesem Schwein unbedingt folgen zu müssen. So sprang sie auf und rannte ihm so schnell sie konnte hinterher. Doch schon nach der ersten Abbiegung hatte sie es aus den Augen verloren.
Als Arrow die Gegend nach dem Schweinchen absuchte, gab es weit und breit nicht den geringsten Hinweis auf seinen Verbleib. Nicht einmal Spuren waren in dem angenehm weichen Waldboden zu entdecken. Verwirrt schüttelte Arrow den Kopf. „Vergiss nicht, wo du dich befindest“, sagte sie sich immer wieder. „Hier ist nichts normal. Es müssen keine Spuren vorhanden sein. Immerhin existiert das Schwein selbst auch nicht wirklich.“ Aber das alles hier könnte real sein, denn dieser Ort ist einfach wunderschön, dachte sie im Stillen.
Plötzlich ertönte ein Quieken. Es klang hallend und kam nicht aus unmittelbarer Nähe. Doch am seltsamsten war, dass es sich anhörte, als würde es unter ihr im Boden sein.
Aufmerksam schlich Arrow um die gewaltig großen Bäume herum und entdeckte nur auf den zweiten Blick das völlig mit Moos bewachsene Felsgestein. Jede Menge Gestrüpp hatte es derart gut getarnt, dass es sich beinahe unsichtbar in die Waldlandschaft eingefügt hatte.
Als Arrow vorsichtig näher trat und behutsam das Blattwerk beiseite schob, entdeckte sie einen Eingang. Er war nicht besonders groß und führte über eine Treppe direkt hinab. Immer wieder fragte sie sich, in wessen Traumwelt sie da wohl hineingeraten war. Alles wirkte derart normal, dass es ihr regelrecht Angst einjagte. Es wäre ihr lieber gewesen, von vornherein in einer völlig chaotischen Welt zu landen. Da hätte sie sich von Anfang an auf die Situation einstellen können. Hier musste sie jedoch mit allem rechnen. Und dass es nicht stetig so ruhig bleiben würde, war ihr absolut klar. Immerhin befand sie sich hier in der Welt hinter den Welten. Es war der Platz, an dem geschundene Seelen verweilten, die nicht in die Hölle gehörten, sich selbst jedoch als derart wertlos erachteten, dass sie einen Platz im Himmel regelrecht ablehnten. Alles, was ihnen am Ende noch blieb, waren Selbstzweifel, Selbstvorwürfe und die zermalmende Eigenschaft, nichts mehr etwas Schönes abgewinnen zu können. Wer in diese Welt gelangte, bestrafte sich selbst – erlitt mitunter sogar schlimmere Qualen als jene, mit denen Hel in der Hölle hart ins Gericht ging.
Es war dunkel in der Höhle. Die Treppenstufen waren schmal und fühlten sich schmierig an. Arrow wurde ganz mulmig zumute. Dunkelheit war schon schwer genug zu ertragen, wenn man wusste, wo es lang ging. Doch wenn man nicht einmal eine Ahnung hatte, wie viele Stufen es bis zum Ziel waren, machte es die Sache unerträglich. Und obwohl sie im Grunde ganz froh darüber war, die hinterlistigen Irrlichter endlich los geworden zu sein, wünschte sie sich die kleinen Biester auf einmal sehnlichst zurück.
Kaum, dass sie diesen Gedanken ausgedacht hatte, tauchten sie plötzlich vor ihr auf. Doch anstelle der wenigen Exemplare aus dem Titanglas waren auf einmal mindestens zwei Dutzend anwesend.
Arrow zuckte zusammen. Die Höhle sah genau so scheußlich aus, wie sie es vermutet hatte. Teilweise tropfte schwarzer Schleim von den Wänden und dort, wo er es nicht tat, gab es seltsame Wölbungen im Gestein, die mit Sicherheit als nette Behausung für zwielichtige Geschöpfe dienten. Unendlich weit war die Höhle jedoch nicht, und obwohl Arrow vorher nie einen Gedanken daran verschwendet hatte, bekam sie plötzlich Platzangst. Was, wenn es am Fuße der Treppe ebenso beengend war? Würde sie die letzten Meter eventuell durch einen schmalen Tunnel kriechen müssen?
Innerlich rief sie sich einmal mehr zur Vernunft. An diesem Ort war es mehr als unklug, die Gedanken ständig abschweifen zu lassen, denn ab einem bestimmten Punkt wurden Ängste real, und das konnte sie sich jetzt einfach nicht erlauben. Umso erstaunter stellte sie irgendwann fest, wie oft ihre Gedanken so unkoordiniert eine andere Richtung einschlugen, und so fragte sie sich, ob es anderen Leuten wohl genauso ging.
Und dann, ganz plötzlich von einer Treppenstufe zur nächsten, veränderte sich die Umgebung. Zwar befand sie sich noch immer in der Höhle, doch die Stufen waren zu Ende. Statt des tropfenden Schleimes glitzerten die Wände voller funkelndem Mineralgestein. Und anstelle des beengenden Ganges fand sie sich am Rande eines riesigen Saals wieder, der wie ein Colosseum angeordnet war. Mit einem unguten Gefühl im Magen suchte Arrow nach einem Sitzplatz. Da diese Veranstaltung offenbar weitestgehend ausgebucht war, gestaltete sich das weitaus schwieriger als zunächst angenommen. In der Mitte fand sich dann endlich doch etwas. Hätte Arrow die Wahl gehabt, wäre ihr ein Platz in der hinteren Reihe am liebsten gewesen. Dort hätte sie alles besser überblicken und einschätzen können. Doch wie das Schicksal es wollte, sollte sie direkt im Geschehen sitzen und vermutlich sogar entsprechend agieren.
Gleißende Lichter erhellten die Fläche im Inneren des Colosseums und die Menge tobte.
Ein verwahrloster, alter Mann mit langem Bart und zerzaustem Haar stand an einen Pranger gekettet in der Arena. Er schaute zu Boden und seine ganze Haltung vermittelte den Eindruck, als wäre er in seinem Willen und Mut gebrochen. Da fanden sich keinerlei Anzeichen, dass er etwas hatte, für das es sich zu kämpfen lohnte. Wie ein Häufchen Elend stand er da und erwartete seine Absolution.
Der Lärm verstummte abrupt, als ein weiterer, in Schwarz gekleideter Mann aus der Dunkelheit hervor trat, ein Schriftstück entrollte und daraus laut vorlas. „Die Plätze sind nun vollzählig. Darum erkläre ich hier und heute das Verfahren gegen den Angeklagten Melchior Falls als eröffnet.“
Wieder begann die Menschenmenge zu toben. Sie schrieen, stampften und klopften, was das Zeug hielt. Einzig Arrow wurde kreidebleich und konnte plötzlich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Als ihr auf einmal bewusst wurde, dass sie ihr Ziel erreicht und ihren Vater endlich gefunden hatte, ließ es ihr das Blut in den Adern gefrieren. Völlig unvermittelt sprang sie einfach auf, um zu ihm in die Arena zu laufen, doch sie wurde von einem hauchzarten Schleier zurück gehalten. „Warte ab und beobachte erst, was passiert“, flüsterte der Wind in ihr Ohr. Arrow wollte ihm in die Augen sehen, doch er war ebenso schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war.
Sobald die tobende Menschenmenge wieder verstummt war, setzte sie sich, noch immer geschockt, auf ihren Platz zurück.
„Dem Angeklagten wird vorgeworfen, selbstsüchtig und rücksichtslos gehandelt zu haben. Diverse Versprechen seinerseits sind nicht eingehalten worden und in all seinen Lebenslagen war er stets auf seine eigenen Vorteile bedacht. Den Anschuldigungen der Zurückgelassenen muss sich der Angeklagte deshalb hier und heute stellen und wird gleichzeitig dafür zur Verantwortung gezogen.“
Ein zustimmendes Klopfen der Zuschauer ertönte. Arrow sah sich um, doch auf den ersten Blick fiel ihr niemand auf, der ihr auch nur im Entferntesten bekannt vorkam. Ängstlich suchte sie den Blick ihres Vaters, doch er schaute nach wie vor als gebrochener Mann zu Boden.
„Als erstes wird Samantha Davis in den Zeugenstand gerufen, ihres Zeichens ehemalige Geliebte des Angeklagten.“
Eine hübsche, junge Frau mit haselnussbraunem Haar und einer weißen Haube trat hervor. Den Gesichtszügen nach zu urteilen schien sie sehr warmherzig und freundlich zu sein.
„Er hat mich sterben lassen“, begann sie aus heiterem Himmel zu erzählen. „Als ich ihn damals kennen gelernt habe, war ich keine dreißig Jahre alt. Mein Mann war ein Jahr zuvor einem Geschwür erlegen und ich musste unsere vier Jungen allein durchbringen. Wie aus dem Nichts tauchte Melchior plötzlich auf. Er versprach mir ein besseres Leben und dass er sich um mich kümmern würde. Ich flehte ihn an, mich mit in sein Reich zu nehmen, doch er sagte, dass es viel zu gefährlich sei.
Zwei Jahre später bin ich dann an einer schweren Grippe erkrankt und habe ihn angefleht, mich genesen zu lassen, doch er hat mich nicht erhört. Immer wieder hatte er nur gemeint, dass es nicht in seiner Macht stünde, Krankheiten zu heilen. Doch ich weiß, dass es eine Lüge war!“
Lautes Murmeln erklang aus sämtlichen Richtungen. „Mörder! Betrüger!“, hörte Arrow die Leute rufen.
„Und dann“, sprach Samantha weiter, „hat er meine Kinder in sein Reich verschleppt und sie bei Leuten untergebracht, die er kaum gekannt hat. Sie haben ihn nie wieder gesehen.“ Dann veränderte sich Samanthas Gesichtsausdruck abrupt. Mit einem Mal wirkte sie schuldbewusst und verletzlich „Aber er hatte keine andere Wahl! Wären die Kinder bei ihm geblieben oder hätte man sie mit ihm in Verbindung gebracht, hätte das ihren sicheren Tod bedeutet. Er war auf der Flucht!“
Angespannt versuchte Arrow zu deuten, was da gerade vor sich ging. In einem Moment beschuldigte Samantha Melchior noch und im nächsten Augenblick rechtfertigte sie die Anschuldigungen vor sich selbst. Ihr ganzes Benehmen wirkte derart widersprüchlich, dass Arrow nicht durchschauen konnte, worauf die junge Frau hinaus wollte.
„Das alles tut nichts zur Sache“, sagte Samantha wieder in strengem Ton. „Er hat meine Kinder im Stich gelassen! Er hat mich im Stich gelassen ...“ Traurig senkte sie ihren Blick und verschwand wie ein zarter Nebelschleier.
„Als nächstes rufe ich Thomble Tamp in den Zeugenstand!“, meldete sich der Mann mit der Schriftrolle wieder zu Wort.
Ein griesgrämiger, alter Kobold trat in die Arena. Er wirkte überaus schmächtig, doch wenn es tatsächlich Wesen gab, dessen Blicke imstande waren, jemanden töten zu können, so war Arrow sich absolut sicher, dass man ihn dazu zählen konnte.
„Ich habe ihn damals angefleht, mir in Nebulae Hall Zuflucht zu gewähren. Sogar einen ganzen Topf voll Gold habe ich ihm dafür geboten! Aber er hat sich nicht erweichen lassen.“
Dann passierte mit dem Kobold genau das Gleiche wie zuvor mit Samantha Davis. Seine Gesichtszüge wurden weicher und voller Reue schossen ihm Tränen in die Augen. „In Nebulae Hall hat es keinen Platz mehr gegeben“, sagte er mit bebender Stimme. „Der gesamte Koboldstamm wollte dorthin umsiedeln und das war aufgrund der großen Anzahl einfach nicht möglich.“
Arrow überlegte. Was passierte da vorne wohl? Erst hagelte es Anschuldigungen und dann wieder Argumente, welche die ganze Situation entschärften. Waren Samantha und der Kobold Ankläger und Verteidiger zugleich?
„Unsere Lagerhöhlen sollten wir ausräumen und uns dort vor dem Winter schützen!“, sagte der Kobold wieder grimmig. „Aber wohin sonst hätten wir das viele Gold bringen sollen? Wir hatten nicht die geringste Wahl!“
„Das kann man so sehen, wenn einem ein Haufen glänzendes Metall wichtiger ist als das eigene Leben“, platzte es völlig unbedacht aus Arrow heraus.
Der Kobold erstarrte und die unzähligen Blicke der Anwesenden ruhten plötzlich auf Arrow. Eigentlich hatte sie gar nicht vorgehabt, sich in das Geschehen einzumischen, sondern wollte vielmehr dem Rat des Windes folgen und einfach nur beobachten. Doch erst jetzt, als sie von allen angestarrt wurde, wurde ihr bewusst, was sie getan hatte, und die erzürnten Blicke des Kobolds unterstrichen die Situation umso mehr. Aber was im ersten Moment unangebracht zu sein schien, fühlte sich auf einmal derart richtig an, dass Arrow am liebsten noch mehr dazu gesagt hätte, denn endlich bemerkte sie, dass sie sogar von ihrem Vater angeschaut wurde. Es war das erste Mal, dass er seinen Kopf gehoben hatte, und sein Blick wirkte überrascht und irritiert zugleich. Es schien, als hätte er nicht damit gerechnet, dass jemand auf eine derart zynische und selbstbewusste Art und Weise für ihn Partei ergreifen würde.
Alles in Arrow schrie danach, zu ihm zu laufen und dem ganzen Geschehen ein Ende zu bereiten, doch die zarten Worte des Windes hallten wie ein Echo in ihrem Kopf wider. „Warte ab und beobachte.“ Also blieb sie still auf ihrem Platz sitzen und verfolgte mit fester Miene, was weiter geschah.
„Er hat meine Familie auf dem Gewissen!“, zischte der Kobold mürrisch, während er Arrow zornig anfunkelte.
Erwartungsvoll wurde sie von den Zuschauern des Colosseums gemustert. Offenbar hofften sie auf irgendeine Reaktion ihrerseits. Doch anstelle eines ausschweifenden Wutausbruchs entgegnete Arrow lediglich mit einem völlig gelangweiltem: „Aha ...“
Der Kobold verschwand aus der Arena, und als der Mann mit der Schriftrolle den Namen Nelabat Silencia aufrief, erschien eine wunderschöne, junge Elfe mit wallendem, blondem Haar, in dem kleine Libellen saßen, deren schimmernde Flügel wie magische Schmuckstücke anmuteten. Ihre Haltung wirkte wie die einer Königin und ihr Gewand ließ ebenso auf eine höchst edle Herkunft schließen. Anders als bei ihren Vorgängern hallte in Nelabats Stimme jedoch keine Verachtung wider, sondern Enttäuschung und Verzweiflung.
„Vor vielen Jahrhunderten habe ich Melchior einst meinen größten Schatz anvertraut und ihm das Versprechen abgerungen, dass er meinen Jungen immer so behandeln würde, als wäre er sein eigenes Kind. Doch anstatt auf ihn zu achten, hat er ihn mit in die Menschenwelt genommen, wo er fernab seinesgleichen und seiner Heimat aufwachsen musste. In Elm Tree wurde er verachtet und gefürchtet. Eine solche Kindheit hätte ich für ihn niemals im Sinn gehabt.“
Sie schluckte und senkte den Blick. „Der Junge hat in Elm Tree immer nur das Beste bekommen. Er ist zu einem verantwortungsbewussten und mutigen, jungen Mann herangewachsen. Seine Kindheit war weitaus erfüllter, als sie es in der anderen Welt je hätte sein können. Als Sohn eines Nyriden haben dort nur seine Feinde und der Tod auf ihn gelauert.“
Eingeschüchtert von Nelabats liebenswerter Art, traute Arrow sich dieses Mal nicht, der Elfe einfach so ins Wort zu fallen. Natürlich wunderten sie auch hier wieder die Widersprüche, mit denen die junge Frau dort unten sprach, doch etwas Anderes brannte Arrow sehr viel mehr unter den Nägeln. Zögerlich hob sie ihre Hand und wartete geduldig, bis sie von Nelabat angesprochen wurde.
„Ja?“, sagte die Elfe überrascht.
„Bitte verzeiht mir meine Ungeduld, werte Lady“, stammelte Arrow mit einem gewissen Anflug von Hilflosigkeit. „Ich möchte Eure Worte ungern anfechten, doch ich kenne Euren Sohn und bin mit ihm sehr eng verbunden. Bisher war ich immer der Meinung, dass Dewayne höchstens vierundzwanzig Jahre alt wäre. Ihr sagtet jedoch, dass Ihr ihn vor vielen Hundert Jahren in die Obhut meines Va ... äh, ich meine des Angeklagten gegeben habt. Wie ist das möglich?“
Irritiert schaute Nelabat in die Runde. Sie hatte wohl nicht damit gerechnet, dass diese Frage gestellt werden würde. Und so, wie Arrow wieder einmal von allen Seiten angeschaut wurde, hatte offenbar auch niemand sonst damit gerechnet, dass überhaupt irgendwelche Fragen zu beantworten waren.
Erstaunten Blickes ließ der Gerichtsdiener seine Schriftrolle sinken und richtete das Wort an Arrow. „Das amtierende Oberhaupt des Elfenvolkes, in diesem Fall die Elfenkönigin Nelabat Silencia, genießt das Privileg, unter ganz besonderen und absolut notwendigen Umständen die Zauberkräfte ihres Volkes zu bündeln und damit einen von ihr erwirkten Zauber auszusprechen, der jede andere Magie in den Schatten stellt. So hat Nelabat Silencia einst dieses Vorrecht genutzt, um ihren Sohn viele hundert Jahre durch die Zeit zu schicken und ihm damit ein qualvolles Leben in Angst zu ersparen. Der Preis für diese besondere Fähigkeit hat jedoch den umgehenden Tod des Elfenoberhauptes zur Folge, sobald der Zauber ausgesprochen ist.“
Arrow verschlug es die Sprache. Melchior hatte nie viel von Dewaynes Eltern erzählt. In ganz wenigen Momenten hatte er gelegentlich erwähnt, dass sie ihren Sohn über alles geliebt hatten und stolz auf ihn wären, wenn sie ihn sehen könnten. Doch sobald Melchior diese Worte ausgesprochen hatte, war er stets ein bisschen melancholisch geworden und hatte sich für Stunden, manchmal auch für Tage, zurückgezogen.
Als die Stille im Saal zu lang wurde, nickte der Gerichtsdiener Nelabat zu, woraufhin sie vom Podest steigen und gehen wollte. Doch bevor sie verschwinden konnte, richtete Arrow ein weiteres Mal das Wort an sie.
„Dewayne ist zu einem wundervollen Mann herangewachsen. Ich schätze mich glücklich, ihn meinen Freund nennen zu dürfen.“
Gerührt von diesen Worten wischte Nelabat sich die Tränen von den Wangen. „Geht es meinem Jungen gut?“, fragte sie zaghaft.
Arrow nickte. „Und Ihr wäret zweifellos stolz auf ihn.“
Ein dankbares Lächeln zog über das Gesicht der Elfe, dann verschwand sie wie ihre Vorredner.
Völlig überwältigt von dieser Begegnung fasste Arrow sich an die Brust. Nelabat hatte ihr Herz berührt und nun schlug es derart kräftig, dass es ihr ein unbeschreibliches Gefühl des Glücks verlieh. Zweifellos war diese Elfe lediglich dem Produkt einer Fantasie entsprungen, doch sie war anders als die verzweifelte Samantha oder der unausstehliche Kobold. Nelabat schien vielmehr einer sehr starken, liebevollen Erinnerung zu entstammen. Vielleicht war sie einst tatsächlich so strahlend und warmherzig gewesen, wie Arrow sie gerade erlebt hatte.
Ein kleines Mädchen lief durch die Reihe und riss Arrow aus ihren Gedanken, als sie sich suchend hin und her drehte.
„Kann ich dir irgendwie behilflich sein?“, fragte sie das entzückende Kind.
„Ich war spät dran, und nun suche ich nach meinem Sitzplatz“, entgegnete die Kleine.
Überrascht schaute Arrow sich um. „Ich glaube, ich habe vorhin den letzten erwischt“, entgegnete sie verlegen. „Würde es dir etwas ausmachen, auf meinem Schoß zu sitzen?“
Das Mädchen schüttelte den Kopf, drehte sich um, und Arrow hob es mühelos auf ihre Beine. Obwohl sie gute sieben Jahre alt sein musste, wog sie kaum mehr als ein Pfund. Mit ihren blond gelockten Haaren, dem blauen Kleidchen und dem niedlichen Cape wirkte sie vielmehr wie eine Puppe, als dass man in ihr ein reelles Wesen vermuten könnte.
Die Verhandlung ging weiter und der Gerichtsdiener rief Lady Elaine Birch in die Arena.
Die Überraschung stand Arrow wieder einmal über das ganze Gesicht geschrieben, denn sie war es tatsächlich – oder zumindest die Erinnerung an sie, vor der Zeit, als sie zur Grüne Lady geworden war. Zum ersten Mal überhaupt konnte Arrow sich ein Bild davon machen, wie Elaine angezogen aussah, und sie war trotz des dunklen Gewandes noch immer die strahlendste Schönheit, die Arrow je gesehen hatte. Doch obwohl sie sogar die gleichen funkelnd schönen Smaragdaugen besaß wie ihr reales Vorbild, war ihr Blick kalt, verbittert und regelrecht Furcht einflößend.
„Einst war er mein Geliebter“, begann Elaine verachtend zu erzählen. „Ich habe alles mit ihm geteilt und wollte ihn zu meinem König machen, doch dann hat er mich eines Tages einfach im Stich gelassen. Er hat seine Kinder genommen, ist mit ihnen in die Menschenwelt verschwunden und hat mich mit meinem Schicksal als Grüne Lady allein zurückgelassen. Das habe ich ihm nie verzeihen können und ich hasse diesen Mann für alles, was er mir angetan hat!“
Das kleine Mädchen beugte sich vor und aus Angst, dass es fallen könnte, umschlang Arrow sie mit ihren Armen und hielt es zurück.
„Mich hat er auch im Stich gelassen“, pöbelte die Kleine. „Ständig hat er behauptet, dass er das alles nur für mich getan hätte und es lediglich meinem Schutz dienen würde, doch er hat immer nur an sich selbst gedacht!“
Verwundert musterte Arrow das Mädchen. Erst jetzt fielen ihr die funkelnden kleinen Eiskristalle im lockigen Haar der Kleinen auf und Arrow fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen. Nervös tastete sie die Brust und den Hals des Mädchens ab, doch da war nichts – kein Herzschlag, kein Puls. Sie war nicht mehr als das Produkt einer völlig verzweifelten und verschrobenen Fantasie.
Mit einem Ruck packte Arrow die Kleine und hob sie zu ihrem Sitznachbarn auf den Schoß. „Halt mal.“ Dann erhob sie sich und ging selbstbewussten Schrittes an den Plätzen der Zuschauer vorbei in die Arena.
„Was erlaubt Ihr Euch?“, sagte der Gerichtsdiener entgeistert.
Ungeduldig riss Arrow ihm die Schriftrolle aus der Hand und warf sie im hohen Bogen über das Publikum.
„Ich habe genug gesehen!“, fuhr sie den in Schwarz gekleideten Mann an. „Jetzt habe ich auch mal etwas zu sagen.“
„Aber ihr seid nicht an der Reihe! Vor Euch muss noch sechshundertzweiundfünfzig anderen Klägern das Wort erteilt werden!“
Arrow beachtete ihn gar nicht weiter und marschierte geradewegs auf ihren Vater zu.
„Hallo“, begrüßte sie ihn liebevoll.
Kraftlos hob er seinen Kopf und schaute ihr in die Augen. Zweifellos war er noch immer das Häufchen Elend, als welches sie ihn zuletzt im Holunderwald gesehen hatte. Seine geschundene Seele trug noch immer die Narben der Selbstvorwürfe und des Selbsthasses im Gesicht. Zu viele Versprechen hatte er nicht erfüllen können und letzten Endes war er unter der unbeschreiblichen Last der gewaltigen Verantwortung, die ihm auferlegt worden war, einfach zusammengebrochen. Das erklärte auch das hübsche, beschauliche Walddörfchen bei ihrer Ankunft – eine idyllische Oberfläche mit einem zerrütteten Inneren. Die perfekte Tarnung für jemanden, der innerlich zugrunde ging.
„Erkennst du mich? Ich bin Arrow.“
Erschrocken weiteten sich Melchiors Augen. Dann wandte er seinen Blick beschämt ab.
„Du bist nicht Arrow!“, schrie das kleine Mädchen aus dem Publikum. „Ich bin Arrow, und ich warne dich. Hör auf ihn so voller Bedauern anzusehen. Dieser Mann hat keinerlei Mitgefühl verdient! Er hat schlimme Dinge getan und wird nun dafür zur Rechenschaft gezogen!“
„Und wer bestimmt das?“, fragte Arrow ihren Vater liebevoll. „Empfindest du es nicht als anmaßend, dich selbst für Dinge zu bestrafen, welche die betroffenen Personen nie so empfunden haben, wie du es dir hier gerade ausmalst? Ich kenne Elaine. Ich habe mit ihr gesprochen. Sie ist dir nicht böse, sondern liebt und vermisst dich nach wie vor. Wir alle tun das.“
Während Melchior sie wieder zögerlich musterte, kam der Gerichtsdiener näher und stammelte entsetzt: „Du bist keine von uns.“
Da Arrow mittlerweile erkannt hatte, dass die ganzen Personen um sie herum keine eigenständigen Geschöpfe waren, sondern den Selbstzweifeln ihres Vaters entsprungen und somit ein Teil von ihm, ignorierte sie den Gerichtsdiener. Stattdessen sprach sie zu ihrem Vater, als hätte er diese Worte an sie gerichtet. „Das stimmt. Ich bin nicht deiner Fantasie entsprungen und genau betrachtet auch nicht deinen Erinnerungen. Die kleinen Haarspangen hast du mir erst viele Jahre später geschenkt und gelocktes Haar habe ich als kleines Mädchen nie getragen, sondern nur das eine Mal an dem Abend, als wir Elm Tree verlassen haben. Dad, ich bin real ...“
Tränen schossen in Melchiors Augen und zum wiederholten Male wandte er sich von Arrow ab.
„Wenn du real wärst, würdest du niemals so reden!“, sagte das kleine Mädchen, das inzwischen neben ihr stand.
„Dad, ich kann mir sehr gut vorstellen, wie schwer es für dich all die Jahre gewesen sein muss, die Bürde unseres Volkes auf deinen Schultern zu tragen. Doch mit dem Glauben, dass sie dich jetzt hassen oder verurteilen, tust du ihnen Unrecht. Ich meine, sieh mich an. Ich kann nicht leugnen, dass es mich verletzt hat, als du von uns gegangen bist. Ich denke jeden Tag an dich und bin traurig, weil ich nie wieder deine Stimme hören werde oder dich nie mehr in den Arm nehmen kann. Doch meine Beweggründe für diese Traurigkeit sind aus Liebe entstanden und nicht aus Hass.“
Arrows Augen füllten sich mit Tränen und ihre Stimme begann zu zittern. Sie sah ihren Vater an und suchte etwas in seinen Augen, das er scheinbar längst verloren hatte. Noch immer war sie sich nicht sicher, ob er wusste, dass sie tatsächlich seine Tochter und vor allem real war. So lange hatte sie sich gewünscht, ihn eines Tages noch einmal in ihre Arme schließen zu dürfen und ihm sagen zu können, dass sie ihn liebte. Und nun, da ihr sehnlichster Wunsch endlich in Erfüllung zu gehen schien, war sie sich noch nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt erkannte.
„So oft hoffe ich auf ein Zeichen von dir, doch entweder nehme ich es nicht wahr oder es gibt dieses Zeichen einfach nicht. Sogar die blauen Vergissmeinnicht blühen nicht mehr.“
„Das ist sein Verdienst!“, schrie das kleine Mädchen aufgebracht. „Er hat sie nicht mehr blühen lassen, weil wir ihn vergessen sollen! Er hat gedacht, dass er mit den Blumen nicht nur die Erinnerung an ihn, sondern auch den Hass und die Wut ihm gegenüber verschwinden lassen kann!“
„Was?“, fragte Arrow schluchzend. Diese Worte machten sie wütend. Schon die ganze Zeit über hatte sie gewusst, dass es einen Grund für das Ausbleiben der blauen Vergissmeinnicht gegeben hatte. Dewayne hatte ihr Hirngespinste andichten wollen, als sie es ihm gegenüber angedeutet hatte. Doch nun war es eindeutig.
Mit aller Kraft versuchte sie ihren Zorn zu unterdrücken und redete beruhigend auf ihren Vater ein. „Natürlich bin ich auch manchmal wütend auf dich. Und im selben Moment bin ich auch zornig auf mich selbst, denn ich weiß nicht, ob wir noch zusammen sein könnten, wenn ich nicht diesen dummen Fehler gemacht hätte. Ich hätte dir sagen müssen, wie ich mich fühle. Irgendetwas in meinem tiefsten Innern sagt mir, dass du mich verstanden hättest. Doch das alles spielt jetzt keine Rolle mehr, denn es ist jetzt, wie es ist. Wie es aussieht, gibt es für uns beide keine Möglichkeit, diese Welt hier jemals wieder verlassen zu können. Du machst dir so große Vorwürfe, dass ich dich vermutlich nicht umstimmen kann. Und selbst wenn ich es schaffen würde, so fehlt mir die Zeit dafür, denn ich vergesse bereits. In dieser Welt bedeutet das für eine lebende Seele, dass sie im Begriff ist zu sterben. Vermutlich vergesse ich dich, deine Stimme und all die wunderbaren Momente, die ich mit dir verbringen durfte, bevor ich dich davon überzeugen kann, dass deine Schuldzuweisungen und Vorwürfe einfach nicht wahr sind.“
Unaufhaltsam liefen Arrow die Tränen über die Wangen. Sie war an diesen Ort gekommen, um ihrem Vater etwas zu sagen, und der Wunsch danach, diese Worte aussprechen zu dürfen, war so groß, dass sie dafür sogar den Tod in Kauf nahm. Denn nichts Anderes bedeutete ihre Anwesenheit in dieser Welt. Vergessen hieß sterben und so viele Dinge waren ihr bereits entfallen.
„Ich liebe dich“, flüsterte sie ihm gequält zu. „Du fehlst mir.“
Für den Bruchteil einer Sekunde sah Melchior sie mit dem gleichen schmerzlichen Blick an, mit dem er schon die anderen Kläger bedacht hatte, und Arrow wurde klar, dass das, was sie da gerade tat, nicht richtig war. Ihre Tränen und der Schmerz bestärkten Melchior nur in seinen Selbstvorwürfen. Er mochte vielleicht nicht wissen, wer sie war, doch das änderte nichts daran, dass er Arrows Schmerz nachempfinden konnte und sich selbst die Schuld daran gab.
„Hast du gehört?“, fuhr ihn das kleine Mädchen an. „Immer hast du jeden nur unglücklich gemacht! Wir waren dir alle egal. Und nun müssen wir für deine Fehler bezahlen.“
„Er hat unsere Kinder auf dem Gewissen!“, schrie eine alte verbitterte Frau aus dem Publikum.
„Unsere auch!“, ertönte eine wütende Männerstimme. „Immer denkt er nur an sich selbst und hat rein gar nichts für andere übrig!“
„Er hat uns bessere Zeiten versprochen und eine Zukunft, in der wir uns nicht länger verstecken müssen!“
Verzweifelt schaute Arrow in die tobende Menschenmenge. Plötzlich schien alles außer Kontrolle zu geraten. Doch was sollte sie tun? Wie konnte sie ihm denn jetzt noch beweisen, dass sie echt war, dass sie gekommen war, um ihn aus dieser grauenvollen Höhle der Vorwürfe und des Selbsthasses herauszuholen?
„Du bist Schuld!“, rief das kleine Mädchen.
Einen Moment lang musterte Arrow ihr kindliches und überaus unsympathisches Selbst und plötzlich wusste sie, was sie zu tun hatte.
Furchtlos griff sie nach der Hand ihres Vaters und presste sie an ihre Brust. Er musste ihren Herzschlag einfach fühlen, denn es schien ihr vor lauter Aufregung förmlich aus dem Leib zu springen. Solange sie noch am Leben war, würde sie ihn nicht aufgeben!
„Dad, sieh mich an! Das ist nicht deine Tochter. Ich bin es! Und du bist mein Vater! Für dich habe ich gelebt und für dich bin ich im Begriff zu sterben! Ich weiß nicht, wer all diese Leute hier sind, und ich kann nicht für sie sprechen, doch offenbar war ihr Hass nicht stark genug, um dir hierher zu folgen, meine Liebe schon! Also sag mir jetzt, wie stark Deine Liebe für mich ist!“
Und plötzlich erwachte er wie aus seiner Trance. Der Bart und das weiße Haar verschwanden von einem Moment auf den anderen und vor Arrow stand endlich wieder der Mann, den sie einst gekannt und so sehr geliebt hatte.
„Ich werde Großvater“, flüsterte er mit leuchtenden Augen.
„Was?“, fragte Arrow überrascht. Und plötzlich hallten die Worte von Perseis, den Sieben Todsünden, Modgudr und Hel in ihren Gedanken wider, die ihr ein ums andere Mal beteuert hatten, dass sie eine reine Seele in ihrem Körper trug. Doch bevor sie begreifen konnte, was gerade geschehen war, verschwand die Welt um sie herum in gleißend hellem Licht. Das warnende Bellen des Fenriswolfes ertönte, während eine große, mit Frost bedeckte Hand nach Arrows Körper griff und sie wegbrachte – an einen Ort, an dem sie alles vergessen sollte...