Die Verzauberten Wiesen
Arrow wusste nicht, was nach dem Eintauchen im Ozean geschehen war, doch als sie erwachte, waren sowohl ihre Kleider als auch ihr Haar trocken. Ihre Augen brauchten eine Weile, um sich an das grelle Licht der wohltuenden Frühlingssonne zu gewöhnen. Die Strapazen der letzten Tage steckten ihr in sämtlichen Gliedern. Alle ihre Muskeln taten ihr weh, doch innerlich war sie völlig ausgeglichen. Sie hörte das Meer rauschen und fragte sich, ob sie sich wohl in einem Traum oder auf einer anderen Ebene des Jenseits befand. Der Gedanke, dass sie mittlerweile tot war, schien ihr sehr viel wahrscheinlicher als die Möglichkeit, in die Welt der Lebenden zurück gefunden zu haben. Doch die Tatsache, dass plötzlich wieder Erinnerungen aufgetaucht waren, die sie in der Unterwelt bereits verloren hatte, ließ sie wieder neuen Mut fassen. Vor allem aber wusste sie noch genau, was sie auf der anderen Seite alles erlebt hatte. Während ihrer Zeit bei den Nymphen hatte sie selbst diese Ereignisse vollkommen vergessen.
Als Arrow endlich ihre Augen öffnen konnte, fand sie sich auf einer Wiese voller blauer Vergissmeinnicht wieder. Bei diesem Anblick hielt sie es für absolut ausgeschlossen, tatsächlich noch am Leben sein zu können, denn blaue Vergissmeinnicht hatten schon seit dem Tod ihres Vaters nirgendwo mehr geblüht. Damals hatte er sich so sehr dafür geschämt, sie im Stich gelassen zu haben, dass er es für das Beste gehalten hatte, nie wieder auch nur ein einziges blaues Vergissmeinnicht blühen zu lassen. Es waren stets seine Lieblingsblumen für Arrow gewesen. Sie hatten seine Tochter über den Kummer hinwegtrösten sollen, wenn er wieder auf Reisen gegangen war. Gleichzeitig sollten sie die Blüten daran erinnern, dass er sie liebte und an sie dachte. Deshalb hatte er einst das Vergissmeinnicht als Gruß gewählt.
Nachdem Arrows Kräfte langsam zu ihr zurückgekehrt waren, setzte sie sich auf. Dieser Ort war wunderschön – weiße Sandstrände und ein Blumenmeer aus Vergissmeinnicht, soweit das Auge reichte. Sogar auf den seichten Wellen des kristallklaren Meerwassers tanzten die blauen Blüten ihrer Lieblingsblume auf und ab. Die gesamte Landschaft wirkte derart einladend, dass Arrow nicht umhin kam, sich zu fragen, ob dies wohl die Verzauberten Wiesen waren, von denen Keylam schon so oft erzählt hatte.
Mit einem Mal stockte ihr der Atem. Drüben am Wasser stand jemand und beobachtete sie. Der Wind fuhr ihm durchs Haar und die Frühlingssonne umspielte seinen athletischen Körper. Arrows Herz sprudelte beinahe über vor Glück. Es fühlte sich genauso an wie damals, als er ihr zu Hilfe geeilt war, nachdem sie beinahe von dem wackligen Gerüst gestürzt war. Das Gefühl, als er plötzlich vor ihr gestanden hatte und sie erfasst hatte, dass sie sich nicht einfach nur in das Gemälde eines längst verstorbenen Mannes verliebt hatte, war seinerzeit stärker gewesen als alles, was sie je zuvor erlebt hatte. Und nun kehrte es wieder zu ihr zurück.
Zögerlich erhob sie sich von ihrem Platz. Dieses Mal lief sie nicht gleich los, sondern wandelte ganz langsam auf Keylam zu. Sie wollte jeden Moment auskosten, denn der Wunsch, dass dies alles kein Traum sein sollte, wurde mit jedem ihrer Schritte stärker. Sie war so aufgeregt wie schon bei ihrer ersten gemeinsamen Begegnung, und je länger sie seinen sehnsuchtsvollen Blicken standhalten konnte, desto mehr verliebte sie sich gerade ein zweites Mal in ihn. Selbst als sie endlich vor ihm stand, traute sie sich noch immer nicht, ihn zu berühren, denn die Angst, dass er in genau diesem Moment verschwinden würde, blieb bestehen.
Er stand da und schaute ihr verunsichert in die Augen. Und als er endlich erkannte, dass sie noch immer die Gleiche war und sich an ihn erinnerte, zögerte er nicht länger. Leidenschaftlich zog er sie zu sich heran und küsste sie, als würde sein Leben davon abhängen, als wäre sie seine Muse.
In Arrow tobte ein wahres Feuerwerk der Gefühle. Sie hatte kaum noch zu hoffen gewagt, seine Arme noch einmal um ihre Hüften spüren zu dürfen. Und dann war da endlich wieder dieser Geschmack von Feuer und Erdbeeren. Plötzlich schien die Sonne noch heller und ihre Strahlen prickelten noch aufregender auf der Haut. Alles fühlte sich so einfach an. Endlich war sie wieder zu Hause.
Arrow öffnete ihre Augen und lächelte dermaßen ausgeglichen, wie Keylam es noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte.
„Du hast gefunden, wonach du auf der Suche gewesen bist“, stellte er mit leuchtenden Augen fest.
Sie nickte. „Jetzt habe ich meinen Frieden und bin nun bereit, dieser Welt den ihren zurückzugeben.“
Fasziniert musterte Keylam sie. Nach all den Wochen des Schmerzes, der Ungewissheit und der Sorgen hatte Arrow ihr Schicksal selbst in die Hand genommen. Zusammen waren sie bis ans Ende der Welt gegangen und wieder zurück. Als er sie damals kennen gelernt hatte, hätte er es nie für möglich gehalten, dass sie auch nur einen annähernd steinigen Weg beschreiten würde. Nicht, weil sie dazu nicht in der Lage gewesen wäre, sondern weil ihr das Selbstvertrauen dafür gefehlt hatte. Zweifellos hatte er sich auch schon zu diesem Zeitpunkt in das schüchterne Mädchen mit den Beinkleidern unter dem Rock Hals über Kopf verliebt. Doch nun? Auf eine Art war sie noch immer dieselbe, doch andererseits eine völlig andere Person.
„Hör auf zu träumen“, flüsterte Arrow ihm liebevoll zu, als sie die Verwunderung in seinen Augen erkannte. „Wir leben.“ Dann küsste sie ihn auf eine Art, auf die sie ihn nie zuvor geküsst hatte. Mit einem Ruck schlang sie ihre Beine um seinen Körper und kostete alles aus, von dem sie geglaubt hatte, es für immer verloren zu haben. Und als sie sich aus dem Kuss löste, richtete sie ihren Blick gen Himmel und rief: „Wir sind am leben!“
Keylam lachte. Es war ein Wunder. Nachdem er Arrow das letzte Mal im Granitturm gesehen hatte, hatte er geglaubt, dass die Unterwelt sie in ihrem Willen und ihrer Person brechen würde. Doch alles kam ganz anders und er wusste, dass es richtig war. Denn Anne und Dewayne hatten so viele Male schon von Arrows Kindertagen erzählt, von einer Zeit, zu der sie vor Entschlossenheit, Mut und Selbstbewusstsein regelrecht gesprüht hatte.
Sanft ließ er sie wieder zu Boden gleiten. „Ich werde dich nie wieder gehen lassen“, hauchte er ihr verträumt zu.
Arrow musterte ihn verdutzt, doch gerade als sie ihm ins Gedächtnis rufen wollte, dass zuerst sie die Verlassene war, wurde sie von einem sanften Druck an ihren Beinen abgelenkt.
Verwundert schaute sie an sich hinunter und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sich Pex ganz eng an sie schmiegte. Erfreut beugte sie sich zu dem kleinen Polarfuchs und nahm ihn auf den Arm. Völlig entkräftet kuschelte er sich an sie und zitterte dabei wie Espenlaub.
„Wie eigenartig“, bemerkte Keylam erstaunt. „Nach meiner Rückkehr hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Neve war schon ganz krank vor Sorge. Sie hatte befürchtet, dass er Juna irgendwie in Gefahr bringen könnte.“
Überglücklich schmuste Arrow mit dem kleinen Perseiden, und dann – völlig unerwartet – tauchten die vergangenen Ereignisse wieder in ihren Gedanken auf. Verwirrt überlegte sie hin und her, doch Zweifel waren absolut ausgeschlossen.
„Keylam“, sagte sie mit bebender Stimme. „Pex ist nicht wegen Juna zu uns gekommen.“
Er musterte sie fragenden Blickes. „Warum sollten die Perseiden ihn sonst zurückgelassen haben? Denkst du, dass es möglicherweise doch ein Versehen war?“
Verlegen schüttelte sie den Kopf und setzte den kleinen Polarfuchs wieder ab. „Kannst du dich noch an die Nacht entsinnen, in der Juna geboren wurde?“, fragte sie zappelig.
Keylam überlegte. Er rief sich den wunderbaren Nachmittag in Erinnerung, an dem sie mit den anderen Schlittschuh gefahren waren, und er dachte an den gemütlichen Abend vor dem Kamin. Aber sehr viel mehr fesselten ihn die Gedanken an Arrows Küsse im gemeinsamen Schlafgemach. Noch immer hatte er genau vor Augen, wie sie ihm das Hemd abgestreift und sich an seinen Körper geschmiegt hatte. Sich ihrer Berührungen zu entsinnen, ließ es ihm gleichermaßen heiß und kalt über den Rücken laufen. Und ganz plötzlich wurde ihm bewusst, worauf sie anspielte.
„Er ist deinetwegen hier?“
Lächelnd schüttelte Arrow den Kopf. „Unseretwegen.“
Keylam musterte sie ungläubig, doch als er das Leuchten in Arrows Augen erkannte, wusste er, dass es so sein musste.
Völlig überwältigt schlang er seine Arme um ihre Hüften, wirbelte sie umher und küsste sie. „Das ist ein Wunder!“, rief er erfreut aus.
„Das ist es.“
Arrow atmete durch. Gerührt schaute sie über das Meer von Vergissmeinnicht. Es war das Zeichen, dass ihr Vater endlich in Wallhall angekommen war, und gleichzeitig die Aufforderung an seine Tochter, dass sie ihn um nichts in der Welt vergessen sollte.
In diesem Moment fing ein neues Leben für sie an. Das Vergangene hatte sie abschließen können und die Zukunft begann jetzt, an einem Ort, den sie schon so oft in ihren Träumen aufgesucht hatte, mit dem Mann, den sie liebte.
Das Wasser der Verzauberten Wiesen war ganz warm und klar. Obwohl Keylam Arrow versicherte, dass sie in diesen Gewässern nichts zu befürchten hatte, war sie dennoch dermaßen aufgeregt, dass sie seine Hand fest umklammerte. Nur zögerlich traute sie sich den ersten Atemzug nach dem Eintauchen zu nehmen, doch sobald sie sich an das eigenartige Gefühl, ihre Lungen mit dem erfrischenden Nass zu füllen, gewöhnt hatte, sah sie sich um.
An der Oberfläche hatten schon Tausende von blauen Vergissmeinnichtblüten auf den Wellen hin und her getanzt und selbst am Grunde des Meeres blühten sie, so weit das Auge reichte. Der feine, weiße Sand endete schon wenige Schritte hinter dem Ufer und ging anschließend in eine satte, grüne Wiese über mit Obstbäumen, Pilzen und eingezäunten Koppeln, auf denen Forellen weideten.
Kleine, bunte Fische umschwärmten Arrow und Keylam wie neugierige Käfer und begleiteten die beiden bei ihrem Spaziergang. Die Grashalme wogten in der seichten Strömung hin und her und kitzelten an den Füßen. Hinter einem Brombeerstrauch tauchte eine kleine Herde von Hippocampussen auf und musterten die Spaziergänger mit großem Interesse. Keylam rief sie mit einem Pfiff herbei, und sobald beide die Arme um je eines der Pferdchen geschlungen hatten, flitzten sie auch schon los.
Die Art, wie die Sonnenstrahlen vom Wasser gebrochen und reflektiert wurden, erzeugte ein atemberaubendes Lichtspiel. Und wenn dann doch einmal ein flüchtiger Schatten vorüber huschte, ging er entweder von einem Segelschiff auf der Oberfläche oder von einem Blauwal direkt darunter aus. Der Anblick dieser gewaltigen Meeresbewohner schüchterte Arrow ein. Zwar war sie seit ihrer Reise durch das Totenreich mutiger geworden, doch das hatte sie nicht zu einer anderen Person werden lassen. So war die Angst vor Riesen beispielsweise geblieben. Und nichts Anderes waren Blauwale. Doch als einen Augenblick später plötzlich das magische Meeresschloss in Sicht kam, hatte Arrow ihre Ängste auch schon vergessen.
Es war über und über mit Muscheln und Korallen bedeckt und einfach unglaublich schön. So diente es offenbar nicht nur zur Behausung der Schlossherrn, sondern gleichzeitig als ein riesiges Riff für viele kleine Meerbewohner.
Vor dem Eingang warteten Nymphen mit Weinkrügen und Saftkaraffen. Arrow war gespannt, wie sie die Getränke reichen wollten, doch verblüffenderweise funktionierte es hier unter Wasser genauso wie an Land.
Der Schlossherr war ein älterer Mann mit einem langen weißen Bart, der Arrow und Keylam überaus freundlich willkommen hieß. Er ließ ihnen sofort Trauben und Beeren kommen, die allerdings gleich nach dem Öffnen der Schälchen zur Oberfläche aufstiegen.
Als die Sonne unterging, wurden rund um das Schloss transparente Ballons mit Flammen im Inneren angebracht, die von den Einheimischen als Schwebende Kerzen bezeichnet wurden.
So verbrachten sie noch eine wundervolle Nacht im Schloss der Verzauberten Wiesen, bevor sie am nächsten Tag die Heimreise antraten. Pex hatte sie nur widerwillig in das Wasser begleitet. Ihm war die ganze Sache mit Fischen, Walen und der Schwerkraft nicht geheuer. Am liebsten wäre er an Land geblieben, doch jetzt, nachdem er seinen Schützling endlich wiedergefunden hatte, wollte er ihn um nichts in der Welt wieder aus den Augen lassen, zumindest vorerst nicht.
Mit einem Schiff aus Wolken hatten sie die Rückreise angetreten. Und sobald die Fahrt zu Wasser nicht mehr möglich gewesen war, hatte es sich in die Lüfte erhoben. Als die Berge in Sicht kamen, mussten Arrow, Pex und Keylam das Schiff verlassen. Der Kapitän fürchtete, dass sein Schiff an den Gipfeln zerschellen würde. Also legten sie den Rest der Strecke zu Fuß zurück.
Arrow war wie ausgewechselt. Sie scherzte und lachte die ganze Zeit. Dabei strahlte sie eine Ruhe aus, wie Keylam es noch nie zuvor bei ihr erlebt hatte.
„Ich erkenne dich gar nicht wieder“, flüsterte er ihr verträumt ins Ohr.
„Das macht der Frühling“, antwortete sie. „Schau dich nur um. Alles ist zu neuem Leben erwacht, genau wie ich.“
Und genau so war es auch. Bäume standen in voller Blüte, und das satte Grün des Wiesengrases war unter den vielen Frühblühern kaum auszumachen. Trotz all der Farbenpracht behielten dennoch die blauen Vergissmeinnicht die Oberhand.
„Ich glaube, er will dir sagen, dass du ihn nicht vergessen sollst“.
Arrow lachte. Sie wusste, was diese Geste zu bedeuten hatte, doch dass sie inzwischen so überdeutlich war, dass es sogar Keylam auffiel, machte sie glücklich.
Arrow machte nicht den Eindruck, in irgendeiner Art und Weise mit dem Fußmarsch überfordert zu sein. Zusammen wanderten sie so lange, bis Keylam eine Pause vorschlug. Und währenddessen wurde Arrow auch nicht ungeduldig, sondern genoss die Sonne und alles um sich herum in vollen Zügen. Nur einen Moment lang geriet ihr Einklang mit der Welt ins Wanken.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Keylam liebevoll.
Arrow senkte den Blick und hielt inne. „Während der ganzen Reise ist mir der Fenriswolf nie von der Seite gewichen“, entgegnete sie betrübt. „Er war mir an allen Orten der Unterwelt stets ein treuer und fürsorglicher Begleiter gewesen. Doch als er mich beschützt hat, habe ich ihn aus den Augen verloren. Ich verdanke ihm so viel und weiß noch nicht einmal, ob er überhaupt noch am Leben ist.“
„Hey“, erwiderte Keylam und strich ihr zärtlich über die Wange, „sorge dich nicht um ihn. Er ist selbst dann noch bei dir gewesen, als du ihn schon lange nicht mehr wahrgenommen hast. Am Ort des Vergessens hat er über dich gewacht und darauf geachtet, dass du deinen Frieden findest.“
„Er ist dort gewesen?“, erwiderte sie mit leuchtenden Augen. „Aber die Frostriesen ... Er hat mit ihnen gekämpft und dann war er plötzlich ... Und auf gar keinen Fall hätte er zugelassen, dass ich ihnen in die Hände falle ...“
„Ich verstehe deine Sorge, doch vertraue mir, es geht ihm gut. Als die Riesen dich gefunden haben, hattest du deine Aufgabe bereits erfüllt. Und das Vergessen hätte selbst der Fenriswolf nicht mehr aufhalten können. Du warst schon dabei, zu sterben, und er hat dir ein friedliches Ende bescheren wollen. Er hat das Bestmögliche getan, das ein guter Freund in solch einer Lage hätte tun können. Er war dir treu, bis zum Schluss.“
Arrow lächelte. Keylams Worte gaben ihr den Frieden zurück und sie wusste, dass er die Wahrheit sprach. Selbst wenn das Schlimmste eingetreten wäre und sie den Ort des Vergessens nicht überlebt hätte, so wäre sie nicht allein gewesen. Ein treuer Freund hätte ihr beigestanden. Und war es nicht genau das, was sich ein jeder wünschte, der sein Ziel irgendwann erreicht hatte? In diesem einen unausweichlichen Moment nicht allein zu sein, sondern jemanden an der Seite zu haben, den man liebte und der es in gleichem Maße zurück gab? Der Gedanke daran war wunderbar.