Rastlos

Mitten in der Nacht erwachte Arrow. Sie hatte fürchterliche Kopfschmerzen und das vormals bequeme Bett empfand sie plötzlich als Qual für ihren schmerzenden Rücken. Sobald sie die dröhnenden Geräusche der Umgebung als Schnarchen zweier Bettnachbarn eingeordnet hatte, erklärte das endlich auch ihren bizarren Traum. Mit aller Gewalt hatte sie an den Zeigern einer unglaublich großen Uhr gezogen. Jedes Ticken hatte sich wie das Grollen einer Fuchsschwanz-Säge angehört. Und als Arrow im Traum ihre blutverschmierten Hände betrachtet hatte, war ihr auch aufgefallen, dass die Zeiger der Uhr tatsächlich Sägeblätter waren.

Die Zeit lief ihr davon. Den ganzen Tag hatte sie mit Ruhen und Schlafen verbracht. Dabei war sie nur aus einem Grund in die Weltenbibliothek gekommen – sie musste einen Weg in die Unterwelt finden, damit sie Keylam nach Hause holen konnte.

Auf einem Stuhl neben ihrem Bett hatte Arrow ihre Kleider gefunden. Sie waren gereinigt und offene Nähte repariert worden. Geschwind streifte sie sich die Sachen über und ließ das geliehene Nachthemd im zerwühlten Bett zurück.

Auf Zehenspitzen schlich sie durch die Stockwerke. Eine Treppe höher fand sie ein halbes Dutzend belegter Betten, unter deren Bettdecken der schwache Schein einer Glühwürmchenlaterne zu erkennen war. Arrow höre abwechselnd die Geräusche umgeblätterter Seiten und schreckhaften Wimmerns. Besorgt ging sie auf eines der Betten zu und hob vorsichtig die Decke. Darunter lugte ein zitternder, schmaler Mann mit einer Nachtmütze und verängstigten Augen hervor. Als er Arrow erblickte, schrie er auf, entriss ihr die Decke und verkroch sich umgehend wieder darunter. Vor lauter Schreck taten es ihm seine Bettnachbarn gleich. Augenblicklich erloschen die Laternen und das schwache Mondlicht, das durch die Fenster drang, gab überall zitternde Bettdecken preis.

Verwundert schnappte Arrow eines der Bücher aus dem Regal. Frankenstein von Mary Shelley hatte auf dem Deckel gestanden. Der Titel sagte ihr überhaupt nichts. Stirnrunzelnd schaute sie sich um, und als sie endlich ein Schild mit der Aufschrift „Grusel- und Schauerromane“ entdeckte, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Die Bibliothek war in verschiedene Genres unterteilt. Das erklärte auch, warum sich in einem einzigen Stockwerk nur Kochbücher in den Regalen befunden hatten, und die wenigen von dieser Thematik abweichenden Bücher lediglich in den Händen der dort anwesenden Leser zu sehen gewesen waren.

So machte Arrow sich erneut auf die Suche nach Kore. Und es sollte die ganze Nacht dauern, bis sie den ersten Anhaltspunkt fand.

Shoes bekam einen regelrechten Schrecken, als er Arrow am Morgen erblickte. Ihr Haar war zerzaust, die Augen vom vielen Reiben ganz rot und sie wirkte innerlich so unruhig, dass dem Gnom schon vom Beobachten ganz schwindelig wurde.

„Was ist denn mit dir geschehen?“, fragte er verdattert.

Arrow schenkte ihm nur einen kurzen Blick und wälzte sich dann weiter durch den großen Bücherstapel, welchen sie in der Nacht angehäuft hatte. „Ich suche etwas“, antwortete sie knapp.

„Das sehe ich“, erwiderte Shoes ironisch. „Wonach suchst du denn? Vielleicht kann ich dir helfen.“

„Es geht um eine junge Frau namens Kore“, murmelte Arrow abwesend. „Einst wurde sie von Hades in die Unterwelt entführt.“

Der Gnom runzelte die Stirn. „Dann musst du aber nach Persephone Ausschau halten und nicht nach Kore.“

Entgeistert musterte Arrow den kleinen Gnom und klatschte die Hände gegen ihre Stirn, als würde sie aus allen Wolken fallen. „Natürlich! Wie konnte ich das nur vergessen?“ Sie schüttelte den Kopf und warf einen verlorenen Blick durch das Fenster. Gestern hatte ihr das bunte Regenbogenspiel der Sonnenstrahlen und Kristalle noch gefallen. Heute wirkte alles so grell und ließ die Kopfschmerzen der Nacht noch schlimmer werden.

„Kind“, sagte Shoes besorgt, „willst du dich nicht ein wenig ausruhen?“

Ungehalten erhob Arrow sich vom Fußboden und lief umher wie ein nervöses Huhn.

„Ich kann mich nicht ausruhen“, bemerkte sie aufgebracht. „Ich habe schon so viel Zeit verloren. Und vor allen Dingen habe ich nicht mal die geringste Ahnung, wovon ich mich ausruhen sollte. Ja – ich hatte eine lange Reise, doch danach habe ich geschlafen und jetzt bin ich ausgeruht!“

Der Tonfall in ihrer Stimmte verriet Shoes, dass Arrow nicht ihn für seine Frage, sondern sich selbst für ihre Ratlosigkeit tadelte. Das verwirrte ihn zutiefst, denn er konnte sich nicht daran erinnern jemals einer derart unausgeglichenen Person begegnet zu sein. Und die Schwingungen dieser Rastlosigkeit strahlte Arrow nach allen Seiten aus.

„Kann ich dich denn wenigstens zu einem kleinen Frühstück überreden?“, versuchte er sie zu ködern.

Arrow blieb stehen. Verzweifelt schaute sie den Gnom an. Dann schlug sie ihre Augen nieder und nickte zaghaft.

Das 'kleine Frühstück', wie Shoes es genannt hatte, hätte problemlos Arrows ganze Familie satt machen können. Es sah überaus köstlich aus, doch ihr war nicht so recht nach Essen zumute. Hier und da kostete sie einige Speisen, doch hauptsächlich nahm sie große Mengen Tee zu sich.

Langsam bekam Arrow es mit der Angst zu tun. Sie machte sich große Sorgen um Keylam. Viele Tage war es ihr gelungen diese Gefühle zu unterdrücken, doch nun prasselten sie wie ein Wasserfall auf sie ein. Es nahm ihr die Luft zum Atmen. Der ganze Körper war vollkommen angespannt. Sie konnte nicht fassen, wie sie hatte vergessen können, dass sie die gesuchten Informationen nur finden würde, wenn sie nach dem Namen Persephone und nicht nach Kore forschte. Sie machte Fehler, und die konnte sie sich nicht erlauben.

Den ganzen Tag lang wühlte sie sich immer weiter durch Bücher. Eilidh hatte sich ausschließlich um sie gekümmert. Doch das hatte Arrow genauso wenig wahrgenommen wie die besorgten Blicke, die sich Shoes und die Dryadenfrau ihretwegen zuwarfen.

Mehrmals war Arrow über die Bücher eingenickt und dann wenig später erschrocken aufgewacht, um ihre rastlose Suche fortzuführen.

Als der Gnom am Abend den verschmähten Teller mit Spiegeleiern abräumte, ersuchte er sie um ein Gespräch.

Behutsam schob Shoes die Bücherberge, hinter denen sich sein Sorgenkind verbarrikadiert hatte, beiseite und musterte sie mitfühlend.

„Ich habe eine Idee“, sagte der Gnom mit lächelnder Miene. Begeistert hielt er ein seltsam aussehendes Holzröhrchen in die Höhe, dessen Enden jeweils wie kleine Trichter zuliefen. „Dies hier ist ein Hörrohr. Wenn du erlaubst, würde ich mir gern ein Bild von dem machen, was genau du suchst. Das spart Zeit, und wir umgehen die Gefahr, etwas Wichtiges zu übersehen – wie es zum Beispiel bei dem Namen Persephone geschehen ist.“

Arrow horchte auf. Es klang nach einer guten Lösung und ließ die Sache plötzlich weit weniger aussichtslos wirken als noch einen Augenblick zuvor.

„Wie funktioniert das?“, fragte sie interessiert, nahm Shoes das kleine Gerät ab und betrachtete es aufmerksam.

„Das eine Ende halte ich gegen deine Stirn, und am anderen Ende lausche ich, wonach du suchst. Es ist sehr nützlich für Personen, die ihr Anliegen nicht mit Worten ausdrücken können.“

Arrow musterte ihr Gegenüber skeptisch. „Heißt das, du willst meine Gedanken jetzt doch lesen?“, fragte sie beinahe vorwurfsvoll.

Der Gnom nickte und gab sich große Mühe, ihrem anklagenden Blicken Stand zu halten.

Ungehalten erhob sie sich und hielt das Hörrohr noch immer fest umklammert.

„Das geht nicht! Wie stellst du dir das vor? Ich kann doch nicht einfach ...“

„Arrow“, redete Shoes auf sie ein, „deine Geheimnisse sind bei mir gut aufgehoben. Was immer ich in deinem Kopf finden werde, wird den meinen niemals verlassen. Du weißt, dass es so ist. Deshalb bitte ich dich, zur Abwechslung mal auf dein Gefühl und nicht auf deine Gedanken zu hören. Überlass letzteres einfach mir.“

Diese Anmerkung gab Arrow einen Dämpfer. Sie konnte dem nichts entgegensetzen. Der Gnom hatte Recht. Seit ihrer ersten Begegnung war er ihr auf Anhieb vollkommen sympathisch gewesen – wie einfach alles in diesem Wald – Wenn man mal von der Tatsache absah, dass einige Bücher dieser Bibliothek bereits über mehrere Generationen auf der örtlichen Toilette gelesen wurden … Arrow malte sich nur ungern aus, was die Leser der betreffenden Exemplare wohl vorher in ihren Händen gehabt haben könnten – oder auch nicht ...

Wortlos setzte sie sich wieder zu Shoes auf den Boden und von einer Sekunde zur nächsten verschwand die Leere aus ihrem Blick.

Sie schloss ihre Augen und wartete gespannt, was geschehen würde. Ein zarter Druck auf ihrer Stirn verriet, dass es losging. Doch bevor sie sich konzentrieren konnte, löste Shoes sich mit einem lauten Aufschrei und ließ vor Schreck das Hörrohr fallen.

Die Hände auf seine Ohren gepresst, hüpfte der Gnom durch den Raum. Nur einen Augenblick später löste Eilidh sich aus der Wand und kam ihrem Mann zu Hilfe geeilt. Sie führte ihn auf eines der Lesesofas und strich ihm immer wieder über den Kopf, bis sein Wimmern verstummte und sich seine Gesichtsmuskeln wieder entspannten.

Besorgt ließ Arrow sich vor ihm auf den Boden nieder und wartete hilflos darauf, dass es Shoes besser ging.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie bang.

Stirnrunzelnd schaute Shoes sie an. „Das sollte ich wohl eher dich fragen“, entgegnete er verwundert.

„Hast du etwas Beunruhigendes gehört?“

„Ich habe eine ganze Menge gehört, aber verstanden habe ich rein gar nichts. Denkst du immer so viel?“

„Ich verstehe nicht ...“, stammelte Arrow skeptisch. „Es war vorhin nicht mehr als sonst.“

Entgeistert sprang Shoes vom Sofa auf. „Nicht mehr als sonst …? Wie stellst du das an, ohne deinen Kopf zum Platzen zu bringen?“

Obwohl es wie eine Frage klang, bekam Arrow nicht die Zeit zum Antworten. Schon viel zu lange fühlte sie sich zu alt, um sich von wem auch immer Standpauken erteilen zu lassen, doch was der Gnom jetzt sagte, machte sie wieder einmal sprachlos.

„Ich weiß nicht, was du vorhast, Kind. Aber egal, was es ist – mit solch wirren Gedanken wirst du dein Ziel niemals erreichen. In deinem Kopf geht es zu wie in einem Bienenschwarm.

„Und was soll ich dagegen machen?“, fragte Arrow hilflos.

„Komm mit“, forderte Shoes sie auf, und während sie ihm folgte, zeichneten sich auf dem Gesicht seiner Frau mindestens ebenso viele Fragezeichen ab wie auf ihrem eigenen.

Shoes steckte Arrow in ihr Bett und warf ihr ein Buch, das er drei Stockwerke höher aus dem Regal genommen hatte, auf die Decke. „Das wirst du jetzt lesen. Und sobald es in deinem Kopf ruhiger wird und dein Körper sich entspannt hat, wirst du schlafen.“

Skeptisch betrachtete Arrow das Buch mit dem Titel 'Emma'. „Ist das ein Buch, nach dem ich gesucht habe?“

„Nein, es ist ein Buch, das ich dir gebe. Und lass dir ja nicht in den Sinn kommen, es zu ignorieren.“

„Aber was soll ich denn damit anfangen?“

„Du musst zur Ruhe kommen“, antwortete der Gnom mitfühlend. „In deinem gegenwärtigen Gemütszustand kannst du niemandem bei irgendwas helfen. Wenn du so weiter machst, wird es dich zugrunde richten. Zu allererst musst du allein dir selbst helfen. Sobald das geschehen ist, sehen wir weiter.“

Shoes schüttelte ihr Federbett auf, fütterte die Glühwürmchen in der Nachttischlaterne und ließ die verdutzte Arrow in ihrem Bett zurück.

Wenig später kam Eilidh noch einmal und brachte Arrow ein Tablett mit kleinen Schnittchen, Naschereien und frischem Tee. Mit einem freundlichen Lächeln verbeugte sich die Dryade und verschwand anschließend wieder in der Wand.

Noch immer nicht begreifend, was da gerade geschehen war, stopfte Arrow sich einen Keks in den Mund und widmete sich dann dem Buch.

Abwesend griff sie immer wieder auf das Tablett und musste irgendwann überrascht feststellen, dass sie alles aufgegessen hatte. Verwundert kroch sie tiefer unter die Decke und las noch ein paar Seiten. Dann war sie eingeschlafen.

Als Arrow am Morgen erwachte, hörte sie endlich wieder die zarten Klänge, die die Sonnenstrahlen machten, während sie sich in den Kristallen brachen. Ihr Kopf war weitestgehend leer gefegt, und es gab keinen Druck, irgendwelche Hektik veranstalten zu müssen.

Die ersten Gedanken, die ihr in den Sinn kamen, galten dem Buch, das sie am Vorabend gelesen hatte.

Die besserwisserische Emma hatte sie erstaunlicherweise sehr an ihr eigenes Teenagerselbst erinnert. Zu oft hatte Arrow sich ihren Freunden gegenüber nur oberflächlich präsentieren müssen. Damals hatte es dem Zweck gedient, das Geheimnis ihrer Familie zu wahren. Dabei hatte sie dann selbst ganz wesentliche Dinge ausgeblendet und so über Jahre hinweg nicht einmal mitbekommen, dass eine ihrer besten Freundinnen in Arrows Bruder verliebt gewesen war. Daraufhin hatte sie den Fehler begangen, diese Tatsache zu belächeln und Linda als verrückt abzustempeln. Und Emma hatte es im Grunde nicht anders gemacht. Sie hatte um sich herum ihre eigene Welt geschaffen und dabei keine Rücksicht auf die Bedürfnisse ihrer Freunde genommen.

„Und?“, fragte Shoes erwartungsvoll beim Frühstückstisch.

„Großartig!“, antwortete Arrow lächelnd. „Diese Jane Austen wird bestimmt mal eine große Autorin.“

Der Gnom nickte. „Das war sie! Und ich gehe jede Wette ein, dass sie sehr lange nicht aus den Köpfen der Menschen verschwinden wird.“

„Oh“, bemerkte Arrow enttäuscht. „Dann brauche ich wohl nicht darauf hoffen, sie eines Tages persönlich kennen lernen zu dürfen.“

„Leider nein“, antwortete Shoes seufzend. „Diese Frau hatte eine großartige Muse an ihrer Seite. Sogar hierzulande ist sie in aller Munde. Bestünde die Chance, sie einmal persönlich treffen zu können, so müsstest du dich in der Schlange sehr weit hinten einreihen. Und ihr Leben verlief ebenso tragisch, wie ihre Werke grandios waren. Viel zu jung ist sie gestorben. Aber so ist das eben, wenn man sich mit einer Muse einlässt.“

Arrow runzelte die Stirn. Sie wusste, was eine Muse war, doch hatte sie nie ernsthaft geglaubt, dass ein solches Wesen tatsächlich existieren würde. Vielmehr hatte sie den Eindruck, dass die Menschen ihrer Kreativität irgendwann diesen Namen gegeben hatten. Allerdings schien es sich um sehr viel mehr als nur ein fiktives Wesen zu handeln, wenn man Shoes Worten Glauben schenken mochte.

„Trotzdem ist das dein Glückstag!“, sagte der Gnom freudig. „Die gute Jane Austen war zu ihren Lebzeiten nämlich außerordentlich fleißig gewesen. Wenn dir ihre Lektüre also gefallen hat, dann habe ich noch sehr viel mehr Beschäftigung für dich.“

Mit Jane Austen verging die Zeit wie im Flug. Jede freie Minute verbrachte Arrow lesend. Vor allem konnte sich ihr gegenwärtiges Selbst sehr gut mit Elizabeth Bennett identifizieren. Denn Arrow teilte ihre Leidenschaft zu unnahbaren, geheimnisvollen Männern, die im Nachhinein sehr viel interessanter waren, als es anfangs den Anschein gehabt hatte.

Shoes hatte für Arrow immer den Platz im Obstgarten des Hauses reserviert. Diese Leseecke unterschied sich insoweit von den anderen, als dass alle ihre Seiten sowie die Decke aus Fenstern bestanden. Dieser Wintergarten zweigte vom Stamm des Baumes auf einen Ast ab und war über wenige Stufen zu erreichen. Von dort aus hatte man einen wundervollen Ausblick. Das Besondere aber war ein kleiner Baum in einem Kübel, dessen Zweige und Blätter alle unterschiedlich aussahen. Je nachdem hingen entweder Äpfel, Birnen, Pfirsiche und sogar Erd- und Blaubeeren an den Zweigen. Beeren an einem Baum hatte Arrow noch nie gesehen. Allerdings hätten sie solche Dinge in dieser Welt auch nicht mehr wundern dürfen.

Jedes Mal, wenn sie eine Frucht pflückte und diese verspeist hatte, wuchs umgehend eine Neue nach. Es nahm kein Ende und hätte problemlos den ganzen Wald satt machen können. Shoes ermahnte Arrow allerdings, das Bäumchen immer ausreichend zu gießen und darauf zu achten, dass es genügend Sonne bekäme, da es andernfalls vor lauter Erschöpfung eingehen würde.

An den Abenden schnappte Shoes sich dann immer das Hörrohr und schaute nach, wie es in Arrows Kopf aussah. Dabei drückte er sein Ohr nicht mehr direkt an die Öffnung, sondern pflegte immer einen gewissen Sicherheitsabstand zu halten.

Nachdem Arrow mit dem Abendessen fertig war und sich wieder zum Lesen zurückgezogen hatte, kam der Gnom leichtfüßig herbei spaziert.

„So, mein Kind, was wir gestern gehört haben, war gar nicht mal so schlecht. Allerdings auch noch nicht so gut, um eine klare Zuordnung vornehmen zu können. Deshalb möchte ich, dass du mir etwas über dich erzählst.“

„Was möchtest du denn wissen?“, fragte Arrow irritiert.

Zielgerichtet griff Shoes nach ihren Händen. „Erzähle mir etwas über sie“, bat er. „Was können diese Hände, außer Seiten umblättern und Obst abschälen, sonst noch so?“

Nachdenklich entzog sie dem Gnom eine Hand und betrachtete sie von allen Seiten. „Hm ... Früher haben sie Geschirr und Wände bemalt und gelegentlich auch gekämpft.“

„In Ordnung. Das ist eine gute Information. Dann beginnen wir doch einfach mit dem positiveren Aspekt. Du bist also eine Künstlerin.“

Arrow lachte auf. „So weit würde ich nicht gehen. Was ich damals angefertigt habe, war nichts Besonderes.“

„Hast du es seinerzeit denn gern getan?“, fragte Shoes eindringlich.

Und plötzlich begannen Arrows Augen zu leuchten. Es war kein großartig heller Schein, sondern nur ein kleines Glimmen. Jedem anderen wäre es vermutlich entgangen, aber für Shoes, der die Zeichen der Körpersprache wie kein Anderer beherrschte, war es unübersehbar.

„Das habe ich“, entgegnete Arrow. „Ich weiß nicht, was ich damals ohne diese Beschäftigung getan hätte.“

„War es denn nur eine Beschäftigung oder vielmehr eine Leidenschaft?“

„Ich denke nicht, dass es eine Leidenschaft war. Zugegebenermaßen habe ich sehr viel Zeit mit dem Malen verbracht, doch so richtig glücklich hat es mich nicht gemacht. Nachdem ich die Bilder aus meinem Kopf und auf das Geschirr gezaubert hatte, waren viele Lücken zurückgeblieben. Wenn ich eine Idee hatte, konnte ich es kaum erwarten, sie der Welt zu zeigen. Doch sobald es dann so weit war, konnte die zurückgebliebene Leere mit nichts gefüllt werden – nicht einmal mit Freude.“

Ihre Worte hatten sich so traurig angehört, als könnte sie das alles immer noch fühlen. Nach einer Zeit, in der sie so viele schöne Dinge erlebt hatte, hatten die Ereignisse der vergangenen Monate diese Gefühle wieder hervorgeholt.

„Aber immerhin verfügst du über Fantasie. Ohne diese Eigenschaft könnte kein Künstler etwas erschaffen – nicht einmal der Größte unter ihnen.“ Zuversichtlich lächelte der Gnom sie an, während er noch immer eine ihrer Hände hielt. Dann holte er sein Hörrohr vor und sprach weiter: „Arrow, ich möchte, dass du versuchst, dich daran zu erinnern, was das letzte Ereignis war, das dich so sehr inspiriert hat, dass du es kaum abwarten konntest, es anderen zu zeigen.“

Nachdenklich ging Arrow in Gedanken die letzten Wochen durch, und als sie feststellte, dass sich während dieser Zeitspanne nichts finden lassen wollte, reiste sie noch weiter zurück. Sie dachte an ihren Geburtstag, die schöne Feier, den Besuch von Neve und Dewayne und die Aussicht darauf, mit ihnen zusammen das Weihnachtsfest feiern zu können. Und auf einmal erhellte sich ihr Gesicht.

„Bist du bereit?“, fragte Shoes, der die Antwort bereits aus Arrows Augen ablesen konnte.

Sie nickte. Entspannt lehnte sie sich zurück und konzentrierte sich auf diesen einen Gedanken, während Shoes ihm lauschte.

Als er das Hörrohr von ihrer Stirn löste, musterte sie ihn erwartungsvoll.

„Ich habe ein schönes Schloss gesehen“, erzählte er. „Elfen und Zwerge haben gemeinsam getanzt und ihre Gläser erhoben. Ein Baby hat das Licht der Welt erblickt und du hast dich gefreut, einen Brauch zu feiern, der sonst nur von den Menschen zelebriert wird.“

Arrows Augen wurden immer größer, doch sie wusste, dass sie noch nichts sagen durfte. Und als Shoes sich abwandte und die Treppe hinauf verschwand, wurde die Spannung unerträglich. Dann kam er wieder und drückte ihr ein kleines Buch mit der Aufschrift Weihnachtsgeschichten von Charles Dickens in die Hand.

„Das hast du gehört?“, fragte Arrow freudig.

Der Gnom schüttelte den Kopf. „Viel mehr noch“, entgegnete er. „Ich habe es gesehen. Deine Gedanken waren so klar, dass die Bilder in meinem Kopf aufgetaucht sind, und das ist mehr, als ich nach meinem ersten Lauschen zu hoffen gewagt hatte.“

„Du kannst meine Gedanken auch sehen?“

„So etwas passiert nur bei sehr wenigen Leuten. Natürlich können viele ihre eigenen Erinnerungen im Geiste immer wieder betrachten. Doch sie so zu gestalten, dass sie auch von Anderen gesehen werden können, ist eine äußerst seltene Gabe. Es zeugt von großer Leidenschaft und Verbundenheit zu den Erinnerungen. Aber vor allem zeugt es von großer Fantasie. Deine Gedanken muteten an wie ein Bild von Claude Monet.“ Träumerisch schwärmte er von den gesehenen Bildern. Er war so fasziniert, als habe er etwas derartiges noch nie erlebt. „Monet ist ein Maler“, beantwortete Shoes Arrows fragenden Blick. „Letztes Jahr hat ein Kunsthändler auf der Durchreise hier Halt gemacht. Er hat mir einige von Monets Bildern gezeigt und von ihm in den höchsten Tönen geschwärmt. Allzu bekannt ist Claude Monet noch nicht. Doch wenn du mich fragst, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich das ändert.“ Zuversichtlich zwinkerte er ihr zu.

„Manchmal kommt mir diese Fantasie – wie du sie nennst – eher wie ein Fluch vor“, erwiderte Arrow betrübt, ohne weiter auf die Schwärmereien des Gnoms einzugehen. „Es ist oft nicht kontrollierbar und dann tauchen plötzlich Bilder auf, die ich zuletzt vor vielen Jahren gesehen habe. Und ohne es zu wollen, entwickeln sie manchmal auch ein Eigenleben. Dann nehmen die Dinge einen Lauf, den es in der Realität so nicht gegeben hat. Zwar kann ich den Unterschied immer noch deutlich erkennen, doch ich weiß nicht im Geringsten, warum mein Kopf diese Dinge verfremdet.“

„Es ist nicht dein Kopf, Arrow, sondern deine Fantasie. Sie spricht zu dir. Und außerdem hilft sie dir beim Überleben.“

„Wie meinst du das?“

„Ich habe gesehen, an welchen Ort dich deine Reise führen soll. Es war nur ein schwaches Echo und trotzdem hallte es ununterbrochen in deinen Gedanken wider.“

„Du weißt, warum ich gekommen bin?“, entgegnete Arrow haltlos.

Shoes nickte. „Vor zwei Tagen habe ich es zum ersten Mal gehört.“

Aufgeregt erhob sie sich von ihrem Stuhl, doch ihr Gegenüber gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie sich beruhigen sollte. „Du bist noch nicht so weit. In deinem gegenwärtigen Zustand wirst du dein Ziel allerhöchstens auf dem dafür vorgesehenen, offiziellen Weg erreichen. Für die andere Route musst du deine Sinne schärfen und deine Fantasie trainieren. Sobald du auf der anderen Seite angelangt bist, wird sie pausenlos versuchen, dir Streiche zu spielen. Deshalb musst du sie kennen lernen, und vor allen Dingen musst du sie weiterentwickeln.“

„Soll das bedeuten, dass es tatsächlich einen anderen Weg in die Unterwelt gibt?“, fragte Arrow zitternd. Alles, was sie in den letzten Tagen gelernt hatte, war wie vom Erdboden verschluckt. Sie wirkte so unruhig, als trennte sie lediglich eine einzige schmale Tür von ihrem Ziel, und nun galt es den Schlüssel zu finden, der in dieses Schloss passte.

„Nach allem, was ich weiß, gibt es einen solchen Weg. Allerdings ist mir nicht bekannt, wie man danach wieder in diese Welt zurückkehren kann. Die Dämonen sind – was das angeht – erbarmungslos. Sie kennen keine Gnade, denn nicht einmal ihnen selbst ist es erlaubt, den Weg hinaus zu benutzen. Und gelingt es einem von ihnen doch, die Unterwelt zu verlassen, so ist höchste Vorsicht geboten. Denn eine solche Kreatur fürchtet weder einen Gott noch das Vergessen-Werden. Man würde ihn so lange jagen, bis nicht viel mehr als der schleimige Rest einer sich windenden Made von ihm übrig wäre. Und bis dahin bringt ein solch furchtloser Dämon unvorstellbares Leid über alles und jeden, der ihm in die Quere kommt.“

„OK“, sagte Arrow zaghaft. „Ich denke, ich habe verstanden, was du mir sagen willst. Du kannst also mit den Schauergeschichten aufhören.“

„Aber das ist keine Geschichte“, erwiderte Shoes gekränkt.

„Das mag ja sein. Bei deinen Worten habe ich mir trotzdem fast in die Hose gemacht, und wenn es schon so weit ist, will ich den Rest lieber gar nicht wissen. Aber um noch einmal auf das Thema zurückzukommen – kannst du mir trotzdem helfen?“

Traurigkeit schlich sich in Shoes Augen. „Du willst wirklich in diese Welt reisen? Ich kann dich nicht davon abbringen?“

Beinahe schmolz Arrow das Herz, als sie den betrübten Ausdruck in seinem Gesicht erkannte. „Ich muss“, entgegnete sie mit zitternder Stimme. „Der Mann, den ich liebe, wird dort gefangen gehalten, und ohne ihn will ich nicht sein.“

Eine hölzerne Hand legte sich auf Shoes Schulter, und ohne sich umdrehen zu müssen, verstand er die Geste seiner Frau. Auch Arrow konnte das Verständnis in ihren Augen ablesen und war ihr dafür sehr dankbar. Trotzdem war sie innerlich tief gerührt, denn ohne etwas Besonderes geleistet zu haben, hatte sie abermals die Herzen zweier Wesen für sich gewinnen können. Das war der höchste Lohn von allen.

Shoes schlug die Augen nieder. „Wir können dir helfen“, sagte er mit bebender Stimme. „Vorher musst du jedoch noch eine Hürde überwinden. Nur dann hast du eine Chance, und selbst die ist noch verschwindend gering.“

Die Ungeduld war Arrow anzusehen, doch sie wusste, dass sie sich von diesem Gefühl nicht irritieren lassen durfte. In den letzten Tagen hatte sie so viel über sich gelernt. Innere Ruhe und Ausgeglichenheit waren Empfindungen, die sie nur aus ihren jüngsten Kindertagen kannte. Zwischenzeitlich war das alles ob der traurigen Zwischenfälle verloren gegangen, doch mit den wieder gewonnenen Emotionen waren auch die Erinnerungen daran zurückgekehrt. Es hatte sie befreit und geholfen, die Dinge geordneter betrachten zu können. Die Stimmen hallten nicht mehr zu Hunderten in ihrem Kopf wider. Nahezu alle Gedanken waren derweil in sachlich geordnete Schubladen verpackt worden und kamen nur dann hervor, wenn sie gebraucht wurden. Manchmal traten sie auch unaufgefordert in Erscheinung, doch Arrow hatte gelernt, sie in diesem Fall wieder weg zusperren.

„Was muss ich tun?“, fragte sie gespannt.

Shoes erhob sich und drückte ihr abermals ein Buch in die Hand. „Lies es. Wenn es so weit ist, klärt sich alles andere von selbst.“

Dann ließen er und seine Frau sie alleine.

Arrow war ihrem Ziel ganz nahe – das fühlte sie. Mit dieser Empfindung und ihrem Buch ließ sie sich in das weiche Bett sinken und begann Die Silvesterglocken von Charles Dickens zu lesen.

Alles begann mit der Erfahrung, eine Dezembernacht allein in einer Kirche zu verbringen:

(…) Der Nachtwind hat eine böse Art, um ein Gebäude solcher Gattung herumzustreichen, dabei zu seufzen und zu klagen und mit unsichtbarer Hand an Fenster und Türen zu rütteln, um ein Luftloch zu finden, durch das er hineinkommen kann. Und wenn er sich eingeschlichen hat, wimmert und heult er, als ob er etwas suche und nicht finden könne, will wieder hinaus und gibt sich nicht zufrieden damit, durch die Gänge zu fahren und um die Pfeiler zu sausen und auf die brummende Orgel zu schlagen – - nein, er möchte auch noch hinauf und das Sparrenwerk zertrümmern. Dann wirft er sich wieder verzweifelt auf den steinernen Fußboden hin und steigt murmelnd in die Grabgewölbe. Heimlich kommt er wieder herauf, schleicht die Mauern entlang und liest leise flüsternd die Inschriften der Toten. Bei der einen bricht er in schrilles Gelächter aus, bei der nächsten klagt er und seufzt er. Es klingt so gespenstisch, wenn er sich hinter dem Altare versteckt und wilde Weisen singt von Übeltat und Mord, von der Anbetung der Götzen zum Trotze der Gesetzestafeln, die so glatt und schön aussehen und doch so oft schon besudelt und gebrochen wurden. Hu! Der Himmel bewahre uns und lasse uns ruhig und traulich am Feuer sitzen. Er hat eine grauenhafte Stimme, der Wind, um Mitternacht, wenn er in einer Kirche singt.

Und gar erst oben im Turm! Da saust und pfeift der ungeschlachte Geselle hoch oben im Glockenstuhl, wo er frei aus und ein kann durch luftige Bogen und Mauerritzen und sich um die Wendeltreppe wickeln und den kreischenden Wetterhahn umherwirbeln und den Turm selber zittern und beben machen kann. Hoch oben im Kirchturm, wo der Glockenbalken steht und die Eisenriegel der Rost zernagt, wo die Platten von Blei und Kupfer, gerunzelt vom wechselnden Wetter, sich krachend biegen unter ungewohntem Tritt und die Vögel schmutzige Nester in die Ecken der alten eichenen Sparren und Balken stopfen; wo der Staub alt und grau liegt und gesprenkelte Spinnen, faul und fett geworden in träger Ruhe, bei den zitternden Schwingungen der Glocken, ohne den Halt zu verlieren, in ihren aus feinen Fäden in die Luft gesponnen Schlössern schwanken oder wie Matrosen empor klimmen oder sich hinab lassen – aufgeschreckt – und ein Gewimmel von Beinen veranstalten, wenn es gilt, das bisschen Leben zu retten.(...)

Diese Worte bereiteten ihr eine Gänsehaut. Die Bilder tauchten direkt in Arrows Kopf auf. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, würde sie meinen, ein Hörrohr an Charles Dickens’ Kopf gehalten zu haben. Es war ein unbeschreibliches Erlebnis und löste das Gefühl der Unbesiegbarkeit in ihr aus sowie die Empfindung, Bäume ausreißen zu wollen … – natürlich nur im übertragenen Sinne. Auf einmal war alles wieder von Bedeutung. Die Sache erschien nicht mehr aussichtslos, sondern ungeschrieben und alles war möglich.

Als Arrow das Buch zuklappte bemerkte sie die flackernde Kerze auf ihrem Nachttisch. Shoes hatte doch gesagt, dass Kerzen nur zu Dekorationszwecken aufgestellt wurden und unter gar keinen Umständen angezündet werden durften. Und Arrow war mehr als sicher, sich an diese Anweisung gehalten zu haben. Verwundert blies sie die Flamme aus und legte sich dann – noch immer Feuer und Flamme für die Worte von Charles Dickens – schlafen. Mit den leisen Pfiffen des Windes, der draußen vor den Fenstern tobte, schlummerte sie friedlich ein.

In der Nacht träumte Arrow von der Kirche und dem Wind, der darin sein Unwesen trieb. Fasziniert stand sie zwischen den Sitzreihen und ließ das verschwommene Wesen keine Sekunde aus den Augen. Immer wieder fegte er über den Altar, durch die Kronleuchter, hoch an die Decke und wieder zurück. Und plötzlich packte er Arrow am Arm und zog sie mit sich. Mit einem schrillen Jubelschrei ließ sie verlauten, welch einen Spaß ihr dieser Flug bereitete. Wieder und wieder ging es auf und ab, um die Glocken und an den Vogelnestern vorbei. Die Blätter eines aufgeschlagenen Buches wirbelten vor und zurück, und ein Kerzenleuchter wurde vom Altar gefegt.

Das Glücksgefühl war unvorstellbar. Bisher hatte sie ihre Kräfte lediglich zum Reisen genutzt, doch diese Fähigkeit für einen kleinen Schabernack zu gebrauchen, wäre ihr nie in den Sinn gekommen.

Ohne jede Vorwarnung ließ der Wind sie los und fuhr mit einem gruseligen Kichern durch den Beichtstuhl. Anschließend malte er einem betrübt dreinschauenden Holzengel mit leuchtend roten Kerzenwachsresten eine komische Fratze an. Arrow zerfetzte derweil eine kunstvoll zusammengeknotete Blumengirlande und verstreute die Blüten im ganzen Raum. Der Wind lachte über ihre Kühnheit und verschwamm anschließend vor ihren Augen – genau wie die Kirche und die Umrisse eines fahlen Mannes, der sie von einer dunklen Ecke aus beobachtete.

Als Arrow erwachte, duftete es schon nach frischen Brötchen und süßem Honig. Und während das Gekicher des Windes noch immer in ihren Erinnerungen nachklang, verblasste das Gesicht des Fremden und verschwand schließlich ganz.

„Guten Morgen“, begrüßte Shoes sie mit einem erwartungsvollen Lächeln, und als Arrow ihre Augen öffnete, sah alles plötzlich ganz anders aus.

„Erzähl mir von dem Buch“, bat er ungeduldig. „Wie hat es dir gefallen?“

Doch Arrow konnte nicht antworten. Als befände sie sich in einer unwirklichen Welt schaute sie neugierig zu allen Seiten. Irgendetwas war anders an diesem Morgen, aber sie konnte sich selbst nicht erklären, was es war.

Die Bücher standen noch immer verstaubt in ihren Regalen, die Sonne schien noch immer durch die Fenster, und das brechende Licht ihrer Strahlen wurde noch immer von den Kristallen in Regenbögen und feine Klänge umgewandelt.

„Arrow?“, sprach der Gnom sie an, und als sie ihn ansah, verblasste sein Lächeln für einen Moment und wich unfassbarem Staunen. „Es hat funktioniert“, flüsterte Shoes.

Für die anderen Gäste der Weltenbibliothek war es ein ungewöhnlicher Morgen, denn zum ersten Mal mussten sie auf die erheiternden Worte ihres immer gut gelaunten Gastgebers verzichten. Dieses Mal kümmerte sich seine Frau ganz allein um das Frühstück und reichte den Tee schweigend, jedoch mit einem freundlichen Lächeln.

Shoes nahm Arrow mit in seine Privaträume. Viele Schilder mit den Aufschriften 'keine Bücher', 'privat', 'mach 'ne Fliege' und ‘sieh zu, dass du Land gewinnst' hatten darauf hingewiesen, dass Gäste und Besucher in diesem Bereich der Bibliothek unerwünscht waren. Shoes hatte sogar einen Zauber von dem Eingang nehmen müssen, damit Arrow hinein gehen konnte. Allerdings kam wider Erwarten kein kuscheliges Wohnzimmer mit Schlafbereich und Kochmulde zum Vorschein. Vielmehr glich es einer alten Werkstatt mit allem möglichen und auch unmöglichem Trödel, in der das Chaos die Oberhand behielt.

„Hier wohnst du?“, fragte Arrow verwundert.

„Klar!“, antwortete Shoes resolut. „Ein Gnom lebt für seine Arbeit. Es gibt nichts Schöneres. Nimm doch bitte Platz. Ich bin gleich wieder da.“

Arrow schaute sich um. Es gab kein Möbelstück, auf dem sie hätte Platz nehmen können. Unter einem Berg von Büchern erblickte sie ein kleines Bett, welches der Staubschicht nach zu urteilen schon lange nicht mehr benutzt worden war. Auf einem kleinen Tischchen stand eine Sanduhr, in welcher der Sand von unten nach oben rieselte. Daneben lag ein Buch, das Arrow umdrehen musste, da sie die Zeilen sonst hätte auf dem Kopf lesen müssen.

Überall standen haufenweise leere Tintenfässer herum und schöne Schreibfedern wurden teilweise wie kostbare Schätze in einer Vitrine aufbewahrt. Das wirklich Erstaunliche daran war, dass dieser Glasschrank rundum staubfrei war. Jede einzelne der vielen Federn war in ein kleines Gefäß gesteckt, auf dem ganz ordentlich Herkunft, Alter und Name der Vogelart, von der die Feder stammte, notiert war. Nur ein einziges Gläschen mit der Aufschrift Phönix war noch leer.

Nachdem ein dumpfes Poltern, gefolgt von unschicklichen Flüchen ertönte, erschien Shoes mit einer Lederrolle in der Hand.

„Was genau tust du in diesen Räumen?“, wollte Arrow wissen.

Der Gnom zuckte mit den Schultern. „Ich repariere Bücher, vervielfältige sie und schlage sie in Leder ein. Dafür benutze ich nur das beste Werkzeug. Genau wie das Papier nur von toten Bäumen stammt, benutze ich nur Leder von natürlich verstorbenen Tieren, und die Federn habe ich von den Vögeln, die sie einst getragen haben, geschenkt bekommen. Kein einziges Wesen wird des Materials wegen getötet. Zwar hatten nicht alle von ihnen unbedingt ein schönes Ende, doch es ist oberste Priorität, dass die Weltenbibliothek keine Materialien mit Ausbeutungshintergrund verarbeitet. Das ist einer der Gründe, die sie so besonders macht.“ Shoes stockte und schaute sich fragend um. „Irgendetwas stimmt hier nicht“, bemerkte er und strich sich skeptisch über sein Kinn. „Hast du meine Ordnung durcheinander gebracht?“

Arrow entglittenen die Gesichtszüge. Welche Ordnung meinte er? Konnte es wirklich sein, dass hinter dieser Rumpelkammer ein System steckte? „Ich habe nichts gemacht“, sagte sie nervös.

„Du hast nichts angefasst?“, hakte Shoes nach.

„Hm ... Also ich habe das Buch dort drüben umgedreht. Es sah so seltsam aus. Die ersten Seiten waren vollkommen leer, während das Ende aber schon geschrieben war.“

„Oh“, lachte Shoes und brachte das besagte Buch wieder in seine ursprüngliche Position. „Das ist meine Art zu schreiben. Ich muss das von hinten nach vorne verfassen. Anders kann ich es nicht.“

Arrow runzelte die Stirn. „Dann hast du also immer schon die komplette Geschichte im Kopf, wenn du mit dem Schreiben anfängst?“

„Eigentlich nicht“, antwortete der Gnom. „Welcher Schriftsteller hat das schon? Man muss seinen Figuren ja die Gelegenheit geben, sich entwickeln zu können – sonst macht die ganze Sache ja gar keinen Spaß. Aber die meisten Bücher schreibe ich ohnehin nur ab. So etwas geht immer einfacher, als ein komplett eigenes Werk zu Papier zu bringen.“

„Dann erkenne ich das System dahinter nicht“, entgegnete Arrow verwirrt.

„Und gerade das macht so viel Spaß daran!“, lachte Shoes und fügte weniger erfreut hinzu: „Andererseits gibt es aber auch Dinge, die mir meine Haare zu Berge stehen lassen.“ Er deutete auf einen riesigen Haufen von Druckplatten, die sogar schon mit Absperrband eingezäunt worden waren. „Der Typ, der das geschrieben hat, hieß Schmotz. Der Krempel ist so unfassbar schlecht, dass ich es noch nicht einmal dem Papier eines Baumes ohne Dryaden zumuten möchte. Die Setzplatten liegen schon seit Jahrzehnten dort rum ...“

„Ich kann der Bibliothek bereits gedruckte Werke dieses Dichters spenden!“, sagte Arrow hoffnungsvoll. „Sie sind sogar feuerfest.“

Skeptisch strich Shoes sich über das Kinn. „Hm, wird der Mist überhaupt von irgendwem gelesen?“

„Na hör mal“, erwiderte Arrow schnell, „ich kenne ihn, du kennst ihn ...“

Nachdenklich heftete er seinen Blick auf die vielen Druckplatten. „Warum eigentlich nicht“, sagte er schließlich.

Arrow fiel ein Stein vom Herzen. Endlich war sie diesen Plunder los und hatte damit gleichzeitig einem guten Freund einen Gefallen getan – hoffte sie jedenfalls.

Mit einigen Handgriffen schaffte der Gnom auf dem Fußboden Platz, wo er sich dann mit der Lederrolle niederließ. „Komm her“, forderte er sie auf.

Neugierig setzte Arrow sich zu ihm und wartete ab, was passieren würde. Mit leuchtenden Augen und unüberschaubarer Behutsamkeit wickelte Shoes die Rolle auf und entnahm daraus zwei unbeschriebene Blatt Papier.

„Das“, erklärte er geheimnisvoll, „sind die beiden letzten Papierblätter, die aus dem Holz des Weltenbaumes gefertigt wurden.“

„Yggdrasil“, flüsterte Arrow ehrfürchtig. „Die Esche, die den gesamten Kosmos verkörpert?“

Der Gnom nickte. „Dieses Papier ist ebenso wertvoll wie die Schuhe, die du in diesem Moment an deinen Füßen trägst.“

Fragenden Blickes betrachtete Arrow ihr Schuhwerk. Wie so oft hatte sie auch dieses Mal die ungleichen Schuhe an, welche sie einst von dem in der Menschenwelt lebenden Gnom Socks geschenkt bekommen hatte. Eigentlich hätte Arrow sie viel lieber in Ehren gehalten und zu einer Art Sonntagsschuh auserkoren, doch dafür waren sie einfach viel zu bequem.

„Nur ein einziges Mal“, erklärte Shoes bedeutungsvoll, „ist es jemandem gelungen, ein Tier, das unmittelbar mit dem Weltenbaum in Verbindung steht, zu erlegen. Meinem Bruder wurden damals sehr viel Geld und andere Reichtümer für das Schlangenleder geboten. Doch er wusste, dass es in den falschen Händen eine verheerende Wirkung haben könnte. Letzten Endes hatte er in die Menschenwelt fliehen müssen, da er und das Leder hier nicht länger sicher waren.“

„Socks ist dein Bruder?“, entgegnete Arrow erstaunt. „Und du sagst, dass er mir Schuhe aus dem kostbarsten Leder der Welt gefertigt hat?“

Shoes nickte. „Das kostbarste Leder – dieser, jener und auch aller anderen Welten.“

„Und warum hast du nie etwas gesagt? Ich hatte ja keine Ahnung, welch ein Schatz sich hinter diesen Schuhen verbirgt. Um Himmels Willen – wenn ich daran denke, wie oft ich sie achtlos irgendwo stehen gelassen habe. Hätte es irgendjemand bemerkt, wäre er mit diesen Schuhen längst über alle Berge verschwunden!“

„Sie hatten einen besonderen Wert für dich“, entgegnete der Gnom mit einem sanften Lächeln. „Vielleicht nicht denselben Wert wie für andere, die darauf scharf waren. Doch in deinen Augen habe ich sehr wohl sehen können, wie wichtig sie dir sind. Das Geschenk eines Freundes, den du auf ewig in deinem Herzen bewahren wirst.“

„Das war er“, bemerkte Arrow voller Dankbarkeit. „Ich weiß nicht, wo ich heute ohne ihn wäre.“ Wieder betrachtete sie ihre Schuhe und schwelgte für den Bruchteil eines Augenblicks in freundlichen Erinnerungen, bevor ihr wieder unzählige Fragen in den Kopf schossen. „Und du bist dir ganz sicher, dass Socks diese Schuhe aus dem besagten Schlangenleder gefertigt hat?“

„Daran gibt es keinen Zweifel. Zugegeben – er hat die Hinweise geschickt verstecken können, weshalb es nur den Wenigsten auffallen dürfte. Aber ich kenne die Arbeiten meines Bruders sehr genau, und ich werde den Tag, da wir diese Schlange erlegt haben, niemals vergessen. Es war allein unser Glück, dass sie nicht zu den Ranghöchsten der Yggdrasil-Schlangen gehörte. An jenem Tag mussten wir den Eid ablegen, nie wieder der Ausbeutung wegen zu töten, und das betrifft sowohl Tier als auch Baum. Es hat die Sache schwieriger gemacht, doch ich habe es nie bereut.“

„Und was genau können diese Schuhe?“, fragte Arrow skeptisch.

„Unbesiegbar machen sie dich schon mal nicht. Falls du das denkst, kannst du es dir gleich wieder abschminken. Allerdings kannst du mit ihnen auf den unbeständigsten Arten von Böden wandeln, und sie machen dich für die Bewohner anderer Welten achtbar. Solltest du also wirklich irgendwann Eintritt in das Reich der Hel bekommen, so darfst du diese Schuhe dort unter keinen Umständen ausziehen. Durch sie wird dir dort etwas Irdisches anhaften. Du bist dann kein wirklicher Feind. Allerdings solltest du auch nicht damit rechnen, dort willkommen geheißen zu werden. Aber diese Schuhe werden es dir auf jeden Fall ermöglichen, dass sie dich für eine von ihnen halten.“

„Und was mache ich mit dem Papier?“

„Damit musst du dich auf die Suche nach der Göttin Perseis machen, besser bekannt unter dem Namen Hekate. Sie residiert im Morgenroten Meer. Gerade mal eine Hand voll Leute kennen ihren Aufenthaltsort, denn mittlerweile lebt sie sehr zurückgezogen. Deshalb bitte ich dich, die Karte, die dich zu ihr führen wird, umgehend nach deinem Besuch bei ihr zu vernichten. Solltest du jemanden nach dem Weg zu ihr befragen, so musst du es unbedingt unter Nennung ihres Namens Perseis tun. Nur ihre engsten Vertrauten sprechen sie auf diese Weise an. Es ist das Zauberwort, das dich in ihr Reich lassen wird. Bittsteller, die begehren, bei der Göttin Hekate empfangen zu werden, weist sie nur allzu oft zurück.“

Shoes griff nach einem weiteren Stück Papier, das nicht dem Holz des Weltenbaumes entsprungen war, und skizzierte einen Kreis mit einem Stern und einer Mondsichel darin. „Es ist auch sehr wichtig, dass du nach ihrem Zeichen Ausschau hältst. Heute ist es sehr viel schwieriger zu finden, als noch einige hundert Jahre zuvor. Wenn du irgendwo jemanden siehst, der dieses Symbol trägt, dann bitte ihn darum, dich zu ihr zu führen.“ Betrübt schaute Shoes seine Vitrine an und fügte bedauernd hinzu: „Wäre ich im Besitz einer Phönixfeder, so hätte ich dir diesen Umweg vielleicht ersparen können, denn dieser Vogel vermag es, in beiden Welten wandeln zu können. Das ist eine wahrhaft einzigartige Eigenschaft. Man hätte die Karte mit dieser Feder anfertigen und dich dann zur Öffnung des Tores direkt nach Hause schicken können. Da Phönixe jedoch äußerst seltene und vor allem scheue Tiere sind, war es mir in all den Jahrhunderten nicht vergönnt, meine Sammlung zu vervollständigen.“

Verständnisvoll legte Arrow ihre Hand auf die Schulter des Gnomes. „Aber ohne deine Hilfe wäre ich nicht einmal annähernd an dem Punkt angelangt, an dem ich mich jetzt befinde.“

Frühlingserwachen
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