Vom Ort des Vergessens zum Ozean der Erinnerungen
Das Lachen von Nymphen erfüllte die Abenddämmerung. Es klang wie das zarte Klimpern eines Windspiels. Wie verzaubert saß Arrow vor dem mit Efeu bewachsenen Säulenrondell und schaute ihnen im Weiher zu. Sie schwammen schneller als der wendigste Fisch und wurden nicht müde, ihr Fangspiel fortzusetzen. Dieser Ort fühlte sich durch und durch magisch an. Das Gras wucherte hoch und wild, wachsame Frösche versuchten, die letzten Sonnenstrahlen der Dämmerung einzufangen, und die vielen Obstbäume verbargen die Sicht auf so manch ein verzaubertes Geschöpf, das die Nymphen möglicherweise ebenso beobachtete. Hummeln und Bienen schwirrten summend von einer Wildblume zur anderen, schillernd leuchtende Libellen saßen rund um den Weiher und Pollen tanzten wie anmutig zarte Blumenfeen durch die Lüfte. Alles war so ruhig und friedlich, dass Arrow die Augen schloss und den süßen Duft reifer Äpfel und saftiger Beeren einatmete.
Kichernd schwammen die Nymphen ans Ufer und baten Arrow, zu ihnen in den Weiher zu kommen. Freundlich lehnte sie die bezaubernde Einladung ab. Ihr Körper entspannte sich gerade, denn was auch immer zuvor geschehen sein mochte, hatte stark an ihren Kräften gezerrt.
Die Nymphen bespritzten Arrow mit Wasser und lachten dabei so heiter, dass es wie Musik in ihren Ohren klang. Schmunzelnd schöpfte Arrow nach dem angenehm lauwarmen Nass und bespritzte die Nymphen damit, doch diese waren schneller unter der Wasseroberfläche verschwunden, als Arrow ihnen mit ihren Blicken folgen konnte. Als sie wieder auftauchten, pflückten sie eine der leuchtend bunten Seerosen und überreichten diese ihrer neuen Spielgefährtin. Dankend nahm Arrow das Geschenk entgegen und roch an der Blume. Doch obwohl sie den Duft nicht einmal annähernd beschreiben konnte, war sie der festen Überzeugung, dass die Seerose nach einem Stückchen Himmel roch, das unmittelbar auf den Ozean traf.
Kichernd zogen sich die Nymphen in den Weiher zurück, während Arrow weiterhin ihr Spiel beobachtete. Beinahe fühlte sie sich wie in Trance, als plötzlich dumpf klingende Schritte wie ein Echo in dieser wunderschönen Kulisse widerhallten.
Arrow sah sich um und bemerkte, wie jemand auf sie zukam. Als er dann plötzlich aus dem Schatten der Säulen trat, machte ihr Herz vor Glück einen Sprung, und obwohl sie den überraschenden Besucher nicht zu kennen glaubte, wuchs in ihr das starke Bedürfnis, ihm entgegen zu laufen. Wie verzaubert stand sie auf.
Der Mann blieb stehen, und als Arrow nah genug war, um seinen Duft einzuatmen, tauchte vor ihrem inneren Auge das Bild einer alten Wandmalerei von ihm auf.
„Kennen wir uns?“, fragte sie mit einem zarten Lächeln auf ihren Lippen.
Er beugte sich vor und Arrow schloss ihre Augen. Doch bevor sie das leidenschaftliche Feuer seines Kusses spüren konnte, an welches sie sich zu erinnern glaubte, schmeckte sie salzige Seeluft und fand sich plötzlich ganz allein am Strand eines tobenden Meeres wieder.
Verwundert schaute sie sich um und erkannte, dass es auch an diesem Ort noch immer dämmerte. Anders als an dem Weiher war es hier jedoch nicht die schleichende Abenddämmerung, sondern das schwache Licht des Sonnenaufgangs. Dann sah sie ihn wieder, den schönen Unbekannten. Als würde er sie dort oben erwarten, stand er an einer Klippe, die man von der Strandseite aus sehr gut zu Fuß besteigen konnte. Zur Meerseite ging es jedoch steil bergab. Obgleich Arrow sich ganz sicher war, den Unbekannten auf diese Entfernung nicht hören zu können, glaubte sie dennoch zu hören, wie er ihr zuflüsterte: „Vom Ort des Vergessens habe ich dich nun weggebracht. Doch hier, am Ozean der Erinnerungen, liegt es an dir, den Weg zurück in die Welt der Lebenden zu finden.“
Hinter ihm stieg die Sonne immer höher gen Himmel und tauchte seinen Körper in eine feurige Silhouette.
„Denk an unseren Tag am Meer“, flüsterte er, und vor ihrem inneren Auge sah sie plötzlich, wie er sie auffing, als sie von einem wackeligen Gerüst fiel, wie er sie küsste und auf einem Maskenball mit ihr tanzte. All diese Bilder riefen Emotionen in ihr wach, von denen Arrow nicht einmal geahnt hätte, dass sie überhaupt möglich waren, und plötzlich lief sie los. Mit aller ihr zur Verfügung stehenden Energie rannte sie dem Mann auf der Klippe entgegen, und je näher sie ihm kam, desto mehr Bilder tauchten in ihren Gedanken auf. Sie sah, wie er in einem Schneesturm aus Blüten auf sie zugelaufen kam, behutsam ihren verletzten Arm verband und mit ihr zusammen das dicke Eis eines gefrorenen Sees zum Schmelzen brachte. Und als Arrow ihn am Kopfe der Klippe erreicht hatte, hallten in ihren Gedanken plötzlich die Worte von Frau Perchta wider. „Vor allem die Guten sollten mehr Vertrauen in sich selbst haben und auch mal ein Risiko eingehen. Dabei erscheint es mir völlig gleichgültig, ob sie es ausdrücken, indem sie in einen tobenden Ozean springen oder sich der Wilden Jagd stellen.“
In dem Augenblick wusste Arrow, dass sie dem Unbekannten nicht in die Arme fallen, sondern mit ihm zusammen von der Klippe springen musste. Also rannte sie, so schnell sie konnte, an ihm vorbei und sprang in das unbezähmbare Meer der Ungewissheit. Ohne auch nur einen winzigen Augenblick lang zu zögern, tat Keylam es ihr gleich und sprang mit Arrow einer gemeinsamen Zukunft entgegen. In dem Moment, da Arrow ins Meer eintauchte, war sie mit sich selbst wieder im Einklang, denn die Säumnisse der Vergangenheit hatte sie inzwischen aufgearbeitet und war endlich so weit, sich neuen Herausforderungen stellen zu können und ein neues Leben zu beginnen.