Den Lügner erkennen
„Dein Begleiter scheint sich verlaufen zu haben“, brach Harold endlich das Schweigen.
„Ich könnte es ihm nicht verdenken“, entgegnete Arrow kraftlos. „Keine Ahnung, wie lange er schon an diese grauenvolle Fessel gebunden war, aber ich an seiner Stelle würde meinen Peiniger für diese Schmerzen bezahlen lassen.“
„Ich spreche nicht von dem Fenriswolf, sondern von deinem anderen Weggefährten“, erwiderte Harold unbeeindruckt.
Arrow zuckte zusammen. „William? Soll das bedeuten, dass du ihn sehen kannst?“
Harold nickte. „Schon seit dem Moment, als du von deiner Reise zur Weltenbibliothek heimgekehrt bist.“
Arrow runzelte die Stirn. „Aber da habe selbst ich ihn noch nicht sehen können.“
„Dann hast du es wohl geschafft, ihm recht lange standzuhalten. Eine Muse zeigt sich erst, wenn man mit ihr spricht.“
„Eine Muse?“
„Ja – eine Muse. Ich nehme an, du weißt, was das ist?“
„Wenn ich mich nicht irre, sind das Geschöpfe, die Dichter und andere Künstler inspirieren. Allerdings war ich immer der Annahme, dass es sich bei Musen um ausschließlich weibliche Geister handelt.“
Genervt rollte Harold mit den Augen. „Ja, weil sie euch diesen Schwachsinn in der Menschenwelt erzählt haben. Mich wundert es allerdings, dass niemand derlei Irrtümer bei dir richtiggestellt hat.“
Arrow zuckte mit den Schultern. Früher hätte es sie auch gewundert, mehr noch – es hätte sie regelrecht verärgert. Inzwischen hatte sie sich aber weitestgehend an den Gedanken gewöhnt, dass sie auf diesem Gebiet wohl eine ewige Schülerin bleiben und ihren Mitmenschen, solange es um diese Art Wissen ging, hinterher hinken würde.
„Hätte sich die Gelegenheit dazu ergeben, wäre das bestimmt schon passiert.“
Harold lachte verächtlich. „Wenn es dabei nicht um Leben und Tod gehen würde, könnte ich dafür mit Sicherheit ein wenig Verständnis aufbringen.“
„Wie meinst du das, um Leben und Tod? Eine Muse ist doch ein gutes Wesen.“
Harold blieb stehen. Innerlich kochte er vor Wut – das war unübersehbar. Allerdings machte er sich, wie immer, auch nicht die Mühe, dies nach außen hin zu verbergen.
„Genau das habe ich damit gemeint“, zischte er mürrisch. „Die verfluchten Menschen erzählen immer nur die halbe Wahrheit, nur das, was sie sehen wollen. Natürlich sind Musen Geschöpfe, die den Künstlern und den Träumern Inspiration bringen. Das hört sich in der Theorie auch immer alles ganz wunderbar an. Wenn man allerdings noch bedenkt, dass nicht alle von Musen inspirierten Leute durchweg gute Visionen haben. Es existieren durchaus auch Wesen, die das Böse in sich tragen. Sie träumen von Mord, Verrat und davon, die Welt in Schutt und Asche zu legen.“
„Aber das würde doch keine Muse gutheißen, oder?“, fragte Arrow erschrocken.
„Darum geht es nicht“, entgegnete Harold schnippisch. „Die Kreativität ist der Muse Nahrung. Sie ist für sie überlebenswichtig wie ein loderndes Kaminfeuer in einer klirrend kalten Winternacht. Die Inspiration ist das Holz zum Nachlegen, damit das Feuer nicht erlischt. Es gilt, die Flammen so lange wie notwendig brennen zu lassen, bis kein Feuerholz mehr zur Verfügung steht. Dann verkümmert die Glut und irgendwann stirbt sie.“
Arrow entglitten die Gesichtszüge. „Was soll das heißen?“
„Dichter, Schriftsteller, Musiker oder Maler – das sind alles großartige Leute mit unglaublichen Visionen und Vorstellungen“, entgegnete Harold leidenschaftlich. „Hast du noch nie davon gehört, dass all diese Personen ein absolut außergewöhnliches, jedoch gleichzeitig auch einsames oder kurzes Leben führen? Oft wird ihnen nachgesagt verrückt gewesen zu sein. Die wenigsten Künstler können mit den unterschiedlichen Emotionen und Gefühlsausbrüchen umgehen. Kreativität ist Segen und Fluch zugleich.“
„Und das alles machen Musen?“, fragte sie ungläubig.
Harold nickte. „Ihnen bleibt keine andere Wahl. Würden sie sich dieser Methoden verweigern, hätte das ihren Tod zur Folge. Und ein Shakespeare, Michelangelo, Mozart oder Goethe hätten nur ein Leben geführt wie jeder Andere auch. Niemand hätte je die Bilder und Melodien in ihrem Kopf zu sehen, zu lesen oder zu hören bekommen. Sogar vor ihnen selbst wäre all das auf ewig verborgen geblieben.“
„Das ist ein ziemlich hoher Preis“, erwiderte Arrow bedrückt.
„Aber ein viel höherer wäre es, darauf verzichten zu müssen.“
„Trotzdem verstehe ich nicht, was William ausgerechnet von mir wollen könnte“, entgegnete sie abwinkend. „Die Malerei ist eine halbe Ewigkeit her und seit damals habe ich kaum etwas besonders Kreatives auf die Beine gestellt. Viel mehr als eine Zwischenmahlzeit werde ich für ihn kaum sein.“
„Du glaubst, dass er dich wegen deinem Geschmiere aufgesucht hat?“, lachte Harold spöttisch. „Wenn es nur darum ginge, hätte keine Muse der Welt dir auch nur einen Hauch von Beachtung vorgeheuchelt. Um von einer Muse inspiriert zu werden, benötigt es schon ein höheres Maß an Kreativität. Andernfalls wäre der Aufwand viel zu hoch und die Muse müsste weit mehr Energien investieren, als sie ernten würde. Erst würde es sie schwächen und anschließend würde sie daran verenden.“
„Das mag ja alles sein“, entgegnete Arrow ungeduldig. „Trotzdem hast du mir noch immer nicht die Frage beantwortet, warum seine Wahl ausgerechnet auf mich gefallen sein sollte.“
„Weil du Träume hast“, sagte Harold ganz selbstverständlich mit einem berauschenden Glimmen in den Augen. „Du hast die Vision von einer besseren Welt, von Freiheit und Frieden. Und die Tatsache, dass du begonnen hast, diese Träume zu leben, lässt sie wachsen. Du hast dein Volk in ein neues Zeitalter geführt und ihnen Hoffnung und Mut gegeben.“
„Wie du das sagst, hört es sich alles ja ganz schön an, doch du hast scheinbar vergessen, dass ich dabei Hilfe hatte. Ohne meine Freunde wäre ich vermutlich nicht mal in der Lage, mir eigenständig ein Frühstücksbrot zu schmieren.“
„Ja, bis zu einem gewissen Punkt warst du nicht viel mehr als die Legende der Erlösung. Doch irgendwann hast du einen Entschluss gefasst und bist aus deinem eigenen Schatten getreten. Und was die Anderen angeht – natürlich tragen sie ihren Teil dazu bei, doch du hast ihren Glauben in dich entfacht. Es ist ein Geben und Nehmen von beiden Seiten.“
„Aber dann hätte Williams Wahl doch auch auf einen von ihnen fallen können.“
„Ist sie aber nicht“, erwiderte Harold schroff, als würde er wegen Arrows Sturkopf jeden Moment die Geduld verlieren. „Die Anderen träumen nur, aber du lebst, was du dir wünschst!“
Völlig überfordert von all dem ließ Arrow sich am nächsten Baum nieder und rieb sich verwirrt die Schläfen. „Ich weiß gar nicht, wann das alles passiert sein soll“, sagte sie gequält. „Die Ereignisse haben sich in der letzten Zeit regelrecht überschlagen. Und ehe ich mich versehe, taucht Williams Gesicht in meinen Träumen auf. In der Realität spricht er mit mir und außer dir hat das offenbar niemand mitbekommen. Ich war schon der Annahme, langsam, aber sicher dem Wahnsinn zu verfallen.“
Resignierend blickte Harold auf sie hinab und setzte sich dann zu ihr. „Um die Wahrheit zu sagen, wärest du ohne ihn gar nicht hier. Ich nehme an, dass der Gnom in der Weltenbibliothek gewusst hat, dass er dir eine Muse rufen muss.“
„Du hast recht“, entgegnete Arrow verwundert. „Dort habe ich ihn zum ersten Mal gesehen. Es war, nachdem ich etwas gelesen hatte, das mich so sehr fesselte, dass es meine eigene Fantasie anregte. Plötzlich war ich Feuer und Flamme dafür. Ja, diese Redewendung trifft es außerordentlich gut, denn es hat sogar eine Kerze gebrannt, die eigentlich gar nicht hätte brennen dürfen.“
„Ein Indiz dafür, dass du die Aufmerksamkeit einer Muse geweckt hast“, erwiderte Harold unbeeindruckt. „Kerzen brennen, ohne angezündet zu werden. Spieluhren geben ihre Melodien wieder, ohne, dass sie jemand aufgezogen hat. Und Rosen blühen, obwohl sie einen Augenblick zuvor noch nicht einmal eine einzige Knospe getragen haben.“
„Dann war es also kein Zufall. Aber die Kerzen standen überall ... Im Nachhinein betrachtet hatte das vermutlich auch einen Grund.“
Harold nickte. „Es ist nicht immer ganz ungefährlich, jemanden im Haus zu haben, der von einer Muse begleitet wird. Die Kerzen machen es dem Gnom leichter, so jemanden zu erkennen.“
„Woher weißt du das alles? Und warum hast du eigentlich nicht erzählt, dass du ihn sehen kannst?“
Resignierend nahm Harold neben Arrow Platz. „Weil Anne und die Anderen dich dann niemals hätten gehen lassen. Sie hätten William unschädlich gemacht und ohne ihn hättest du niemals das Tor zur Unterwelt durchschreiten können. Er ist ein Teil des Schlüssels und außerdem ein Wesen, das zwischen den Welten wandeln kann.“
„Aber wenn die Anderen keine Ahnung über Williams Anwesenheit hatten, wie konntest du ihn dann bemerken? Und woher weißt du all diese Dinge über Musen?“
Ein Schrecken schlich über Harolds Gesicht. Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte es versteinert – als wäre nur sein Körper anwesend, und der Rest seinerselbst würde an einem fernen Ort verweilen. „Weil ich selbst eine bin“, entgegnete er mit gequälter Miene.
Arrows Gesichtszüge entglitten. Fassungslos musterte sie ihn, doch der ersehnte Hinweis, dass es sich bei dieser Bemerkung um einen Scherz handeln könnte, blieb aus.
„Arrow?“, ertönte es unweit entfernt.
Als sie sich umsah, erblickte sie William, der zusammen mit dem Fenriswolf auf sie zugelaufen kam. Erschrocken fuhr sie hoch und nur wenige Augenblicke später fiel William ihr um den Hals.
„Ich habe mir solche Sorgen gemacht“, hauchte er ihr erleichtert zu. „Anfangs hatte ich geglaubt, sie abgehängt zu haben, doch als ich bemerkte, dass mir nur ein Teil der Wachen gefolgt war, hatte ich dich schon lange hinter mir gelassen.“
Er hielt Arrow fest umschlungen und gab ihr immer wieder liebevolle Küsse auf den Kopf. Dabei bemerkte er die skeptischen Blicke nicht, die Arrow Harold zuwarf.
„Aber es ist ja nichts passiert“, erwiderte sie beschwichtigend. „Dank Harolds Hilfe habe ich sie abschütteln können.“
„Dann ist ja gut. Ich hatte schon mit dem Schlimmsten gerechnet“, entgegnete er, löste sich aus der Umarmung und streckte ihr seine Hand entgegen. „Komm jetzt. Wir müssen weiter. Es wird bestimmt nicht lange dauern, bis die Wache neue Späher ausschickt. Ab jetzt wird die Reise schwieriger.“
Harold musterte William misstrauisch, während dieser ihn keines Blickes würdigte. Dann löste sich der alte Mann aus seiner Haltung und schritt grimmig an ihnen vorbei.
„Wo willst du hin?“, fragte Arrow verwundert.
„Er hat Recht“, erwiderte Harold schnippisch, während er weiterging. „Wir sollten gehen.“
Völlig perplex von dieser unterkühlten Atmosphäre löste Arrow ihre Hand von Williams und ging an die Seite des Fenriswolfes, der sie liebevoll mit der Schnauze anstupste.
Schweigsam setzten sie ihren Weg fort. Erfolglos versuchte Arrow, beiden Männern aus dem Weg zu gehen. Am liebsten wäre sie auf den Fenriswolf gesprungen und mit ihm in großen Sprüngen davon geritten. Doch Weglaufen hätte die ganze Sache vermutlich auch nicht einfacher gemacht. Ohne jemanden, der sie führte, wäre sie aufgeschmissen gewesen und so blieb ihr nur abzuwarten.
Immer und immer wieder schossen Arrow die Gedanken durch den Kopf. Sie dachte nicht nur über Harolds Worte nach, sondern überlegte auch, ob sie William vielleicht schon vor ihrer Reise zur Weltenbibliothek getroffen haben könnte. Immerhin hatte er zu ihr gesagt, dass sie sich schon ihr ganzes Leben kennen würden, und er verhielt sich auch so. Spielte ihr der Aufenthalt in der Unterwelt möglicherweise einen Streich? War sie schon im Begriff, Dinge zu vergessen, oder hatte er sie angelogen?
Einige Stunden später legten sie eine Pause ein. Williams Aussage nach war es bis zu Hels Reich nicht mehr sehr weit und Arrow sollte sich schonen. Dieser Aufforderung kam sie nur allzu gern nach, denn zu ihren drückenden Kopfschmerzen hatten sich zwischenzeitlich auch noch schmerzende Füße gesellt.
William bot Arrow einen Schluck Wasser an, und während sie die Flasche schon angesetzt hatte, murrte Harold sie böse an.
„Nicht trinken! Hast du schon vergessen, was Sally dir über die Speisen der Unterwelt gesagt hat?“
Gerade noch rechtzeitig setzte sie das Gefäß wieder ab. „Ich dachte nicht, dass das auch für Wasser gilt.“
„Wasser ist auch Nahrung, zwar flüssig, aber zum Leben benötigst du es dennoch!“
„Stimmt das?“, fragte sie William skeptisch.
Er schenkte ihr ein betörendes Lächeln und entgegnete ganz unschuldig: „Was meinst du?“
„Könnte mir dieses Wasser hier schaden?“
„Wie kommst du denn auf die Idee? Und was bringt dich zu der Annahme, dass ich dir absichtlich Schaden zufügen könnte?“
Arrow erwiderte nichts. Innerlich rang sie mit sich selbst. William war immer so höflich und zuvorkommend. Ohne ihn wäre diese ganze Reise niemals möglich gewesen. Doch inzwischen hatte sich das Blatt gewendet. Im Grunde hatte er Arrow bisher nicht den kleinsten Anlass gegeben, um das aufkeimende Misstrauen ihn betreffend rechtfertigen zu können. Wenn Harold allerdings Recht behielt, könnte jede weitere Unbesonnenheit William gegenüber verheerende Folgen haben. Aber was, wenn all diese Anschuldigungen in diesem Fall nicht zutrafen? Wenn Arrow ihm Unrecht tat und sie eigentlich gar nicht sein Opfer war? Dann bliebe trotzdem noch immer die Frage, warum er sie aufgesucht und sie auf ihrem Weg so sehr unterstützt hatte. Auf den ersten Blick schien William der perfekte Begleiter für eine solche Reise zu sein, doch plötzlich warf alles ein ganz anderes Licht auf ihn. Was steckte dahinter? Alles im Leben hatte einen Sinn. Es spielte niemals so, dass irgendjemand dringend Hilfe benötigte und einfach so eine Person aus dem Nichts auftauchte und dieses Jemanden Probleme ohne irgendeine Art von Gegenleistung löste. So etwas gehörte einfach nicht zum Lauf der Dinge. Irgendetwas musste einfach hinter seiner Hilfsbereitschaft stecken.
„Lass ihn“, sagte Harold, der Arrows Gedanken offenbar ihren Augen ablesen konnte. „Könnte gut sein, dass er gar nicht weiß, welche Folgen diese Speisen für dich haben. Oder er weiß es doch und es ist ihm einfach nur egal.“
Arrow warf Harold einen fragenden Blick zu.
„Auf ihn trifft diese Regel nicht zu“, beantwortete Harold ihre stumme Frage. „Eine Muse ist ein Wesen, das zwischen den Welten wandelt. Anderen Wesen, die irgendwann sterben, wie Menschen zum Beispiel, ist es nicht gestattet, zwischen dem Reich der Toten und der Welt der Lebenden hin und her zu springen. Für sie gelten klare Regeln – entweder das Eine oder das Andere. Haben sie sich erst einmal an den Gaben der Unterwelt bereichert, gibt es kein Zurück.“
Nur zögerlich ließ Arrow ihren skeptischen Blick wieder zu William schweifen. Er machte einen besorgten und zugleich gekränkten Eindruck. Ihr Kopf sagte ihr ganz deutlich, dass Vorsicht unter allen Umständen angebracht war. Aber ihr Herz redete ihr Schuldgefühle ein. Sie schien William verletzt zu haben, und das tat ihr sehr leid.
„Entschuldige bitte“, sagte Arrow niedergeschlagen.
William lächelte. „Schon in Ordnung. Du solltest dich jetzt wirklich ausruhen.“
„Ich könnte einen Schluck von dem Wasser vertragen“, warf Harold ein. „Mir schadet es nicht.“
Doch ohne darauf einzugehen, verschloss William die Flasche und ließ sich wenige Schritte weiter am nächstgelegenen Baum nieder.
Wie vor den Kopf gestoßen zückte Arrow ihre eigene Wasserflasche und reichte sie Harold. Dankend nahm dieser das Gefäß an und erhob sich. „Entschuldige bitte“, sagte er zu Arrow. „Ich brauche ein paar Minuten für mich.“ Dann wandte er sich ab und ging davon.
„Sag mal, kannst du mir verraten, was das gerade sollte?“, fuhr sie William an.
„Sprichst du mit mir?“, fragte William völlig perplex.
„Mit wem sollte ich denn sonst reden?“
William schmunzelte. „Keine Ahnung. Ein bisschen komisch kommst du mir schon vor.“
„Das ist nicht lustig“, gab Arrow , zurück. „Ich finde dein Benehmen nicht gut!“
„Aber welches Benehmen denn?“
„Na dein Benehmen Harold gegenüber!“
„Du nennst den Fenriswolf Harold?“, kicherte William amüsiert. „Ein ziemlich tölpelhafter Name für solch ein anmutiges Geschöpf, findest du nicht?“
„Du weißt genau, dass ich nicht von dem Wolf spreche.“
Williams Lächeln erstarb. Verständnislos, als wäre er sich keiner Schuld bewusst, musterte er sie. „Wenn ich dich verletzt habe, so tut es mir wirklich von ganzem Herzen leid. Trotzdem weiß ich einfach nicht, was du mir zur Last legst.“
„Ach nein?“, fragte Arrow schnippisch. „Dann erkläre mir doch bitte, womit du dein Verhalten Harold gegenüber rechtfertigst! Ich meine, es wäre eine andere Sache, wenn ich ihn so herablassend behandle. Immerhin hatten wir unsere Differenzen. Aber ich tue es trotzdem nicht. In einer solchen Situation wie dieser hier gehört sich das einfach nicht. Außerdem kennst du ihn ja nicht einmal und hattest bisher trotzdem kein einziges gutes Wort für ihn übrig.“
„Von wem zum Teufel redest du?“, fragte William.
Arrow entglitten die Gesichtszüge. Hatte er ihr tatsächlich gerade diese Frage gestellt? Innerlich brodelte sie wie ein Vulkan. Einzig die Erschöpfung hielt sie davon ab, auf William loszugehen.
„Na von Harold!“, fuhr sie ihn an. „Der alte klapprige Mann, der mich vor den Riesen gerettet hat und uns seither begleitet!“
„Arrow“, redete William sanft auf sie ein, „uns hat niemand begleitet. Es gibt hier nur uns beide und den Fenriswolf. Alles andere ist nicht real.“
Alles in ihr verkrampfte sich. Es fühlte sich an, als würde ihr jemand die Kehle zuschnüren, und sie konnte nichts weiter tun, als es zuzulassen.
Konnte sie sich denn plötzlich auf gar nichts mehr verlassen? Nicht einmal mehr auf sich selbst? War plötzlich alles nur noch ein Spiel auf Zeit? Und drohte sie etwa vor ihrem Tode noch dem Wahnsinn zu verfallen?
Ohne auch nur ein einziges Wort erwidern zu können, ließ Arrow sich wie in Trance zu Boden sinken. Noch vor wenigen Augenblicken wäre ihr Kopf vor lauter Gedanken beinahe geplatzt. Jetzt war er plötzlich leer. Nichts regte sich mehr, weder Überlegungen noch Erinnerungen. Alles war wie weggeblasen, und sie fiel in einen tiefen Schlaf.