Johann-Baptist von Spaur, Polizeipräsident von Venedig und Liebhaber von Innereien, hob den Kopf von seiner fegato alla veneziana und sagte feierlich: «Heute sind die neuen Zahlen aus Graz, Salzburg und Triest gekommen.»
Wie immer während des Karnevals war der Speisesaal des Danieli-Hotels zur Mittagszeit brechend voll. Tron registrierte eine Melange aus Engländern, Franzosen und Deutschen, dazu die übliche Beimischung kaiserlicher Offiziere, die zum Ärger der Hotelleitung per Unterbringungsschein logierten. Drei von ihnen, zwei Rittmeister der Honved-Husaren und ein Leutnant der Linzer Dragoner, saßen am Nebentisch. In ihren bunten, goldbetressten Uniformen kamen sie Tron wie Zirkusartisten vor, Dompteure von singenden Pferden und tanzenden Seehunden.
Tron hob ebenfalls den Kopf von seinem Teller. «Und wie sieht es aus?»
«Venedig führt», sagte Spaur zufrieden. «Wir haben sogar noch Luft.»
«Was heißt das?»
«Dass wir mit drei Punkten vorne liegen. Und wir sind jetzt mehr oder weniger in der Schlussrunde. Zwei Morde könnten wir noch verkraften. Bei drei Morden müssen wir uns den Platz mit Salzburg teilen.» Spaur wischte sich den Mund ab und trank einen Schluck von seinem Barolo. «Was ich aber nicht sehe. Die Frist läuft am Monatsende aus, und die Karnevalszeit war bei uns immer friedlich.»
Die Karnevalszeit immer friedlich? Das hatte Tron anders in Erinnerung, aber er hielt es nicht für sinnvoll, dem Polizeipräsidenten zu widersprechen. «Dann steht der Ehrung ja nichts entgegen.»
«Sie dürfen mir bereits gratulieren», sagte Spaur. «Und sich selbst ebenfalls. Immerhin hatten Sie auch Ihren Anteil an diesem Erfolg.» Der Polizeipräsident beugte sich lächelnd über den Tisch. «Schmeckt es Ihnen? Sind Sie zufrieden mit den Kochkünsten von Monsieur Dupont?»
Tron war kein Freund von Innereien, aber er musste zugeben, dass diese fegato alla veneziana schmackhafter war als die Kutteln in allen nationalen Varianten, mit denen Spaur ihn bereits traktiert hatte. Die Leber auf seinem Teller war zart, ohne eine gewisse Festigkeit vermissen zu lassen. Und sie hatte einen delikaten Beigeschmack, wie nur französische Spitzenköche ihn erzeugen können. Keine Frage, der neue Chef des Danieli, ein Monsieur Dupont aus Lyon, wurde dem Ruf, der ihm vorausgeeilt war, gerecht.
Tron hob sein Glas. «Ausgezeichnet, Baron. Dann gestatten Sie mir, Ihnen zu gratulieren.»
Auf Spaurs gerötetem Gesicht breitete sich ein stolzes Lächeln aus. «Polizeipräsident des Jahres!» Er nahm einen Schluck von seinem Barolo und sah Tron an. «Wussten Sie, dass es sich dabei um eine persönliche Initiative des Kaisers handelt?»
Tron schüttelte den Kopf.
«Franz Joseph steht auf dem Standpunkt, dass die Zahl der Gewaltverbrechen einen präzisen Aufschluss über die Effektivität der Polizeiarbeit gibt», sagte Spaur. «Wenn die Leute wissen, dass sie erwischt werden, halten sie sich zurück.»
Tron nickte. «Sodass schwere Gewaltverbrechen eher selten vorkommen. Das leuchtet ein.» Er setzte ein verbindliches Lächeln auf. «Jedenfalls wird die Baronin stolz sein.»
«Violetta», sagte Spaur, «nimmt großen Anteil an meiner Arbeit.» Seine Augen bekamen einen träumerischen Ausdruck. «Und aus dieser Ehrung könnte sich eine Einladung in die Hofburg ergeben.» Spaur setzte sich aufrecht hin und ordnete seine Serviette, als wäre sie eine Frackschleife. «Die Baronin würde einer solchen Aufforderung gerne folgen.»
«Eine Einladung nach Wien?»
«Die Hofburg befindet sich seit mehr als fünfhundert Jahren in Wien», sagte Spaur ungeduldig. «Im Übrigen», fuhr er in verbindlichem Gesprächston fort, «hat sich die Baronin über Ihre Einladung zum Maskenball sehr gefreut und Ihrer Frau Mutter bereits geantwortet.»
Das hatte die Baronin Spaur in der Tat. Auf fliederfarbenem, goldumrandetem Büttenpapier, auf dem das Löwenwappen der Spaurs prangte. Die Contessa Tron hatte anerkennend mit dem Kopf genickt.
Der Polizeipräsident sah Tron gespannt an. «Werden wir den Comte de Chambord auf Ihrem Ball sehen?»
«Seine Durchlaucht hat zugesagt.»
«Das wird die Baronin freuen», sagte Spaur. «Vielleicht trägt sich der Comte auf ihrer Tanzkarte ein.» Er schloss die Augen und summte ein paar Walzertakte. «Vielleicht werden wir dann in den Palazzo Cavalli eingeladen.»
«Die Chambords empfangen nur alle zwei Monate.»
«Ich weiß. Und der Gästekreis ist äußerst exklusiv. Das ist es ja, was die Baronin reizt.» Die Miene des Polizeipräsidenten verdüsterte sich. «Sie fühlt sich gesellschaftlich immer noch nicht akzeptiert. Als wäre es eine Schande, im Malibran auf der Bühne gestanden zu haben. Violetta hat eine große Karriere für mich aufgegeben. Sie war der aufgehende Stern am italienischen Theaterhimmel.»
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Tron fragte sich, ob Spaur es selbst glaubte. Signorina Violetta war zu keinem Zeitpunkt ein aufgehender Stern am italienischen Theaterhimmel gewesen, eher ein Glühwürmchen, das immer Gefahr lief, unbemerkt im Meer der Komparsen zu verlöschen. Allerdings — das musste Tron zugeben — ein durchaus attraktives Glühwürmchen. Und eine energische junge Frau, die entschlossen war, sich einen Platz in der Gesellschaft zu erobern.
«Jedenfalls», fuhr Spaur fort, «hat die Baronin gestern entschieden, welche Kostüme wir auf dem Maskenball der Contessa tragen werden.» Er beugte sich über den Tisch und senkte die Stimme zu einem Flüstern. «Wir werden ein bekanntes Paar aus der römischen Geschichte darstellen.»
«Und welches?»
Spaur machte ein verlegenes Gesicht. «Das hat mir die Baronin noch nicht verraten. Violetta ist manchmal so ...»
Der Polizeipräsident brach den Satz ab, hob den Kopf, und seine Augen nahmen einen erstaunten Ausdruck an. Als Tron sich umdrehte, sah er, dass Sergeant Kranzler, Spaurs Adlatus, an den Tisch getreten war. In der Hand hielt er einen Umschlag im Kanzleiformat, den er an Trons Schultern vorbei über den Tisch reichte. Spaur öffnete das Kuvert mit einem Dessertmesser und zog einen eng beschriebenen Bogen heraus. Er begann zu lesen, mit jedem Satz vertieften sich die Furchen zwischen seinen Augenbrauen. Schließlich blickte er auf. «Stumm von Bordwehr. Kommt Ihnen der Name bekannt vor?»
«Den Namen hat uns der Mann genannt, der gestern auf der Questura ausfällig wurde», sagte Tron. «Ich bezweifle, dass er tatsächlich so heißt.»
«Der Name stimmt. Und das, wofür er sich ausgegeben hat, trifft ebenfalls zu.»
«Der Bursche hat steif und fest behauptet, ein kaiserlicher Offizier zu sein.»
Spaur schloss gequält die Augen. «Er ist ein kaiserlicher Offizier, Commissario. Und zwar ein Oberst aus dem Hauptquartier in Verona, der sich seit ein paar Monaten dienstlich in Venedig aufhält. Übrigens», fügte er noch hinzu, «sind wir miteinander bekannt.»
«Gut bekannt?»
Spaur schüttelte den Kopf. «Wir haben uns jahrelang nicht mehr gesehen. Ich war damals sein Vorgesetzter im Dragonerregiment Maria Isabella in Wien. Stumm war Fähnrich bei uns.» Spaurs Mundwinkel zogen sich nach unten. «Ich musste ihn einmal wegen einer Frauengeschichte in Arrest nehmen.»
«Was ist passiert?»
«Er hatte Ärger mit einer Dame aus dem Dritten Bezirk. Angeblich hat sie versucht, ihm seine Brieftasche zu stehlen. Worauf Stumm ...» Spaur hielt inne und machte ein unschlüssiges Gesicht. «Die Sache», fuhr er schließlich fort, «ist nie aufgeklärt worden. Es stand Aussage gegen Aussage. Jedenfalls sah die Frau ziemlich übel aus. Stumm hat behauptet, dass ihr Zuhälter sie so zugerichtet hat.»
«Weshalb ist er in Arrest gewesen?»
«Weil er den Zuhälter der Frau verprügelt hat», sagte Spaur. «Dafür gab es Zeugen. Ansonsten konnte er sich damals aus allem rausreden. Stumm ist eiskalt, aber ...» Der Polizeipräsident dachte einen Moment nach. Dann sagte er: «Unter seiner polierten Oberfläche brodelt es.»
Tron deutete auf den Umschlag neben Spaurs Teller. «Woher stammt diese Nachricht?»
«Aus dem Büro des Stadtkommandanten. Stumm hat einen Mithäftling, der heute Morgen entlassen wurde, auf die Kommandantura geschickt. Eine Stunde später ist ein Leutnant mit zwei Sergeanten auf der Questura aufgetaucht und hat ihn abgeholt.»
«Und was geschieht jetzt?»
«Die Militärpolizei wird den Fall untersuchen», sagte Spaur. «Vermutlich wird man gegen Sie ermitteln.»
«Weswegen?»
Spaur leierte die möglichen Anklagepunkte herunter wie ein Kellner die Gerichte auf einer Speisekarte. «Körperverletzung im Amt. Kompetenzüberschreitung von Zivilbehörden. Verschwörung gegen die kaiserlichen Streitkräfte. Freiheitsberaubung. Unterstützung subversiver Aktivitäten.»
«Dann wird man mir auch erklären müssen, warum der Oberst in Zivil war und sich nicht ausweisen konnte.»
«Man wird Ihnen gar nichts erklären müssen», sagte Spaur. «Das kaiserliche Militär ist uns keine Erklärungen schuldig.»
«Der Mann hat in betrunkenem Zustand einen Mordversuch unternommen. Direkt unter dem Bild des Kaisers. Und er hat einen kaiserlichen Beamten bedroht. Wir mussten ihn aus dem Verkehr ziehen.»
Spaur hob die Augen zur Decke. «Dieser letzte Fußtritt auf die Nase, als der Mann bereits vor Ihnen auf dem Boden lag - war der wirklich nötig?»
Würde Spaur verstehen, dass dieser Tritt aus künstlerischen Gründen erfolgt war? Nein, dachte Tron, wahrscheinlich nicht. Er sagte: «Der Bursche wollte nach seinem Messer greifen. Es war reine Notwehr.»
Spaur seufzte. «Dass man die ganze Angelegenheit politisch deuten wird, ist Ihnen klar, oder?»
«Jeder weiß, dass ich mit Politik nichts am Hut habe.»
«Vielleicht hier in Venedig», sagte Spaur. «Die Hofstelle in Wien, die für die Auszeichnung zuständig ist, weiß es nicht.»
«Was hat die Auszeichnung mit diesem Zwischenfall zu tun?»
Wieder blickte Spaur zur Decke. «Zu dieser Auszeichnung gehört auch eine politische Bewertung der Polizeibehörde. Und dem Stadtkommandanten», fuhr er fort, «ist meine Favoritenrolle ohnehin ein Dorn im Auge.»
«Was kann Toggenburg machen?»
«Einfluss auf die Ermittlungen gegen Sie nehmen», sagte Spaur. «Und einen entsprechenden Bericht nach Wien schicken. Behaupten, dass Sie einen kaiserlichen Offizier misshandelt haben. In aller Öffentlichkeit auf der Questura. Unter dem Bild des Kaisers.»
«Das wäre fatal.»
Spaur nickte. «Allerdings. Und deshalb darf bis zum Ende des Monats nichts passieren. Sonst kann ich die Ehrung abschreiben.» Der Mund des Polizeipräsidenten zog sich stramm wie ein Heftpflaster. «Was der Baronin nicht gefallen würde.»