Bemerkenswert, dachte er, wie souverän sein Organismus auf den Schock reagiert hatte, den er eben verarbeiten musste — kein verräterisches Erbleichen, kein plötzliches Zittern der Hände, nur eine leichte Anwandlung von Flauheit im Magen. Als er vor dem Buffet stand, eine Schale Zitronensorbet in der Hand, war aus heiterem Himmel der Commissario neben ihm aufgetaucht. Der Conte hatte bei seinem Anblick gestutzt, und seine Miene hatte sich schlagartig verdüstert. Dann konnte er förmlich sehen, wie Tron die Maske des kultivierten Gastgebers vom Gesicht rutschte und auf einmal reine Mordlust in seinen Augen stand - ein Anblick zum Fürchten. Doch ein paar Sekunden später hatte sich der Commissario kühl verbeugt und war ohne ein Wort aus dem Zimmer verschwunden.
Ein Irrer, dachte er, indem er einen erleichterten Seufzer ausstieß. Vermutlich, dachte er weiter, musste man in diesem Beruf irgendwann verrückt werden. Mit kleinen Verschrobenheiten begann es, dann kamen die verstörten Blicke, verbale Ausfälle folgten, schließlich unmotiviertes Werfen mit Tassen und Tellern — bis der Familie am Ende nichts anderes übrig blieb, als für eine geschlossene Unterbringung zu sorgen. Und so, wie die Dinge lagen, war leider davon auszugehen, dass dem armen Schwein die Ereignisse dieses Abends den Rest geben würden.
Dass er selbst unter diesen Umständen keinen Appetit mehr auf das kalte Zitronenzeugs hatte, war nur verständlich. Er stellte die Schale, aus der er sich kaum bedient hatte, angewidert auf das Buffet zurück. Ohnehin verstand er nicht, was ihn dazu bewogen hatte, sich diese gelbe Pampe auf den Teller zu schaufeln. Halbgefrorenes hatte er schon immer verabscheut.
Sich dem Burschen, nachdem er ihn entdeckt hatte, an die Fersen zu heften, war nicht erforderlich gewesen. Die wenigsten Gäste trugen einen frac, und er würde seinen Mann mühelos wiederfinden. Auch dass der Mann den Ball vorzeitig verließ, war nicht zu befürchten. Er würde auf keinen Fall versäumen, sich nach Mitternacht, dann selbstverständlich demaskiert, der Gastgeberin zu präsentieren, um die Glückwünsche seiner Organisation zu übermitteln. Schließlich bestand der Sinn dieses Besuches darin — wie sagte man in diesen Kreisen? —, Flagge zu zeigen.
Als er den Ballsaal wieder betrat, war gerade ein Walzer zu Ende gegangen. Die Paare standen noch einen Moment lang applaudierend auf der Tanzfläche, bevor sie sich erhitzt zu den Sitzgelegenheiten an den Wänden der sala begaben. Seinen Mann brauchte er nicht lange zu suchen. Der hatte ebenfalls getanzt und kam jetzt zusammen mit seiner Tanzpartnerin von der Tanzfläche. Genau gesagt, kam er nicht, sondern er torkelte wie ein Betrunkener, denn der Walzer schien ihm übel mitgespielt zu haben. Was durchaus verständlich war, denn bei seiner Tanzpartnerin handelte es sich um niemand anders als um die ägyptische Königin höchstpersönlich. Im Gegensatz zu ihrem Tanzpartner schien die Tochter Atons den Walzer genossen zu haben. Zwar war ihr Kuhgehörn verrutscht, ihre Falkenfedern zerzaust und die goldene Sonnenscheibe verloren gegangen, aber das alles schien die Kleopatra nicht zu kümmern. Sie lachte dröhnend und schlug ihrem Tanzpartner kameradschaftlich auf die Schulter — so kräftig, dass diesem die Zunge aus dem Mund schnellte und sein Kopf in den Nacken geschleudert wurde.
Da niemand, der seine Sinne beisammenhatte, sich freiwillig eine solche Tanzpartnerin aussuchte, war zu vermuten, dass sich hinter der Maske dieser bizarren Kleopatra irgendein hohes Tier verbarg. Handelte es sich um Generalleutnant Toggenburg, den Stadtkommandanten? Oder gar um einen exzentrischen Erzherzog, einen Bruder des Allerhöchsten? Auszuschließen war dies nicht. Glaubte man den Gerüchten, dann gab es enge Verbindungen zwischen den Trons und der kaiserlichen Familie. Angeblich hatte sogar Kaiserin Elisabeth einmal höchstpersönlich einen Ball der Trons besucht.
Er schritt an der Längsseite der sala entlang, drängte sich durch knisternde Seidenroben, kam an erblindeten Spiegeln und vergoldeten Kandelabern vorbei, aus denen das Wachs der Kerzen herabtropfte.Vor einem der Fenster zum Canalazzo, ein Glas Conegliano in der Hand, in das er hin und wieder eine terrakottafarbene Makrone tunkte, blieb er stehen und sah sich um. Ohne Überraschung stellte er fest, dass dieses Fest sich wenig von den Maskenbällen unterschied, wie er sie in den billigen Spelunken der Stadt kennengelernt hatte. Gewiss - der Rahmen war opulenter, die Kostümierungen kostspieliger, und an den Wänden der sala hingen Porträts von Dogen und Prokuratoren von San Marco. Aber hinter der hochherrschaftlichen Fassade, den klingenden Namen, herrschte dieselbe brünstige Lüsternheit wie in den verrauchten Spelunken. Auch im Ballsaal des Palazzo Tron wurde gegrapscht und getatscht, was das Zeug hielt, und es wurden dieselben anzüglichen Reden gehalten — wie jetzt in der Tanzpause, als die Herren hinter ihren Masken, in denen die Augen wie Quecksilberpunkte blitzten, nach neuen Tanzpartnerinnen suchten. Dass er selbst bisher noch nicht zum Tanz aufgefordert worden war, kränkte ihn ein wenig, doch zugleich begrüßte er es. Denn allzu viel männliche Aufmerksamkeit und die Notwendigkeit, sie unter diesen Umständen höflich abzuwehren, hätten zweifellos die Konzentration auf seine eigentliche Aufgabe behindert.
Der Mann, dessen Lebensspanne, ohne dass er selbst es wusste, jetzt rapide ihrem Ende entgegeneilte, hatte sich ganz in seiner Nähe auf einem Fauteuil niedergelassen. In der rechten Hand hielt er ein Likörglas, die linke hing kraftlos und leicht zuckend von der Lehne herab. Mit seinem in den Nacken geworfenen Kopf und seinem blöde aufstehenden Mund bot er das Bild einer Person, die eben der Schlagfluss getroffen hat. Ein paar Augenblicke lang war er davon überzeugt, dass der Bursche tatsächlich einem Gehirnschlag erlegen war und dass ihm die bizarre Kleopatra die grausame Arbeit abgenommen hatte. Doch dann belebte sich der Mann wieder. Er bog den Kopf nach vorne, die Kiefer klappten zusammen, und die Augen schienen sich unter der Maske wieder zu öffnen. Er erhob sich mühsam, nahm einen weiteren Likör vom Tablett eines Mohren, den er herbeigewinkt hatte. Schließlich bezog er eine etwas schwankende Stellung neben dem Sessel, auf dessen Lehne er sich mit der linken Hand stützte. Fast, aber auch nur fast, tat ihm der Bursche leid.
Und plötzlich wusste er, wie er seine heikle Aufgabe lösen konnte. Verharrte der Mann noch ein paar Minuten in seiner gegenwärtigen Position, würde es kein Problem sein, hinter ihn zu treten, ohne dass er selbst jemanden im Rücken hatte. Der Sessel, auf den der Bursche sich stützte, war einer von vieren, die rechts vom Orchesterpodium und parallel in etwa einem Schritt Abstand zur Fensterfront der sala standen — sodass sich dahinter ein schmaler Gang ergab, den man betreten konnte, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Auf zwei der vier Fauteuils saßen grauhaarige Damen, beide mit Vogelmasken und in ein lebhaftes Gespräch vertieft. Auf dem Sessel direkt neben dem Mann war ein dicker Napoleon gestrandet, dessen Kopf auf die Brust gesackt war. Entweder schlief der Korse, oder er war betrunken. Dass er sich in seiner Verfassung als störend erweisen würde, war äußerst unwahrscheinlich. Er stellte das Champagnerglas auf einen Konsoltisch und drängte sich langsam zum Anfang des Ganges hinter den Sesseln. Dort, mit dem Rücken zum Canalazzo und hinter einer der beiden grauhaarigen Damen, die immer noch lebhaft miteinander plauderten, blieb er kurz stehen.
Die Musik hatte erneut eingesetzt, und wieder hatten sich die Gäste paarweise auf die Tanzfläche begeben. Das Orchester spielte jetzt Unter Donner und Blitz, eine prestissimo und mit häufigem Einsatz von Becken und Pauke vorgetragene Polka. Wie bei schnellen Polkas üblich, stießen auch hier die Paare lachend zusammen, kamen ins Straucheln, taumelten und fingen sich wieder. Die sala, vor zwei Stunden noch, als der Commissario und die Contessa Tron den Aimable Vainqueur getanzt hatten, eine Stätte gesitteter Abendunterhaltung, hatte sich in eine wilde Menagerie verwandelt, in der sich das Kreischen der Damen und das Gelächter der Herren mit dem forte des Orchesters zu einem infernalischen Getöse verbanden.
Es lief, kurz gesagt, alles perfekt für ihn. Er war in dem schmalen Gang hinter den Sesseln bis zum Orchesterpodium geschritten und stand jetzt unmittelbar hinter dem Mann. Der hatte seine Position nicht verändert und stützte sich immer noch, mit deutlicher Schlagseite, auf die Lehne des Sessels. Ein kurzer Blick in die sala überzeugte ihn davon, dass alle Augen auf die Tanzfläche gerichtet waren. Er atmete tief durch und öffnete seine Tasche. Dann zog er vorsichtig das Stilett heraus und beugte sich ein wenig aus der Hüfte nach hinten, wobei er einen leichten Luftzug spürte, der durch die schlecht schließenden Fenster in die
sala drang. Mit dem rechten Arm holte er langsam aus, atmete zum zweiten Mal tief durch und stieß die Klinge mit aller Kraft in die Seite des Mannes — dorthin, wo sich das Herz befand.
Den Bruchteil einer Sekunde später wurde ihm klar, dass seine Attacke gescheitert war. Anstatt den Frack des Mannes mühelos zu durchdringen, war das Stilett auf einen Widerstand gestoßen. Der Bursche kippte nach vorne, richtete sich dann aber wie ein halb gestrauchelter Polkatänzer wieder auf und drehte sich zu seinem Angreifer um, indem er einen erstaunlich hohen und unmilitärischen Schrei ausstieß. Er machte einen schnellen Schritt an dem Sessel vorbei nach vorne und zog den Mann, ihn an der Hüfte packend, mit der linken Hand an sich. Dabei wirbelte er um die eigene Achse, verlor das Gleichgewicht und stürzte, den Arm immer noch um die Hüfte des Mannes geschlungen, krachend auf den Fauteuil. Dort fand er sich in höchst lächerlicher Position wieder: Der Mann saß auf seinem Schoß, sein Kopf lehnte an seiner Schulter, und jetzt konnte er die Fischbeine des Korsetts spüren, die dem Mann das Leben gerettet hatten. Der Bursche keuchte laut, seine Maske war herabgerutscht. Aus seiner linken Seite sickerte warmes Blut herab. Die Musik war abrupt abgebrochen, und vor dem Sessel hatten sich, halbkreisförmig aufgestellt, Gaffer eingefunden, die mit ihren vom Tanz erhitzten Gesichtern auf ihn herabglotzten. Immerhin hatte er Geistesgegenwart genug, dem Oberst das Stilett an die Kehle zu setzen.