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Vermutlich wäre er mit seinem Aussehen zufrieden gewesen, wenn er sich denn dafür interessiert und gewusst hätte, was das ist — Aussehen. Er hatte braune, treublickende Augen, einen wohlausgebildeten Brustkorb, prächtige Zähne, muskulöse Gliedmaßen; außerdem einen gewissen Ruf im Viertel. Heute Morgen war er am Wasser entlanggetrottet, wobei er sorgfältig darauf geachtet hatte, den zahlreichen Pfützen auszuweichen. Im Sommer machten sie ihm nichts aus, aber im Winter hasste er nasse Pfoten, und an diesem frühen Morgen war es zudem empfindlich kalt. Natürlich hatte Herrchen sein Missgeschick genau verfolgt: Er war sogar stehengeblieben, um nichts zu verpassen. Herrchens Mundwinkel hatten sich nach oben gezogen, dazu hatte er ein bellendes Geräusch von sich gegeben und mit dem Kopf gewackelt.     

Er stieß ein kurzes, mürrisches Knurren aus. Diese blöde Ratte hatte einfach Glück gehabt. Jetzt stand er mit durchgedrückten Vorderläufen und herabhängendem Schwanz auf der Kaimauer und starrte frustriert auf das Wasser unter ihm. Die Wasseroberfläche hatte sich wieder geschlossen, nur ein paar winzige konzentrische Kreise waren dort zu sehen, wo die Ratte verschwunden war. Sie würde gleich wieder nach oben kommen — die Biester konnten hervorragend schwimmen — und irgendwo an Land klettern, aber er hatte die Lust verloren, sie zu jagen.

Es war eine große graue Ratte mit einem rosa Schwanz, die plötzlich hinter einem Stapel Kisten auf der Kaimauer hervorgeschossen kam. Als sie ihn gesehen hatte, stoppte sie, machte eine Kehrtwendung und versuchte, wieder hinter den Kisten zu verschwinden. Er war in die Luft gesprungen, um mit den Vorderpfoten auf dem Rücken der Ratte zu landen, hatte sie aber nur an der linken Schulter erwischt. Die Ratte hatte sich überschlagen und war gegen den Poller geprallt. Dann war sie laut piepsend auf die Beine gekommen und hatte einen Satz ins Wasser gemacht - aus der Traum! Er hatte es plumpsen gehört und gewusst, dass er diesmal verloren hatte.   

Ein Weilchen saß er regungslos am Rand der Kaimauer und blinzelte in den grauen Himmel über dem Giudecca-Kanal. Dann stieß er ein kurzes Wuff aus, was so viel bedeutete wie: Da kann man halt nichts machen. Schließlich schüttelte er sich, so als wäre er durch die Betrachtung des Wassers nass geworden, und trottete langsam weiter in Richtung Dogana. Sein Ziel war eine kleine Treppe, die kurz vor der Spitze der Dogana zum Wasser herabführte und auf deren Stufen die Flut bisweilen tote Fische trieb. Fische, die sich durchaus noch verspeisen ließen — falls einem die Möwen nicht zuvorkamen.

Als er vor den grünlich schimmernden Stufen angekommen war, hielt er inne und spähte mit gespitzten Ohren neugierig hinab. Volltreffer! Er brach in ein freudiges Bellen aus, und sein Schwanz begann hektisch zu wedeln. Zwischen der untersten Stufe und einem aus dem Wasser ragenden Holzpfahl hatte sich ein großer Fisch verfangen. Er kletterte vorsichtig nach unten und senkte die Schnauze auf den Fisch hinab. Der Teil des Tieres, der aus dem Wasser ragte und auf der untersten Stufe lag, sah aus wie die bleiche, haarlose Pfote, mit der Herrchen ihm hin und wieder den Kopf tätschelte. Allerdings ging von dem Fisch ein eigenartiger Geruch aus, und er schnupperte vorsichtshalber noch einmal. Plötzlich roch er so böse, dass sich seine Nackenhaare sträubten und er automatisch anfing zu knurren.

Er machte einen nervösen Satz die Stufen hinauf und tat etwas, das er fast nie tat, weil es ihm jedes Mal einen Tritt in die Rippen einhandelte. Er setzte sich auf seine Hinterläufe und drehte den Kopf nach oben. Dann öffnete er das Maul, so als wollte er in die Wolkendecke am Himmel beißen, und stieß ein lautes Geheul aus.

*

Die Glocken der Salute hatten gerade zweimal geschlagen, als Tron und Bossi an den Fondamenta degli Incurabili aus der Polizeigondel stiegen. Die Luft war feucht, regengeschwängert und der Himmel über der Stadt mit schiefergrauen Wolken bedeckt. Ein Raddampfer, an dessen Heck eine griechische Flagge wehte, zog eine Schleppe aus weißem Wasser hinter sich her, und Tron fragte sich unwillkürlich, was mit einer treibenden Leiche passierte, wenn sie in die Schaufelräder eines Raddampfers geriet. Sie hatten dort angelegt, wo auch die Leiche angeschwemmt worden war, an der untersten von sieben Stufen, die zu den Fondamenta hinaufführten. Grüne Algen machten die steinerne Treppe glatt wie eine Eisfläche, sodass Tron vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte, um nicht zu stürzen. 

Die Nachricht, dass ein Spaziergänger an den Zattere auf eine Leiche gestoßen war, hatte Tron und Bossi in der Questura erreicht, als sie gerade damit beschäftigt waren, dem Bericht für Spaur den letzten Schliff zu geben. Sie waren darin übereingekommen, dass es am besten wäre, sich auf die Schilderung der Fakten zu beschränken, den Bericht aber zugleich so zu verfassen, dass die Schlussfolgerung für einen aufmerksamen Leser auf der Hand lag: nämlich dass es sich hier nicht um einen Mord, sondern um eine Art Unfall handelte.

Sergente Caruso von der Wache auf der Piazza hatte die Botschaft überbracht, und Tron hatte den Verdacht, dass der ursprüngliche Wortlaut — wie bei einer Flüsterpost — unkontrollierten Veränderungen anheimgefallen war. Ob die Leiche eine Frau oder ein Mann war, war unklar geblieben, ebenso, ob es sich um das Opfer eines Gewaltverbrechens handelte oder lediglich um einen Ertrunkenen. Vorsichtshalber hatte Tron Sergente Caruso zu Dr. Lionardo ins Ognissanti geschickt, und dann waren sie, nachdem Bossi die Ausrüstung für seine Tatortfotografien zusammengestellt hatte, eine halbe Stunde später in einer Polizeigondel aufgebrochen.

Die Leiche lag auf den grauen Steinplatten des Kais, dicht neben der obersten Stufe. Dr. Lionardo, der offenbar sofort aufgebrochen war, als ihn die Nachricht erreicht hatte, war bereits vor Ort. Er kniete neben der Leiche, und als er Tron sah, erhob er sich und nickte stumm.

Bossi nahm in ein paar Metern Entfernung seine Kamera aus dem Holzkasten, wobei er es vermied, einen Blick auf den toten Körper zu werfen. Tron konnte verstehen, dass der Ispettore es vorzog, die Leiche erst durch die Mattscheibe der Kamera zu betrachten, im sicheren Schutz des schwarzen Tuches.

Leichen, die man aus dem Wasser fischte, boten nie einen erfreulichen Anblick, und diese hier machte keine Ausnahme. Jedenfalls handelte es sich, so viel war auf den ersten Blick zu erkennen, um eine Frau. Sie war — bis auf ein schmales goldenes Armband, das man schlecht als Kleidungsstück bezeichnen konnte — vollständig nackt. Das Wasser hatte ihre Haut grau ausgelaugt und den Körper anschwellen lassen, trotzdem wirkte die Frau schlank und zierlich. Nicht zu übersehen waren die Würgemale an ihrem Hals, zwei schwarze, an den Rändern unregelmäßig auslaufende Flecken. Und ebenso wenig konnte man den tiefen Schnitt unterhalb ihres Nabels übersehen, der als dunkelgrauer Riss in der Haut klaffte. Ihre hellen Haare, in denen sich ein wenig Seegras verfangen hatte, umgaben ihren Kopf wie ein Helm. Vom Lagunenwasser war auch ihr Gesicht aufgedunsen, und Nasenflügel, Lippen und Augenlider waren in kleine graue Polster verwandelt. Darüber, dass sie auf eine gewaltsame Art und Weise umgekommen war, konnte kein Zweifel bestehen.

Aber wie lange hatte sie im Wasser getrieben? Welchen Weg hatte ihr Leichnam zurückgelegt? Und wo war sie gestorben? Auf irgendeiner der zahlreichen Inseln, die es in der Lagune gab, oder hier in Venedig? Denkbar war, dass die Ebbe den toten Körper in die offene Lagune gezogen hatte und die Leiche dann, vielleicht erst kurz vor der Punta Sabbioni, von einer Gegenströmung erfasst worden war. Wenn dieses Spiel sich wiederholt hatte, hatte es ein paar Tage dauern können, bevor sich die Leiche schließlich an einem Holzpfahl im Giudecca-Kanal verfangen hatte.

Tron, der neben der Toten in die Knie gegangen war, erhob sich und registrierte, dass selbst Dr. Lionardo, der beim Anblick einer Leiche in der Regel von einer bizarren Heiterkeit erfasst wurde, außergewöhnlich ernst war.

Die Frage war überflüssig, aber Tron stellte sie trotzdem. «Ist sie ertrunken?»

«Sie ist erwürgt worden, und dann hat man ihr die Leber entfernt», sagte Dr. Lionardo.

«So wie ...?»

Der dottore nickte. «So wie bei dem Opfer auf der Gondel. Genauso professionell.»

«War sie gefesselt?»

Tron hatte weder an Hand- noch an Fußgelenken der Toten die charakteristischen länglichen Verfärbungen entdecken können. Ob das kalte Wasser die Blutergüsse getilgt hatte? Nein, das war unwahrscheinlich. Denn dann hätte das Wasser auch die Würgemale am Hals zum Verschwinden gebracht.

Dr. Lionardo schüttelte den Kopf. «Nein, sie ist nicht gefesselt worden.»

«Und wie lange hat die Tote im Wasser getrieben? Was schätzen Sie, dottore?»

Wie immer bei Fragen, die man nicht präzise beantworten konnte, sah Dr. Lionardo Tron an, als hätte der ihm gerade einen unsittlichen Antrag gemacht. «Vielleicht drei oder vier Tage», gab er schließlich zur Antwort.

Tron lächelte schwach. «Wann habe ich den Sektionsbericht?»

«Morgen früh.» Dr. Lionardo bückte sich, griff nach seiner Tasche und wandte sich zum Gehen. «Aber erwarten Sie keine Überraschungen.»

*

«Sie hatten recht, Commissario», sagte Bossi, als sie eine halbe Stunde später wieder in der Gondel saßen. «Grassi war definitiv verrückt. Er war noch verrückter, als wir dachten.»

Zu Füßen des Ispettore stand der Holzkasten mit den geheimnisvollen Gelatine-Trockenplatten und der Kasten mit der Kamera. Das hölzerne Stativ - wieder in seinem Futteral aus Segeltuch - lag auf Bossis Knien und sah aus wie ein Regenschirm, den Tron jetzt gerne über seinem Kopf aufgespannt hätte.

Es hatte angefangen zu nieseln, und der Regen tropfte von der Krempe des Zylinderhutes auf seinen Gehpelz herab. Tron spürte plötzlich einen gewaltigen Appetit. Auf ein Stück Torte! Dick wie eine Familienbibel! Offenbar war ihm der Anblick der Wasserleiche nicht auf den Magen geschlagen.

«Sie haben also keinen Zweifel daran, dass es Grassi war, der diese Frau auf dem Gewissen hat», sagte Tron. Es blieb unklar, ob es sich dabei um eine Feststellung oder um eine Frage handelte.

Bossi schüttelte den Kopf. «Es ist eindeutig Grassis Handschrift.»

Das Wort Handschrift kannte Tron in diesem Zusammenhang nicht, fand es aber anschaulich und passend. Er vermutete, dass Bossi es in einer kriminalistischen Fachzeitschrift aufgeschnappt hatte. «Dann wäre der Fall Ihrer Ansicht nach also klar», sagte er.

Bossi nickte. «Offenbar hat Grassi zwei Morde in kurzer Zeit verübt. Zuerst die Frau, die wir eben gefunden haben, dann Signorina Calatafimi.»

«Der Fall mag vielleicht gelöst sein», sagte Tron, «aber das heißt noch lange nicht, dass er abgeschlossen ist.»

«Wie meinen Sie das?»

«Dass niemand weiß, wie viele Leichen womöglich noch in der Lagune treiben. Mit Würgemalen und einem Schnitt unterhalb des Bauchnabels.»     

«Wollen Sie damit sagen, dass Grassi vor dem Mord auf der Gondel nicht nur eine Frau getötet hat?»

«Denkbar wäre es», sagte Tron. «Mit dieser Leiche haben wir auch nicht gerechnet.»

«Was könnte Grassi für ein Motiv gehabt haben, diese Frau zu töten?»

Tron zuckte die Achseln. «Wir wissen nicht einmal, wer sie ist. Es ist zwar wahrscheinlich, dass es sich um denselben Täter handelt; die Frage ist nur, ob es tatsächlich Grassi war.»

Bossi sah Tron irritiert an. «Wenn es derselbe Täter war, dann war es Grassi, Commissario.»

Tron schüttelte den Kopf. «Sie vergessen, dass es bisher keinen Beweis dafür gibt, dass Grassi Signorina Calatafimi getötet hat. Sein Selbstmord und die anatomischen Blätter an der Wand lassen es nur vermuten.»

Bossi sah Tron erschrocken an. «Das würde bedeuten, dass der Mann vielleicht ...»

«Immer noch frei herumläuft», beendete Tron den Satz.

Der Ispettore fuhr so heftig auf seinem Sitz herum, dass das Futteral mit dem Stativ auf den Boden der Gondel fiel. «Stumm von Bordwehr?»

Tron musste lachen. «Auch das ist eine reine Vermutung, Bossi. Im Moment sollten wir noch davon ausgehen, dass Grassi diese Frau getötet hat.»   

«Was heißt das für unseren Bericht?»

«Nichts», sagte Tron. «Wir buchen diesen Mord hier vorläufig auf das Konto von Grassi. Sie müssen den Bericht also nur ergänzen.»

«Und was machen wir, wenn wir noch eine Leiche finden? Wieder mit aufgeschlitztem Bauch?»

«Dann fügen wir dem Bericht eine zweite Ergänzung hinzu», sagte Tron. «Falls der Todeszeitpunkt nicht nach dem Selbstmord von Grassi liegt.»

Bossi sah Tron mit zusammengekniffenen Augen an. «Und wenn das nicht der Fall sein sollte?»

Tron legte den Kopf in den Nacken und blickte ein paar Möwen nach, die über den regnerischen Himmel flatterten. Er dachte an den Oberst und wusste, dass Bossi auch an ihn dachte. «Dann haben wir ein Problem», sagte er.