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Dass sie das Frühstück — wie es immer hieß — gemeinsam einnahmen, war natürlich ein Witz. In der Regel saßen sie sich in drei Metern Entfernung gegenüber, zwischen ihnen, für astronomische Summen aus Treibhäusern der terra ferma angeliefert, ein üppiges Blumengesteck, sodass er sich zur Seite lehnen musste, um seinen padrone zu sehen. Der selbst liebte es nicht, beim Reden beobachtet zu werden, wurde aber sofort nervös, wenn er ihn nicht sehen konnte.

Während er auf seiner Seite nie mehr als drei rosette, ein wenig Marmelade und eine bereits eingeschenkte Tasse Kaffee vorfand, bog sich die Seite der Tafel, auf der der padrone saß, unter der Last von frischen Früchten, Schinken, Rührei und Kaviar. Selbstverständlich sorgte ein livrierter Lakai dafür, dass die Kaffeetasse des padrone gefüllt blieb und die abgegessenen Teller sofort entfernt wurden. Dass ihn der affige Lakai hartnäckig ignorierte, hatte ihn anfangs verdrossen, inzwischen aber war er daran gewöhnt. Hin und wieder trank der padrone Champagner zum Frühstück — unter dem medizinischen Vorwand, die Körpersäfte in Schwung zu bringen. Nicht dass er Wert darauf gelegt hätte, ebenfalls zum Frühstück Champagner zu trinken, aber es lag etwas Kränkendes in dem Umstand, dass man ihm nie ein Glas angeboten hatte.

Heute Morgen hatten sie lange über Schuld und Gnade diskutiert — kein Wunder, wenn man sich vergegenwärtigte, in welcher Gesellschaft der padrone seine Nächte verbrachte. Was war, hatte der padrone mit weinerlicher Stimme gefragt, wenn übermächtige Triebe einen Menschen dazu brachten, Dinge zu tun, die gegen christliche Grundsätze verstießen? Hatte nicht der Allmächtige selbst, ohne dessen Willen sich kein Grashalm bewegte, ihm solche Triebe eingepflanzt? War ER nicht daran schuld? Was würde mit einem solchen Menschen geschehen, wenn er dereinst vor den Thron des Herrn - so wörtlich - trat? Würde auch über ihm die Gnade des Herrn - so wörtlich - leuchten, oder würde ihn ewige Verdammnis erwarten? 

Dazu hätte er einiges sagen können - gewissermaßen aus persönlicher Erfahrung. Er hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, das Buch des Baseler Professors zu erwähnen - diese Geschichte mit den kopulierenden Griechen doch dann unterließ er es lieber. Mit komplizierten Gedankengängen war hier kein Blumentopf zu gewinnen. Er wusste nur zu gut, dass er seine Position hauptsächlich seiner Fähigkeit verdankte, das auszusprechen und in gefällige Worte zu kleiden, was seinem padrone durch den Kopf ging — und das war fast immer krauses Zeug.

Natürlich hatte er den padrone beruhigt. Die Gnade des Herrn, hatte er ihm versichert, werde auch über Seiner Hoheit leuchten! Eine Deportation in das glühende Sandfeld des dritten Höllenkreises sei durchaus nicht zu erwarten. Außerdem, hatte er hinzugefügt, lasse sich dieser Gefahr immer noch durch ernsthafte Gebete wirksam entgegentreten. Worauf der padrone erleichtert eine weitere Flasche Champagner öffnen ließ und er sich mit einer tiefen Verbeugung entfernte. In den letzten Tagen war ihm klargeworden, dass er diesen Mann, der ihm anfangs einen gewissen Respekt eingeflößt hatte, aus tiefster Seele verachtete.

Den Tag hatte er damit verbracht, ohne ein bestimmtes Ziel durch die Stadt zu schweifen. Wieder hatte er das Gefühl gehabt, sich durch eine Theaterkulisse zu bewegen. Ob die Stadt auch außerhalb der Karnevalssaison diesen leichten Rausch erzeugte, der einem das Gefühl gab, alles wäre erlaubt?

In den Cafés, die er besucht hatte, waren ihm massenweise leckere Zitronentörtchen begegnet, die nur darauf warteten, verspeist zu werden. Es war auch keine Überraschung, dass sich das Tier in ihm zweimal zu Wort gemeldet hatte. Besser gesagt: Es hatte zweimal ein lautes Jaulen ausgestoßen, sodass er sein Gesicht blitzschnell hinter einer Zeitung verstecken musste, um den Ausdruck blutrünstiger Begierde zu verbergen.

Obgleich er das Tier gut verstanden hatte. Die junge Engländerin, die im Café Oriental am Nebentisch Platz genommen hatte — es gab immer mehr Frauen, die sich ohne Begleitung in ein Café setzten —, war blond, hatte grüne Augen, und ihre Blicke hatten sich mehrmals getroffen, bevor er gezwungen gewesen war, sein Gesicht hinter der Gazzetta di Venezia zu verstecken. Zitronentörtchen Nummer zwei hatte neben ihm auf der Piazza eine Tüte mit gerösteten Maronen gekauft, und sie hatten tatsächlich angefangen zu plaudern — jedenfalls bis er gezwungen gewesen war, das Gespräch mitten im Satz abzubrechen und den Kopf abzuwenden. Danach hatte er sich selbst der albernen Vorstellung hingegeben, wie es denn gewesen wäre, länger mit ihr zu sprechen, sie anschließend in eine dunkle Ecke des Markusdoms zu lotsen, um dort zur Sache zu kommen.

Doch dies wäre auf eine schnelle Nummer hinausgelaufen, und im Grunde liebte er keine Improvisationen. Nicht nur, weil immer jemand im falschen Moment aufkreuzen konnte, sondern vor allem, weil sie seiner Ordnungsliebe entgegenliefen. Ordnung, Ordnung, liebe sie ... Eine platte Lebensweisheit, gewiss, aber er konnte nichts dafür, dass er sich ihr verschrieben hatte. Er verabscheute unaufgeräumte Schreibtische, schlampig gepackte Koffer und — plötzlich fiel ihm wieder der padrone ein — Champagner am Vormittag. Er hatte es eben gerne ein bisschen proper.

Das war das Hübsche an der Verabredung, die er für heute Abend getroffen hatte. Diesmal würde er sich Zeit lassen können. Keine schnelle Nummer wie im Coupé, keine hastige Operation wie auf der Gondel. Nein - heute würde ein langsames Zeitmaß vorherrschen, ein gelassenes adagio cantabile. Das Motto des Abends lautete: Gemütlichkeit. Sie würden ein wenig plaudern, ein Gläschen zusammen trinken, vielleicht ans Fenster treten und — falls es inzwischen aufgeklart hatte — gemeinsam die Sterne betrachten. Die Sdertie, Gott, sehen Sie doch bloß die Sdeme an, würde er dann zu ihr sagen. Manchmal hatte er den Verdacht, dass das Tier in ihm eine romantische Ader hatte. Dass sich hinter einer harten Schale ein weiches Herz verbarg.

*

Es war kurz vor sieben, als er die Eingangstür der Pensione Seguso nach innen drückte — nicht ohne vorher seine schwarze Halbmaske aufgesetzt zu haben. Er hatte sie heute nur gelegentlich gelüftet. Dass es während der Karnevalssaison durchaus normal zu sein schien, auch tagsüber maskiert zu sein, kam ihm entgegen. Inzwischen fühlte er sich ohne Tarnung nackt und schutzlos.

Er hatte eine schmierige Absteige erwartet, einen Concierge mit einer Zigarette im Mundwinkel und einer Schnapsflasche vor sich auf dem Tresen. Stattdessen fand er sich in der Lobby einer biederen Familienpension wieder, mit einem Concierge, der so aussah, als würde er Tabak und Alkohol eher missbilligen. Im Gegensatz zu den meisten venezianischen Hotels hatte man in der Pensione Seguso auf die übliche Karnevalsdekoration verzichtet. Weder trug der Concierge hinter dem schlichten Empfangstresen ein buntes Hütchen, noch hingen lustige Papierschlangen von der Decke. Würde man ihn auffordern, die Maske abzunehmen? Mit dem Hinweis darauf, dass sie nicht dem Stil des Hauses entsprach? Das ältliche Ehepaar, das gerade den Stadtplan an der Wand konsultierte, war selbstverständlich nicht verkleidet.

Er trat an den Tresen, nannte die Zimmernummer und erhielt die Auskunft, dass sich das Zimmer im ersten Stock befand. Der Concierge hatte mit keiner Wimper gezuckt. Während er die Treppe emporstieg, amüsierte ihn die Vorstellung, dass sich hinter einer biederen Fremdenpension ein gutgetarntes Stundenhotel verbarg. Die Frau hatte gestern angedeutet, dass sie gegen neun Uhr einen weiteren cavaliere auf ihrem Zimmer empfangen würde, was ihm nur recht sein konnte. Das Tier in ihm war jetzt hellwach, er spürte, wie es vor Tatendurst vibrierte. Vor der Tür angekommen, klopfte er und räusperte sich vernehmlich. Dann hörte er Schritte im Inneren des Zimmers, und einen Augenblick später öffnete sich die Tür.

Mein Gott, wie lecker sie war! Sie trug ein scharf auf Taille geschnittenes Hauskleid, das knapp über den Knöcheln endete, darunter keine Strümpfe, an den Füßen türkische Pantoffeln. Und wieder sah sie ihn mit diesem speziellen Blick an, der ihn schon im Mulino Rosso amüsiert hatte. Vermutlich hielt sie ihn für einen Familienvater aus der Provinz. Ob er der erste Mann war, den sie heute in diesem Zimmer empfing? Nein, das war unwahrscheinlich. Da eine geblümte Tagesdecke auf dem Bett lag, war nicht zu erkennen, ob sie die Bettwäsche gewechselt hatte oder nicht. Im Grunde spielte es keine Rolle.     

Wie erwartet, lief dann alles wie am Schnürchen. Sie hatten, nachdem die Finanzen geklärt waren, ein wenig geplaudert und tatsächlich ein Schlückchen zusammen getrunken. Den Satz mit den Sdernen hatte er nicht anbringen können, weil die Bestie in ihm zur Eile drängte und der Himmel außerdem bedeckt war. Als er schließlich das Messer in die Hand nahm und sein Tier endlich von der Leine ließ, war sie noch bei Bewusstsein. Zwar schnürte sich schon der Lederriemen um ihren Hals, und sie rang röchelnd nach Atem - aber sie lebte noch und versuchte verzweifelt, sich zu befreien. In die krampfhaften Zuckungen ihres sterbenden Körpers hinein setzte er den ersten Schnitt und beobachtete fasziniert, wie helles Blut aus der Wunde quoll. Danach genoss er die Vereinigung mit dem Tier, den Rausch.

Groß aufräumen musste er anschließend nicht. Er hatte die Tagesdecke rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Die blutige Operation hatte er auf dem Bett vorgenommen und dabei das straff gespannte Laken als Operationstisch benutzt. Natürlich war Blut dabei geflossen, aber es war seitlich an ihr herabgelaufen und im Laken versickert. Das Organ hatte er ordentlich auf dem Nachttisch deponiert. Dort funkelte es jetzt im Schein des Kerzenleuchters wie polierte Bronze. Ein paar unschöne Spritzer auf dem Fußboden, an den Bettpfosten waren schnell beseitigt. Dabei bediente er sich des Waschlappens und des Handtuchs, die er vorher angefeuchtet hatte.   

Einer plötzlichen Eingebung folgend, öffnete er die Schublade des Nachttisches und schob das Organ mit einer energischen Handbewegung hinein. Den Nachttisch selbst reinigte er mit dem Waschlappen, den er anschließend unter das Bett warf. Dann richtete er sich auf und trat einen Schritt zurück, um sein Werk zu betrachten. Das Resultat war äußerst befriedigend. Die Leiche lag ordentlich auf der rechten Seite des Doppelbetts. Er hatte sie so unter der Bettdecke verstaut, dass nur noch der blonde Haarschopf der Frau zu erkennen war. Vermutlich war die Matratze inzwischen blutdurchtränkt, aber auf den ersten Blick schien seine bizarre Operation keine Spuren hinterlassen zu haben. Wer immer nach ihm den Raum betrat, würde zunächst den Eindruck haben, dass die Signorina ein kleines Nickerchen machte. Jedenfalls solange er nicht versuchte, sie zu wecken.

Puh! Er reckte sich, massierte sich den Nacken und stellte fest, dass er auf einmal todmüde war. Kein Wunder nach dem Programm, das er gerade absolviert hatte. Er sah auf die Uhr. Erst eine Viertelstunde nach acht. Es sprach nichts dagegen, ein paar Minuten die Beine auszustrecken. Der nächste Kunde war ja erst für neun angekündigt. Und das Tier? Von dem war nichts zu hören. Es hatte sich in seine Höhle verkrochen, wo es zweifellos den Schlaf des Gerechten schlief. Also legte er sich vorsichtig auf die linke Seite des Bettes, gähnte und schloss die Augen. Fünf Minuten später war er eingeschlafen.