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«Die Vorstellung», sagte Spaur, «dass es sich bei dem Comte de Chambord um den Ausweider handeln könnte, ist absurd, Commissario.»

Der Polizeipräsident warf einen wütenden Blick über seinen Schreibtisch, bevor er ein Praline in seinem Mund verschwinden ließ. Vor ihm lag, neben der obligatorischen Konfektschachtel, demonstrativ auf der zweiten Seite aufgeschlagen, die Gazzetta di Venezia. Spaurs Stimmung ließ darauf schließen, dass er den Artikel über den Mord auf dem Campanile bereits ausführlich mit seiner Gattin diskutiert hatte. Es lag auf der Hand, dass Signorina Violetta, wie Tron und Bossi sie immer noch unter sich nannten, nicht erbaut gewesen war. Was ihm Spaur vermutlich, dachte Tron, sogleich mitteilen würde.

«Die Baronin», sagte Spaur mit Grabesstimme, «ist über Ihre Arbeit wenig erbaut. Das hat sie mir deutlich zu verstehen gegeben.»

Na bitte. Tron hüstelte, um ein Lächeln zu verstecken.

«Sie hat ernsthafte Zweifel daran geäußert», fuhr Spaur, immer noch wütend, fort, «dass ich meine Beamten im Griff habe.»

Er wickelte ein weiteres Praline aus, ließ das Papier achtlos auf den Boden fallen und seufzte. «Unglücklicherweise habe ich der Baronin gegenüber angedeutet, dass der Fall kurz vor der Aufklärung steht. Und jetzt tischen Sie mir das auf!»

«Was tische ich Ihnen auf?»

«Eine Geschichte, die an Absurdität gar nicht zu übertreffen ist», sagte Spaur. «Dass der direkte Nachfahre des Sonnenkönigs ein Serienmörder sein könnte, ist grotesk.»

Der Polizeipräsident nahm Blickkontakt mit der Fotografie Signorina Violettas auf, die in einem silbernen Rahmen auf dem Schreibtisch stand. «Der Comte de Chambord hat uns eingeladen und handschriftlich ein reizendes Kompliment an die Baronin hinzugefügt. Das allein dürfte bereits für seine Unschuld sprechen.»

«Niemand hat behauptet», sagte Tron, «dass es sich bei dem Mörder um den Comte de Chambord handelt. Ich selbst halte es auch für unwahrscheinlich. Aber Tatsache bleibt, dass sich der Mann, den Bossi gestern Nacht verfolgt hat, mit großer Wahrscheinlichkeit in den Garten des Palazzo Cavalli geflüchtet hat, und dem müssen wir nachgehen.»

«Und dieser Pater Francesco?»

«Was ist mit ihm?»

«Viele Priester hassen Frauen», sagte Spaur. «Denen wäre es am liebsten, wenn wir in Venedig um zehn Uhr abends eine Ausgangssperre hätten. Und alle Priesterinnen der Venus geköpft würden.» Der Polizeipräsident ließ die rechte Hand wie ein Fallbeil auf die Gazzetta niedersausen. «Haben Sie diesen Pater Francesco nach seinen Alibis befragt?»

Tron schüttelte den Kopf. «Das war kein Verhör, Baron, sondern ein Gespräch, das wir vor der Kirche geführt haben. Außerdem wäre er, wenn Ihr Verdacht zutrifft, nervös geworden, als ich ihm erzählt habe, dass Bossi gestern Nacht einen Mann bis zum Palazzo Cavalli verfolgt hat. Und das wäre mir nicht entgangen.»

Spaur dachte kurz nach. «Und der neue Privatsekretär des Comte de Chambord?»

«Signor Sorelli ist ein entfernter Verwandter der Fürstin von Montalcino. Wir verkehren privat mit ihm. Sie werden ihn auf dem Maskenball kennenlernen.»

«Sie verbürgen sich für seine Unschuld?»

Tron lächelte. «In jeder Weise, Baron.»

«Wissen Sie, wo er sich gestern Nacht in dem entsprechenden Zeitraum aufgehalten hat?»

«Im Palazzo Cavalli.»

«Und das hat er Ihnen selber gesagt, richtig?»

Tron nickte. «Das hat er mir gesagt.»

«Dann kann ich nur hoffen, dass Sie sich nicht in ihm täuschen. Jedenfalls», fuhr Spaur fort, «hat mein Vorschlag, einen Lockvogel einzusetzen, die ganze Sache ein Stück vorangetrieben. Haben Sie Pater Francesco gebeten, die Augen offen zu halten?»

«Ich denke, dass er sich bei uns melden wird, wenn er etwas Ungewöhnliches beobachtet.»

«Und was beabsichtigen Sie jetzt zu tun, Commissario? Sie haben doch nicht etwa vor, den Comte mit diesen Verdächtigungen zu konfrontieren? Und Seine Hoheit womöglich nach seinen Alibis befragen?»

«Wir werden den Palazzo Cavalli nachts beobachten», sagte Tron.

Spaur verzog das Gesicht. «Falls der Comte de Chambord den Palazzo tatsächlich hin und wieder nachts verlässt, kann das völlig harmlose Gründe haben. Seine Hoheit hat ein Recht auf ein wenig Entspannung. Und wenn der Comte den Eindruck hat, dass sie ihm im häuslichen Rahmen nicht hinreichend zuteil wird, ist es verständlich, dass er sie außerhalb des Hauses sucht.»

«Es wird sich zeigen, was der Comte unter Entspannung versteht.»

«Sie wollen ihn tatsächlich überwachen?»

«Ispettor Bossi wird sich an seine Fersen heften.»

«In einem Kleid?»

Tron schüttelte den Kopf- «In Zivil.» Plötzlich fiel ihm etwas ein, was eigentlich auf der Hand lag. «Dann würde ich gerne genau wissen», sagte er, um nicht mit der Tür ins Haus zu fallen, «welchen Status der Comte in Venedig hat. Ist Seine Hoheit als Privatmann hier? Oder hat er einen diplomatischen Status? Den hätte er möglicherweise, falls er einen berechtigten Anspruch auf den französischen Thron hat.»

Spaur winkte ärgerlich ab- «Sein Anspruch ist selbstverständlich berechtigt. Die Baronin hat das handschriftlich hinzugefügte Kompliment als Gunstbeweis des zukünftigen Königs der Franzosen verstanden.»

Tron lächelte. «In diesem Fall wäre ...» Er sprach den Satz nicht zu Ende, um Spaur die Gelegenheit zu geben, die Schlussfolgerung selbst zu ziehen.

Was ein wenig dauerte und lebhaftes Augenrollen bei Spaur verursachte. Doch dann klappte der Unterkiefer des Polizeipräsidenten herab, und seine Augen weiteten sich.   

«Natürlich, Commissario ?». rief er. «Sie haben recht. Dann wäre der Fall keine Angelegenheit der venezianischen Polizei, sondern fiele in die Zuständigkeit der Militärpolizei. Die ihre Anweisungen vom Ballhausplatz empfangen würde.»

Tron nickte. «Und das würde bedeuten, dass wir — rückblickend betrachtet - für diesen Fall nie zuständig gewesen sind.»

Spaur strahlte über das ganze Gesicht. «Was wiederum die Folge hätte», sagte er, «dass dieser Vorgang in der polizeilichen Statistik nichts zu suchen hat.»

«Und die Baronin sich wieder auf den Empfang in der Hofburg freuen darf», fügte Tron hinzu.

«Allerdings.» Spaur grinste. «Das alles wird dem Stadtkommandanten nicht gefallen. Er wird in Zukunft keine Gelegenheit haben, hämische Artikel über die venezianische Polizei zu lancieren.» Spaur sah Tron glücklich an. «Hätten Sie das für möglich gehalten, Commissario?»

Tron verstand nicht sofort, was der Polizeipräsident damit meinte. «Ah, was bitte?»

«Dass es sich bei dem Ausweider um den Comte de Chambord handelt.»

«Mit Gewissheit können wir das jetzt noch nicht sagen.»

«Ach, nein?» Spaur runzelte unwillig die Stirn. «Sie haben mir doch eben erklärt, dass Sie den neuen Privatsekretär des Comtes gut kennen und aus dem Verhalten des Priesters schließen, dass auch er als Täter nicht in Frage kommt. Wenn dem so ist, bleibt nur der Comte de Chambord übrig.» 

«Ich hatte Sie so verstanden, dass es geradezu absurd sei, den Comte zu verdächtigen.»

«Hatte ich mich so ausgedrückt?»

«Meiner Erinnerung nach ja.»

Spaur zuckte mit den Achseln. «Dies geschah unter Voraussetzungen, die offenbar nicht zutreffen. Ich habe Ihnen doch erklärt, dass die Angelegenheit von Wien aus geregelt werden muss.»

Der Polizeipräsident ließ ein weiteres Praliné in seinem Mund verschwinden und lächelte selbstgefällig. «Jedenfalls war diese Strategie effektiv. Ohne Lockvogel wäre der Comte nie in unser Visier geraten. Wird Bossi die Überwachung des Palazzo Cavalli übernehmen?»

«Der Ispettore ist mein bester Mann.»

«Er soll nichts überstürzen», sagte Spaur. «Wir können uns keinen Fehler erlauben. Vielleicht sollten Sie, bevor wir den Fall abgeben, noch ein Gespräch mit dem Comte führen.»

«Das werde ich erst tun, wenn sich der Verdacht erhärtet hat», sagte Tron. Er wollte sich erheben, aber eine Handbewegung Spaurs hielt ihn zurück.

«Noch etwas, Commissario.»

Tron ließ sich auf den Stuhl zurücksinken.

Diesmal verschwanden gleich zwei Pralines in Spaurs Mund, und es dauerte eine Weile, bis er wieder sprechen konnte. «Der Stadtkommandant hat Stumm von Bordwehr gestern zum Militärstaatsanwalt ernannt.»

Tron hob die Brauen. «Dann wäre der Oberst für diesen Fall zuständig.»

Spaur nickte. «Er würde auch die Verhaftung des Comtes vornehmen, wenn wir ihm die entsprechenden Hinweise geben.»

«Beweise werden wir nicht liefern können.»

«Ich sagte auch Hinweise, Commissario. Wir verfassen einen Bericht und überlassen es dem Oberst, daraus seine Schlussfolgerungen zu ziehen.»

«Sie meinen, falls wir uns wider Erwarten täuschen, ist der Oberst der Blamierte?»

Spaur warf einen Blick auf die Fotografie der Baronin und nickte. «Genau das meine ich.»