«Ich hatte mit dem Oberst gerechnet, aber nicht mit Ihnen, Commissario», sagte Julien knapp sieben Stunden später zu Tron. Er war von seiner Pritsche aufgesprungen, als sich die Zellentür geöffnet hatte. «Ich habe den ganzen Tag niemanden gesehen.»
Julien stand mit hochgeschlagenem Mantelkragen direkt unter der Petroleumlampe, die von der Decke der Zelle hing. Das Licht fiel auf seine von der Kälte gerötete Nase und ließ den unteren Teil seines Gesichts wie eine Maske wirken. Im Halbdunkel der Zelle schienen die Gerüche durchdringender. Es roch säuerlich, wie nach Erbrochenem.
Auf dem Weg zu Juliens Zelle hatte Tron seinen Passierschein dreimal vorzeigen müssen. Einmal einem Sergeanten am Hofeingang des Traktes, dann einem gelangweilten Offizier am Ende eines Ganges im Erdgeschoss und schließlich, im vierten Stock des Gebäudes, dem Sergeanten, der ihm die Zelle aufgeschlossen hatte. Es war verabredet worden, dass der Sergeant eine Stunde später wiederkommen und ihn abholen würde. Bei den Zellen, hatte Tron festgestellt, handelte es sich nicht um die Bleikammern. Die befanden sich einen Stock höher, direkt unter dem Dach. Dies hier waren ganz normale Zellen mit massiven, eisenbeschlagenen Türen und vergitterten Fenstern. Und offenbar ohne jede Heizung, was Julien dazu genötigt hatte, seinen Mantel anzubehalten und den Kragen hochzuschlagen. Es war so kalt, dass sich bei jedem Wort kleine Wölkchen vor dem Mund bildeten. Außer einem Stuhl, einem Eimer und einem Tisch, auf dem eine Wasserflasche stand, enthielt die Zelle nur noch ein Kavalett mit einer grauen Militärdecke. Es würde kein Vergnügen sein, hier die Nacht zu verbringen.
«Es war nicht ganz einfach, Sie zu besuchen», sagte Tron, nachdem er auf dem wackligen Stuhl neben dem Eimer Platz genommen hatte. «Der Oberst hat sich geweigert, mich zu Ihnen zu lassen.»
«Er hat mich auf dem Weg in die Questura verhaftet», sagte Julien. Und dann ohne Zögern weiter: «Ich denke, dass er wusste, wohin ich wollte.»
«Wollte er verhindern, dass ich mit Ihnen spreche?»
Julien nickte. «Es sieht ganz danach aus.»
«Was durfte ich nicht erfahren?»
«Dass der Oberst, was mir nicht bekannt war, offenbar im Palazzo Cavalli verkehrt hat», sagte Julien. Er sah Tron eindringlich an.
«Woher wussten Sie das?»
«Durch eine unbesonnene Bemerkung des Comtes», sagte Julien. Er stieß ein verächtliches Lachen aus, was eine kleine weiße Wolke vor seinem Mund entstehen ließ. «Ich war im Arbeitszimmer Seiner Hoheit, um Diktate aufzunehmen, als ein Lakai den Oberst meldete. Auf meine Überraschung, den Oberst hier zu sehen, bemerkte der Comte, dass er nicht zum ersten Mal hier ist. Stumm von Bordwehr ist bei dieser Bemerkung regelrecht zusammengezuckt.»
«Und dann?»
«Gingen die beiden Herren in den Salon, und der Comte kam zehn Minuten später ein wenig bleich zurück. Dann habe ich eine Stunde lang Diktate aufgenommen. Als ich fertig war und den Mantel aus meinem Zimmer holen wollte, hat mich Stumm von zwei Sergeanten im Treppenhaus verhaften und abführen lassen.»
«Mit welcher Begründung hat Stumm Sie festgenommen?»
«Wegen eines Briefwechsels mit einem französischen Freund, dem Privatsekretär des Herzogs von ...»
Tron hob die Hand. «Ich weiß Bescheid.»
«Diese Briefe», fuhr Julien fort, «sind offenbar kompromittierender gewesen, als mir bewusst war. Dass sie abgefangen und gelesen wurden, konnte ich nicht ahnen. Wenn Stumm es darauf anlegt, komme ich wegen Hochverrats vor Gericht.»
«Wollen Sie damit sagen, dass der Oberst Sie wegen Ihrer Korrespondenz festgenommen hat?»
Diese Frage schien Julien zu überraschen. Oder er hatte sich erstaunlich gut in der Gewalt und tat nur so. «Warum sollte Stumm mich sonst festnehmen?»
«Weil er vier Messer, zwei Lederriemen und zwei Masken in Ihrem Zimmer gefunden hat», sagte Tron knapp.
Juliens Kopf fuhr ruckartig nach oben. «Wie bitte?»
«Vier Messer, zwei Lederriemen und zwei Masken», wiederholte Tron. «Das alles lag auf Ihrem Schreibtisch. Ich habe es selbst gesehen.»
«Das ist unglaublich.»
«Was?»
«Dass Stumm so weit geht.»
«Wollen Sie damit sagen, dass der Oberst Ihnen diese Gegenstände untergeschoben hat?»
«Selbstverständlich. Glauben Sie mir etwa nicht?»
Tron zuckte die Achseln. «Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Das ist der Grund, weshalb ich hier bin.»
«Darf ich fragen, warum Sie den Comte heute Vormittag besucht haben?»
«Wir hatten Grund zu der Annahme, dass er mehr über eine gewisse Person in seinem Haushalt weiß, als er zugibt.»
«Warum sollte der Comte Ihnen etwas verschweigen?»
«Die betreffende Person weiß über sein Privatleben Bescheid. Und der Comte will nicht, dass sie redet.»
Julien dachte einen Augenblick nach. Dann sagte er: «Spielen Sie auf den Jüngling aus Neapel an?»
«Also wussten Sie es. Das hatte der Comte vermutet.»
«Und sich nicht an Sie gewandt, weil er befürchtet hat, ich könnte dann plaudern?» Julien lachte bitter auf. «Das ist lächerlich. Wodurch habe ich mich in den Augen des Comtes noch verdächtig gemacht?»
«Auch durch den Ring, den Sie am Finger tragen.»
Julien wölbte die Brauen. «Sie meinen das Wappen der Laval-Montmorencys auf dem Ring?»
«Das Wappen Blaubarts.»
Bei dem Wort Blaubart verdrehte Julien die Augen. Dann ergriff er die Wasserflasche am Hals, als wollte er eine Ente erdrosseln, und trank einen Schluck. Schließlich sagte er: «Das war ein Missverständnis, dem ich nicht widersprochen habe. Dem Comte ist das Wappen aufgefallen, und ich habe ihm erzählt, dass der Ring ein Erbstück meiner Mutter ist.»
«Ist er ein Erbstück Ihrer Mutter?»
Julien schüttelte heftig den Kopf wie ein Schwimmer, der sich das Wasser aus den Ohren schüttelt. «Nein. Ich habe ihn beim Spiel gewonnen. Wir haben nichts mit den Laval-Montmorencys zu schaffen.» Er sah Tron mit runden Augen an, in denen jetzt unverhohlene Angst zu erkennen war. «Halten Sie mich tatsächlich für den Ausweider?»
Gute Frage. Die entscheidende Frage, dachte Tron. Was hielt er eigentlich von Julien — abgesehen davon, dass er ihn aus persönlichen Gründen lieber in Paris gewusst hätte? War es dem Neffen zuzutrauen, dass er junge Frauen erdrosselte und aufschlitzte? Frauen, die alle blond und grünäugig waren — wie die Principessa? Tat er das gewissermaßen als Ersatz? Nein, das war ein grotesker Gedanke. Doch wenn es sich bei dem Neffen nicht um den Ausweider handelte — eine Vorstellung, die Tron auf einmal völlig absurd vorkam —, dann konnte ihm nur der Oberst Messer, Lederriemen und Masken untergeschoben haben.
«Was ich von Ihnen halte», sagte Tron, dessen Beine sich inzwischen anfühlten, als würden sie in Eimern mit Eiswasser stehen, «ist nicht von Belang. Der Fall liegt jetzt in den Händen der Kommandantura. Offiziell kann ich nichts unternehmen.»
«Was könnten Sie inoffiziell unternehmen?»
«Mit Ihnen sprechen», sagte Tron. «Und das mache ich bereits. Inoffiziell. Der Passierschein, den ich hier habe», fuhr er fort, indem er auf seine Manteltasche klopfte, «hätte mir eigentlich nie ausgestellt werden dürfen.»
Tron erhob sich von seinem Stuhl. Beim Aufstehen stellte er fest, dass seine Gelenke steif waren, so als hätte er gerade einen Unfall gehabt. Wahrscheinlich, dachte er, lag es an den eisigen Temperaturen. Ob die graue Armeedecke, die auf dem Kavalett lag, warm genug war, um hier ein wenig Schlaf zu finden? Er stellte fest, dass dieser Julien Sorelli ihm leid tat und dass seine törichte Eifersucht offenbar verschwunden war — wenigstens etwas.
«Wir könnten», sagte Tron, «noch einmal mit Pater Hieronymus sprechen und ihn zu seinen Kontakten zu Stumm befragen.»
«Und wenn sich daraus nichts ergibt?»
«Dann nehmen wir uns den Zeitpunkt eines der Morde und versuchen herauszufinden, ob der Oberst dafür ein Alibi hat.»
«Das kann sich hinziehen.»
«Mehr kann ich nicht für Sie tun», sagte Tron.
Julien überlegte einen Moment. Dann sagte er langsam: «Sie könnten sofort etwas für mich tun, Commissario.»
Seine Augen waren auf das kleine, vergitterte Zellenfenster gerichtet. Um seine Mundwinkel zuckte es nervös.
«Und was?»
Julien sah Tron an, hob die Schultern und lächelte entschuldigend. «Einen Blick durch die Gitterstäbe nach draußen werfen.» Er stieß einen Seufzer aus, griff wieder nach der Wasserflasche und trank einen Schluck.
«Ich bilde mir ein», fuhr er dann mit unsicherer Stimme fort, «dass ich ein Licht in der Seufzerbrücke sehe.» Wieder lächelte er entschuldigend und trat einen Schritt zur Seite. Die Wasserflasche behielt er in der Hand. «Sagen Sie mir, was Sie sehen. Vielleicht werde ich ja schon verrückt in diesem Eisloch.»
Als Tron an das kleine Fenster trat, den Kopf hob und durch die Gitterstäbe hinausblickte, sah er den dunkelgrauen Nachthimmel, darunter den massigen Block der prigioni nuove, des neuen Gefängnisses. Wolkenfetzen, vom Mondlicht beleuchtet, trieben von der Lagune auf die Stadt zu. Tron senkte den Blick, und jetzt war auch der steinerne Riegel des Ponte dei Sospiri zu erkennen, die Verbindung zwischen den Kerkern des Dogenpalastes und dem Gefängnis auf der anderen Seite des Rio del Palazzo. Tron sah die Wölbung der Seufzerbrücke und darauf die Bogen der Voluten. Ein Lichtschein hinter den vergitterten Fenstern der Brücke war nicht zu erkennen.
Die Flasche traf seine Schläfe, als er sich gerade zurückwenden wollte. Der Schlag schickte ihm eine Schockwelle durch den Schädel, warf seinen Kopf ruckartig nach links und ließ Lichtblitze hinter seinen geschlossenen Augen explodieren. Tron drehte sich halb um seine Achse, verlor das Gleichgewicht und hatte noch im Fallen, bevor er endgültig das Bewusstsein verlor, das Gefühl, dass er einen Schubs bekam, der ihn relativ sanft auf dem Kavalett landen ließ.