Die gebratene Wachtel wurde heute Abend mit radicchio alla griglia serviert, und wie immer war die Qualität der Küche im Palazzo Balbi-Valier makellos. Allerdings hatte sich Tron - ebenfalls wie immer — mit dem Hauptgang zurückgehalten, um noch genug Appetit für das Dessert aufzubringen, das bereits auf der Anrichte in einem Bett aus zerstoßenem Eis auf ihn wartete. Diesmal handelte es sich um einen Fruchtsalat aus Ananas und einer exotischen Birne, die sich Mango nannte und — so die Principessa — als luxuriöse Beifracht auf englischen Teeclippern nach Europa gebracht wurde.
Nachdem Moussada und Massouda abgeräumt und den Obstsalat in kleinen Silberschalen serviert hatten, war Tron aufgestanden, ans Fenster getreten und hatte es eine Handbreit geöffnet. Normalerweise sah man bei Dunkelheit die erleuchteten Fenster der gegenüberliegenden Palazzi und die kleinen Buglichter der Gondeln auf dem Canalazzo. Doch das Einzige, was Tron heute sah, war ein dunkelgraues Nichts, eine luftige und zugleich merkwürdig kompakt wirkende feuchte Masse, die aus Myriaden von mikroskopisch kleinen Wassertröpfchen bestand. Tron streckte die Hand nach draußen, wedelte ein paarmal in diesem grauen Nichts hin und her, und sofort waren seine Finger von einer unangenehmen, fast klebrigen Feuchtigkeit überzogen. Er kannte diese Art von Nebel gut genug, um zu wissen, dass jetzt keine Züge und Dampfer mehr verkehrten. Was bedeutete, dass die Stadt, solange die nebbia anhielt, von der Außenwelt abgeschnitten war. Wenn Julien es versäumt hatte, den Raddampfer nach Triest zu nehmen, saß er jetzt in der Falle.
An den Tisch zurückgekehrt, stellte Tron fest, dass sich sein Appetit auf den Fruchtsalat in Grenzen hielt. Das war beängstigend und vermutlich, dachte er, auf den deprimierenden Bericht zurückzuführen, den er der Principessa während des Essens gegeben hatte. Die war seinen Worten allerdings mit großer Fassung gefolgt. Ob daraus zu schließen war, dass sie inzwischen nicht mehr ganz so felsenfest von der Unschuld Juliens überzeugt war? Tron wusste es nicht, und er hütete sich, die Principessa direkt danach zu fragen.
«Hat dich Spaurs Reaktion überrascht?», wollte sie jetzt wissen, nachdem er wieder am Tisch Platz genommen hatte.
Tron schüttelte den Kopf. «Eigentlich nicht. Für ihn ist der Fall mit Juliens Flucht erledigt. Was mich erstaunt hat, war die lahme Reaktion Stumms.»
Die Principessa runzelte die Stirn. «Du meinst, Juliens Flucht kommt ihm entgegen?»
«Es sieht ganz so aus», sagte Tron.
«Was könnte das bedeuten?»
«Dass er entweder selbst in die Geschichte verwickelt ist oder jemanden deckt.»
«Den Comte de Chambord?»
«Bossi hat die Stimme des Comtes nicht wiedererkannt. Aber er hat mir heute mitgeteilt, dass er sich nicht ganz sicher gewesen ist.»
«Was habt ihr jetzt vor?», fragte die Principessa.
Tron häufte sich eine weitere Portion Mangosalat auf den Teller und gab ein wenig Schlagsahne mit zerstoßenem Sahnebaiser hinzu. «Alibis überprüfen», sagte er. «Wir müssen herausfinden, wo sich der Comte de Chambord und der Oberst zu den jeweiligen Tatzeiten aufgehalten haben. Das wird nicht einfach sein, zumal wir offiziell mit dem Fall nichts mehr zu tun haben.»
«Wird der Oberst trotzdem auf den Ball kommen?»
«So habe ich ihn verstanden.»
«Und der Comte de Chambord?»
«Ebenfalls», sagte Tron. «Genauso wie Spaur. Es werden also außer Julien alle versammelt sein.» Ein Stück Mullbinde hatte sich aus dem Verband gelöst und hing jetzt auf den Kragen seiner Hausjacke hinab.
Die Principessa sah ihn mit zur Seite geneigtem Kopf und heruntergezogenen Mundwinkeln an. «Hast du mal eine Kopfbedeckung für den Ball in Erwägung gezogen? Eine, die den Verband verdeckt?»
Ja, das hatte er. In einem speziell dafür angefertigten Kasten wurde immer noch die zogia, die Dogenmütze Niccolò Trons, eines Vorfahren aus dem 15. Jahrhundert, verwahrt, und Tron hatte die Vorstellung gefallen, dass er damit sowohl die Österreicher als auch die Anhänger der italienischen Einheit verärgern würde. Allerdings hatte es ihm dann doch widerstrebt, eine Familienreliquie als Faschingshütchen zu benutzen.
«Ich denke, mit diesem Verband kann ich mich sehen lassen», sagte Tron. «Der gibt mir einen Einschlag ins Heroische.» Er griff nach seinem Champagnerglas und trank einen Schluck. «Speziell, wenn ich mich weigere, die Verletzung zu kommentieren. Außerdem», fügte er noch hinzu, «wüsste ich nicht, welche Kopfbedeckung zu einem Frack passt.»
«Trägst du deine Orden?»
Tron schüttelte energisch den Kopf. «Die Republik verbietet das Tragen von ausländischen Orden.»
Die Principessa verdrehte die Augen. «Deine Republik ist 1798 von Napoleon aufgelöst worden, Tron.»
Worauf Tron ebenfalls die Augen verdrehte und das sagte, was er immer sagte, wenn sie wieder einmal an diesem Punkt angelangt waren. «Leider Gottes.»
Normalerweise hätte das eine heftige politische Diskussion ausgelöst, in der er der Principessa dumpfen Nationalismus vorgeworfen und sie ihm in ihrem makellosen Toskanisch erklärt hätte, dass er hoffnungslos altmodisch war. Doch heute schien die Principessa keine Lust zu politischen Gesprächen zu haben. Sie fragte stattdessen: «Wird Bossi morgen Abend dabei sein?»
«Die Contessa hat ihn offiziell eingeladen», sagte Tron. «Ich dachte, das wusstest du.»
«Nein. Kommt er in Begleitung?»
«Bossi sagt, es hätte sich in seinem speziellen Fall niemand gefunden.» Tron setzte das Champagnerglas ab und lächelte. «Aber die Herren werden sich um ihn reißen.»
«Die Herren?»
«Bossi wird in einer Krinoline erscheinen. Sein Dienstrevolver fällt dann weniger auf, sagte er.»
«Wozu, um Himmels willen, braucht er auf dem Ball eine Waffe?»
«Wegen Stumm von Bordwehr. Bossi traut ihm nicht über den Weg.»
«Als ob der Oberst auf dem Ball gewalttätig werden könnte.» Die Principessa lachte. «Das ist doch nur ein Vorwand für die Krinoline.»
«Vielleicht», räumte Tron ein. «Aber es wäre taktlos gewesen, Bossi darauf hinzuweisen. Außerdem hat er es indirekt zugegeben. Er hat gesagt, dass er gerne mal eine Krinoline ausprobieren würde. In dem Promenadenkleid hätte er etwas zu füllig gewirkt.»
«Hat er das wirklich gesagt?»
«Wörtlich. Zu füllig. Es ist ihm so rausgerutscht, aber ich glaube, er hat es ernst gemeint.»
«Ich frage mich», sagte die Principessa, «was Bossis Hang zu Frauenkleidern für eine Bedeutung hat. Welche geheimen Neigungen sich dahinter verstecken.»
«Auf Maskenbällen maskiert man sich. Und Bossi macht bekanntlich alles gründlich.»
«Er hätte auch als gründlicher Augustus auftreten können», sagte die Principessa. «Unter einer Toga wäre genug Platz für eine Waffe gewesen.»
Tron konnte nicht sofort antworten, denn er hatte sich gerade einen weiteren Löffel Mangosalat mit Schlagsahne in den Mund gesteckt. Noch ein, zwei Löffel, und ihm würde schlecht werden. «Und wenn er tatsächlich einen Hang zu Kleidern hätte? Wir alle haben unsere geheimen Neigungen.» Tron legte seinen Löffel auf den Teller und stellte fest, dass er plötzlich Appetit auf ein profanes Fischbrötchen hatte. «Hast du dich inzwischen entschieden, ob
du maskiert kommst?»
«Die Contessa findet, dass ich zum Haus gehöre», sagte die Principessa. «Also fällt die Maskerade weg. Ich hätte mich ohnehin auf eine bautta beschränkt.» Sie schob die Schale mit den Resten des Obstsalats von sich weg und griff nach ihrem Zigarettenetui. «Übrigens habe ich heute Nachmittag die Baronin getroffen.»
Einen Moment lang war Tron irritiert. «Welche Baronin?»
«Die Baronin Spaur und ehemalige Signorina Violetta. Eine sehr angenehme Person.»
«Wo hast du sie getroffen?»
«Auf der Piazza», sagte die Principessa mit beiläufiger Stimme. Und fügte mit noch beiläufigerer Stimme hinzu: «Wir waren dann im Cafe Oriental.»
Tron gab sich keine Mühe, seine Überraschung zu verbergen. «Ihr beide habt zusammen Kaffee getrunken?»
«Es gab so viel zu erzählen, Alvise», sagte die Principessa. Sie steckte sich eine Maria Mancini an, inhalierte und blies eine Rauchwolke über den Tisch. «Warum guckst du mich so entsetzt an?»
«Ich bin nicht entsetzt», sagte Tron. «Ich bin nur erstaunt. Das ist das erste Mal, dass du zusammen mit einer Frau in ein Cafe gehst. Das machen eigentlich nur Ausländerinnen.»
«Wenn du damit meinst, dass wir Venezianerinnen auf diesem Gebiet Nachholbedarf haben, dann kann ich dem nur zustimmen.» Die Principessa sah Tron missbilligend an. «Übrigens», fuhr sie fort, «hat mir Signorina Violetta verraten, was Spaur und sie auf dem Ball tragen werden.»
«Und was?»
«Sie werden als Antonius und Kleopatra auftreten.»
Wie bitte? Tron schloss die Augen und versuchte vergeblich, sich den Polizeipräsidenten als Antonius vorzustellen. «Signorina Violetta gibt wahrscheinlich eine reizvolle Kleopatra ab», sagte er. «Aber dass Spaur als Antonius eine gute Figur macht, bezweifle ich.»
«Das muss er auch gar nicht.» Die Principessa grinste. «Spaur wird sich als Kleopatra verkleiden und Signorina Violetta als Antonius.»
Einen Augenblick lang war Tron fest davon überzeugt, dass er sich verhört hatte. «Spaur als Kleopatra?»
Die Principessa nickte. «Mit schräg gemalten Augen, einer Krone aus Kuhgehörn, Falkenfedern und einer Sonnenscheibe. Alles aus Pappe. Dazu eine künstliche Viper aus Schlangenleder.»
«Und die Baronin? Was wird sie tragen? Eine Toga?»
Die Principessa schüttelte lächelnd den Kopf. «Sie wird eine taillierte Tunika, Strümpfe aus feiner Kaschmirwolle und Sandalen tragen. Dazu ein Kurzschwert aus Pappe.»
«Ist eine Tunika nicht ... ziemlich kurz?»
«Für eine Frau schon. Aber nicht für einen Mann. Und Signorina Violetta kann es sich leisten», sagte die Principessa. Sie verdrehte wieder die Augen — diesmal auf eine träumerische Art und Weise, die Tron ausgesprochen irritierend fand. «Sie wird hinreißend aussehen», fuhr die Principessa fort. «Die Damen werden vor Wut platzen, und die Herren werden wütend sein, weil sie schlecht mit einem Mann tanzen können.»
«Nicht zu tanzen wird der Baronin nicht gefallen», sagte Tron. «Tanz du doch mit ihr.»
Die Principessa, die männliche Ratschläge nicht schätzte, lächelte kühl. «Genau das habe ich auch vor, Tron. Und zwar nicht nur einmal. Wir haben bereits alles besprochen.»
Alles besprochen — das klang auch ziemlich irritierend. Tron fragte sich, was dabei noch alles zur Sprache gekommen war und welche geheimen Neigungen die Principessa in ihrem Herzen verbarg.