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Als Tron am nächsten Montag das Café Florian betrat, hatte er die Gazzetta bereits gelesen. Einen Artikel über einen Mord in der Pensione Seguso gab es noch nicht, doch war nicht auszuschließen, dass die Gazzetta morgen darüber berichten würde. Sie hatten das Wochenende damit verbracht, die Identität der ermordeten Frau zu ermitteln, und waren tatsächlich erfolgreich gewesen. Bei der angeblichen Lucrezia Venezia handelte es sich um eine gewisse Julia Dossi aus Castello, die ihre Bekanntschaften meist im Mulino gemacht hatte. Sie hatte keinen Zuhälter, arbeitete auf eigene Rechnung und empfing ihre Kunden entweder in ihrer Wohnung oder in der Pensione Seguso. Tron vermutete, dass sie die beiden Männer aus dem getarnten Stundenhotel ebenfalls im Mulino kennengelernt hatte, aber dort liefen die Ermittlungen ins Leere. Es gab zu viele Männer mit schwarzen Halbmasken, die dort verkehrten.

Im Grunde waren sie keinen Schritt weiter gekommen. Nur, dass es zur Gewissheit geworden war, dass ein Verrückter die Stadt durchstreifte und jederzeit erneut zuschlagen konnte — eine grauenhafte Vorstellung. Tron fragte sich, wie lange es Spaur gelingen würde, diese Morde aus der Statistik herauszuhalten. Auf jeden Fall würde der Polizeipräsident ihn höchstpersönlich für die Verbrechen verantwortlich machen.

Trons vormittägliche Besuche im Florian folgten einer festen Routine. Er betrat das Café um halb zehn, unter dem Arm die neuesten Manuskripte für den Emporio della Poesia. Nach der Inspektion der Torten ließ er sich im maurischen Salon nieder. Die nächsten anderthalb Stunden las er, wobei er die Gäste im Auge behielt, die das Café betraten. Trugen sie ausländische Zeitungen unter dem Arm? Dachten sie, die kaiserlichen Behörden würden die Lektüre von subversiven Gazetten einfach hinnehmen?     

Gegen elf, wenn die meisten Tische besetzt waren, erschien ein uniformierter Sergente aus der Wache an der Piazza. Gemeinsam gingen sie dann durch die Räume. Die Fremden protestierten fast nie, wenn Tron sie darauf hinwies, dass das kaiserliche Zensurdekret untersagte, ausländische Zeitungen einzuführen. Und er sie im Namen des Allerhöchsten konfiszieren müsse.

Heute hatte sich der Fischzug gelohnt. Auf Trons Tisch lagen der Moniteur, die Times, die Kreuzzeitung und die Revue de Marseille. Alle umsonst! Eine wahre Freude für einen leidenschaftlichen Zeitungsleser, wie Tron es war. Er begann die Lektüre mit der Times und fand auf der zweiten Seite einen Artikel mit der Überschrift: Massaker in Castelvetrano. Piemontesische Truppen hatten Aufständische verfolgt, diese waren entkommen, woraufhin der Kommandant der Einheit eine exemplarische Strafaktion in dem nahegelegenen Castelvetrano befohlen hatte. Die Bilanz bestand in knapp hundert toten Zivilisten. Die Hälfte von ihnen waren Frauen und Kinder. Tron schüttelte entsetzt den Kopf.

Wie glücklich war die Bevölkerung damals gewesen, als Garibaldi die verhassten Bourbonen vertrieben hatte und sie Bürger eines vereinigten Italien wurden! Freiheit! Selbstverwaltung! Steuersenkung! Doch seit Süditalien von Turin aus verwaltet wurde, waren die Steuern ständig gestiegen und wurden mit äußerster Brutalität eingetrieben. Kein Wunder, dass sich der Süden in offenem Aufruhr befand. Eigentlich, dachte Tron, sollte nach diesen Erfahrungen kein vernünftiger Venezianer den Wunsch haben, unter die Knute Turins zu kommen. Manchmal fragte er sich, ob alle Welt verrückt geworden war.   

Der Mann am Nebentisch zum Beispiel. Er hatte eine fliehende Stirn und blies mit dicklichen Lippen auf seinen dampfenden brodo di pesce, den der Kellner gerade serviert hatte — eine mit Safran gewürzte Fischsuppe, die nur dann schmeckte, wenn sie kochend heiß auf den Tisch kam. Am Revers des Mannes steckte ein Schleifchen mit der Trikolore. Es war nicht besonders groß, aber trotzdem gut zu erkennen: rot, weiß, grün. Die Farben der italienischen Einheit. Tron musste an den Artikel denken, den er gelesen hatte — die Hälfte davon Frauen und Kinder —, und spürte, wie sich sein Puls beschleunigte.

Er sprang auf und trat, ohne genau zu wissen, was er gleich tun würde, vor den Tisch des Mannes. Als er gerade die Polizeimarke aus der Tasche seines Gehrocks zog, berührte jemand seine Schulter. «Commissario?»

Tron fuhr auf dem Absatz herum - und erblickte Bossi, der vorschriftsmäßig salutierte. Tron verdrehte die Augen und seufzte. «Was gibt es, Ispettore?»

«Wir haben die Wasserleiche identifiziert», sagte Bossi knapp.

Wie bitte? Tron hatte Schwierigkeiten, seine Gedanken von dem fliehstirnigen Suppenlöffler auf die Frauenleiche an den Fondamenta degli Incurabili zu lenken. Die Hälfte von ihnen Frauen und Kinder. Im Grunde, dachte Tron, war der Mörder, den sie suchten, harmlos. Ein ganz kleiner Fisch. Die wirklich gefährlichen Killer trugen Uniform. Und kriegten Orden für ihre Verbrechen.

Er räusperte sich. «Was ist passiert?»

«Der Gondoliere und die Zofe der Frau waren auf der Questura, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben», sagte Bossi leise.

«Jetzt erst?»

«Sie haben sich gescheut, zur Polizei zu gehen.»

«Warum?»

Bossi lächelte schief. «Livia Azalina — das ist der Name der Frau — war eine mammola.»

«Eine mammola mit Gondoliere und Zofe?»

Bossi nickte. «Mit Kundschaft ausschließlich aus gehobenen Kreisen. Sie hat vom Bahnhof in Verona aus ein Telegramm mit ihrer Ankunftszeit in Venedig geschickt. Nur dass sie nie dort ankam.»

«Wann war das?»

«Am Sonntag vor einer Woche. Sie hat den Nachtzug genommen. Und am Donnerstag», fuhr Bossi fort, «ist die Leiche an den Zattere gefunden worden. Dr. Lionardo hat geschätzt, dass die Tote drei bis vier Tage im Wasser getrieben hat. Es passt also alles zusammen.»

«Ist das der einzige Grund, aus dem Sie glauben, dass es sich bei Signorina Azalina um die Frau von den Zattere handelt?»

Bossi schüttelte den Kopf. «Ich habe der Zofe und dem Gondoliere das Armband gezeigt, und sie haben es sofort wiedererkannt.»

«Also hat die Signorina den Zug in Verona bestiegen und ist nie in Venedig angekommen, weil sie ...»Tron hielt inne, weil ihn das Schlürfgeräusch hinter ihm irritierte.

«In ihrem Coupe ermordet wurde», ergänzte Bossi den Satz.

Tron nickte. «Und der Mörder hat ihre Leiche in die Lagune geworfen, weil er in Venedig nicht aus einem Abteil steigen wollte, in dem man vielleicht ein paar Minuten später eine Tote gefunden hätte.» Er sah Bossi an. «Was bedeutet, dass der Mann, der den Mord auf der Gondel und den Mord in der Pensione Seguso verübt hat — wenn es denn ein und derselbe ist -, am vorletzten Sonntag den Nachtzug von Verona nach Venedig benutzt hat.»

«Und da wäre noch etwas», sagte Bossi.

«Was?»

«Auf der Wache an der Piazza wartet ein Signore, der Sie sprechen möchte», sagte Bossi. «Er weiß etwas über den Mord in der Pensione Seguso.» 

«Hat er Ihnen etwas Genaueres mitgeteilt?»

Bossi schüttelte den Kopf. «Er möchte persönlich mit Ihnen reden. Er sagt, er kennt Sie. Ein Signor Muratti.»

Tron überlegte kurz. «Ein kleiner Dicker?»

«Klein, dick und schmierig», bestätigte Bossi.

«Muratti betreibt ein Hotel in der Nähe vom Rialto», sagte Tron. Er warf, im Begriff zu gehen, noch einen Blick über die Schulter. Der Mann mit der fliehenden Stirn und der Trikolore am Revers blies immer noch auf seine heiße Fischsuppe, und plötzlich hatte Tron das Gefühl, dass er etwas erledigen musste, bevor er sich auf den Weg machte — er wusste auch, was. Auf Bossis Aussage würde er sich, trotz der Trikolore am Revers des Mannes, verlassen können. «Einen kleinen Moment noch, Ispettore.»

Tron drehte sich langsam um. Dann zog er zum zweiten Mal seine Polizeimarke aus der Tasche und sagte zu dem Mann: «Wenn Sie jetzt nicht sitzen bleiben, nehmen wir Sie fest.»

Der Mann hob den Kopf und starrte ihn verständnislos an. Tron sah die Rillen, die der Kamm durch sein fettiges schwarzes Haar gezogen hatte. «Ich soll was?»

Tron lächelte. «Einfach sitzen bleiben.»

Ein blubberndes Geräusch kam von den Lippen des Mannes. Er zog die Schultern hoch. «Ich sitze bereits.» War da ein piemontesischer Akzent herauszuhören? Dieser leichte Anklang ans Französische. Kam der Bursche womöglich aus Turin?

Tron lächelte breit. «Wir könnten Sie vier Tage festhalten, bevor sich ein Richter für Sie interessiert. Und das ist genau das, was wir tun werden, wenn Sie aufstehen.» Er wandte sich an Bossi, der neben ihm stand und mit seinen blitzenden Sternen auf den Schulterklappen die Staatsmacht verkörperte. «Richtig, Ispettore?»

Bossi, der Tron besorgt ansah, beschränkte sich darauf, stumm zu nicken. Tron hatte den Eindruck, dass Bossi den Mann kannte, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Plötzlich war ihm, als ob ein wildes Tier in seinem Inneren tobte und ihn in Stücke reißen würde, wenn er es nicht von der Kette ließ. Er hatte keine Wahl.

Die Hälfte von ihnen Frauen und Kinder.

Tron hob den Teller mit dem dampfenden brodo di pesce hoch und hielt ihn über den Kopf des Mannes. Als er kurz davor war, den Teller umzudrehen, fragte er sich, ob er nicht auch verrückt war.