Eigentlich hätte es genau umgekehrt sein müssen, dachte Monsieur Grenouille. Dem Klischee zufolge hätte der Italiener in seiner abgewetzten Jacke den gutgekleideten Österreicher mit einem Messer bedrohen sollen. Doch es war der gutgekleidete und offenbar alkoholisierte Österreicher, der den Italiener in die Ecke des Wachraums der Questura getrieben hatte. Jetzt zerfetzte er die Luft vor ihm mit der Klinge, wobei er unablässig schrie: «Ich mach dich kalt! Ich mach dich kalt!»
Neben den beiden Männern stand ein uniformierter Sergente. Der machte allerdings keine Anstalten einzugreifen, sondern beschränkte sich darauf, die Hände zu ringen und mit flehender Stimme Prego, Signori! Prego, Signori\ zu rufen. Worauf der messerschwingende Österreicher dem Sergente, ohne ihn anzusehen, antwortete: «Ich mach ihn kalt! Ich mach ihn kalt.» Es war wie ein Duett in einer Oper von Verdi.
Ein knappes Dutzend Personen verschiedenen Standes, die alle irgendein Anliegen in die Questura geführt hatte, waren freudig näher getreten, um nichts von dem aufregenden Schauspiel zu versäumen, das sich ihnen so unerwartet bot. Ein Mann mit einer grünen Schürze entkorkte in aller Ruhe eine Weinflasche. Ein anderer Mann verspeiste geröstete Kastanien aus einer Tüte und bot sie höflich seinem Nachbarn an. Monsieur Grenouille, der die Questura wegen eines gestohlenen Passes aufgesucht hatte, spürte, wie das Publikum darauf brannte, Blut fließen zu sehen. Dann hätten sie anschließend etwas zu erzählen.
Gegen ein wenig Blut hatte auch Monsieur Grenouille nichts einzuwenden. Das würde seiner Venedigreise einen Einschlag ins Abenteuerliche geben. Insofern war es ganz in seinem Sinn, dass die Auseinandersetzung zwischen den beiden Streithähnen jetzt an Dramatik zunahm - so als wüssten die beiden, was sie ihrem Publikum schuldig waren. Der schmierige Italiener hatte den Rücken an die Wand gepresst. Seine Hände kreisten in der Luft, offenbar in der Hoffnung, das Handgelenk des verrückten Österreichers zu packen, bevor die Klinge auf ihn herabsauste. Was sie jetzt auch tat, doch sie verfehlte die Brust des Italieners und blieb stattdessen an der rechten Hand des Mannes hängen.
Der Italiener schrie auf und riss die blutige Hand zurück, so als hätte er sie versehentlich über ein offenes Feuer gehalten. Na, bitte. Da war es endlich — das Blut, auf das die Zuschauer gehofft hatten. Nur ein paar Tropfen, denn die Klinge hatte die Hand des Italieners lediglich gestreift. Aber immerhin.
Beifälliges Gemurmel war zu vernehmen.
Der Mund des Italieners stand jetzt weit auf. Sein Gesicht war aschfahl. Monsieur Grenouille, der ebenfalls interessiert näher getreten war, konnte sehen, wie dem Mann der Schweiß in Strömen von der Stirn lief.
Der Sergente unternahm immer noch nichts.
Plötzlich packte der Österreicher den Italiener an der Schulter und riss ihn mit ganzer Kraft herum, sodass der Mann um seine eigene Achse wirbelte. Dann schlang er von hinten den linken Arm um seinen Hals. In der rechten Hand hielt er das Messer. Offenbar war er wild entschlossen, dem dicken Italiener die Klinge in die Brust zu rammen. Der hatte die Augen geschlossen und holte in kurzen, keuchenden Atemzügen Luft. Dazu bewegten sich seine Lippen. Obwohl nichts zu verstehen war, wusste Monsieur Grenouille, was er murmelte: Ora pro nobis peccatoribus nunc et in hora mortis nostrae. Wie auf Kommando wurde es still.
Religiöse Ergriffenheit breitete sich unter den Zuschauern aus. Aus den Augenwinkeln sah Monsieur Grenouille, wie der Mann mit den gerösteten Kastanien sich bekreuzigte. Der Mann mit der Weinflasche nahm seinen Hut ab.
In diesem Moment gab der Sergente einen Schuss in die Decke ab. Die Kugel riss ein faustgroßes Loch in den Putz und brachte die von der Decke herabhängenden Petroleumlampen zum Zittern. Gips rieselte aus dem Loch und schwebte wie feiner Pulverschnee auf den Fußboden. Das Publikum starrte erst auf das Loch in der Decke, dann auf den Sergente, der seinerseits erschrocken auf die Waffe in seiner Hand starrte. Dann hob er den Kopf, blickte zur Seite, und Monsieur Grenouille sah, wie sich Erleichterung auf seinem Gesicht ausbreitete. Worauf der Monsieur ebenfalls den Kopf drehte und den Mann bemerkte, der zusammen mit einem uniformierten Ispettore den Wachraum betreten hatte.
Der Mann war mittelgroß und hatte dunkelblondes, ins Graue spielendes Haar. Er trug einen abgewetzten Gehrock, dazu ein weißes Kavalierstuch, das ihm einen Einschlag ins Künstlerische gab. Auf seiner Nase saß ein goldgeränderter Kneifer. Monsieur Grenouille schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Der Mann stand ruhig an der Tür. Das, was er im Wachraum sah, schien ihn nicht zu beeindrucken. Lediglich seine linke Augenbraue zog sich ein wenig nach oben, als er das Loch in der Decke sah.
Inzwischen hatte es der Italiener geschafft, sich der Umklammerung des Österreichers zu entziehen, war diesem aber noch lange nicht entkommen. Wieder drängte er sich kreidebleich in die Ecke, und wieder zerschnitt der Österreicher die Luft vor seiner Nase und schrie: «Ich mach dich kalt.»
Der Sergente stand immer noch untätig daneben. Nur dass seine Augen jetzt zwischen dem Mann an der Tür und den beiden Streithähnen hin und her wanderten. Offenbar erwartete er von dem Mann, dass er das Problem löste. Das schien auch das Publikum zu erwarten, denn alle Augen waren zur Tür gerichtet. Bei dem Mann handelte es sich, vermutete Monsieur Grenouille, um den zuständigen Commissario. Natürlich fragten sich alle, was er jetzt unternahm.
Doch der Commissario unternahm gar nichts. Er stand einfach nur da und ließ den Blick nachdenklich durch den Raum schweifen. Das Gebrüll des Österreichers ignorierte er. Nachdem fast eine Minute verstrichen war und das Publikum bereits anfing, sich zu langweilen, setzte er sich in Bewegung und ging mit langsamen Schritten auf die Streithähne zu. Ein knapper Wink mit der Hand hatte den uniformierten Ispettore an seiner Seite angewiesen, zurückzubleiben.
Monsieur Grenouille sah, wie der Commissario auf dem Weg zu den beiden Männern vor einem Tisch, an dem ein anderer Sergente saß, stehenblieb. Er beugte sich vor und ergriff den Kaffeebecher auf dem Tisch. Hob ihn an seine Nase, roch daran und nickte befriedigt. Der Kaffee dampfte. Er war heiß und schien gerade erst aufgebrüht worden zu sein. Mit dem dampfenden Becher in der Hand ging der Commissario langsam weiter. Dicht vor den Männern blieb er stehen.
Eigentlich hatten alle erwartet, dass er jetzt etwas sagte. Aber er stand nur da und guckte. Was den Österreicher offenbar dazu veranlasste, sein Gebrüll einzustellen, das Messer sinken zu lassen und den Commissario mit weit aufgerissenen Augen anzuglotzen. Der nickte dem Österreicher zu und führte dann ohne Eile den Kaffeebecher zum Mund. Nein - nicht ganz zum Mund. Denn jetzt geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte.
Die Bewegung war kurz und knapp, nicht mehr als ein kräftiges Schlenkern des Handgelenks. Der Becher des Commissarios schnellte nach oben, und heißer Kaffee schoss auf das Gesicht des Österreichers. Der ließ das Messer mit einem lauten Schrei fallen und fuhr sich mit beiden Händen über die Augen. Was dem Commissario die Gelegenheit gab, ihm einen wohlgezielten Tritt in den Schritt zu verpassen. Ein weiterer Tritt gegen seine Hüfte brachte den Burschen zu Fall. Ein letzter Tritt landete, als der Mann bereits am Boden lag, auf seiner Nase, aus der sich sofort ein Sturzbach roten Blutes ergoss.
Worauf der Italiener erleichtert auf die Knie sank und das Publikum, das die polizeilichen Maßnahmen des Commissarios mit beifälligem Gemurmel begleitet hatte, laut applaudierte.
Den Tritt auf die Nase fand Monsieur Grenouille ziemlich brutal. Andererseits rundete er — künstlerisch betrachtet — das Geschehen ab, setzte gewissermaßen einen effektvollen Schlussakkord. Und die Italiener hatten bekanntlich einen ausgeprägten Sinn für theatralische Effekte.
Der Commissario drehte sich langsam um. Er zupfte sein Kavalierstuch zurecht, und einen Moment lang hätte Monsieur Grenouille schwören können, dass er sich verbeugen würde, aber er beschränkte sich auf ein flüchtiges Lächeln.
«Ich will einen Bericht, Bossi», sagte er zu dem uniformierten Ispettore, der sich mit verwundertem Gesichtsausdruck genähert hatte. «In einer halben Stunde in meinem Büro.» Der Commissario warf einen angewiderten Blick auf den Fußboden, bevor er sich zum Gehen wandte. «Und dann soll jemand das Blut aufwischen.»