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Spaur leuchtete. Sein Gesicht hatte sich mit jedem Wort, das Tron sprach, aufgehellt. Als Tron mit seinem Bericht über die Ereignisse im Palazzo Cavalli zu Ende gekommen war, hatte der Polizeipräsident den entrückten Ausdruck eines Mannes, der soeben in der staatlichen Lotterie den Hauptgewinn gezogen hatte.     

«Das alles», sagte Spaur strahlend, «ist äußerst peinlich für die venezianische Polizei.» Das nachgeschobene resignierende Achselzucken konnte gar nicht unechter sein. «Aber wir müssen die Dinge nehmen, wie sie nun einmal sind.»

Der Polizeipräsident schob die Schachtel mit dem Demel-Konfekt über seinen Schreibtisch und machte — o Wunder! — eine einladende Geste. Tron erinnerte sich nicht daran, dass ihm der Polizeipräsident jemals eines seiner Pralinés angeboten hatte. «Und Stumm hat Ihnen deutlich gesagt, dass dieser Fall nicht in unsere Zuständigkeit fällt?»

«Der Oberst hat mir ausdrücklich versichert, dass er unsere Statistik nicht belastet», sagte Tron. Er entschied sich nach kurzem Überlegen für ein Stück Karamell-Ganache, das seiner Erinnerung nach immer in blaues Glanzpapier eingewickelt war.

«Dann hat sich also alles in Wohlgefallen aufgelöst», resümierte Spaur.

Ausgewickelt erwies sich Karamell-Ganache als Noisette-Praliné. Offenbar hatte jemand in Wien die Farbe des Papiers geändert. Tron ließ das Praliné in seinem Mund verschwinden. «So scheint es jedenfalls», sagte er etwas undeutlich.

Spaur überhörte diese Bemerkung — oder hatte sie tatsächlich nicht gehört, denn bei dem Wort Wohlgefallen hatte er intensiven Blickkontakt mit der Fotografie seiner Gattin auf seinem Schreibtisch aufgenommen. «Also können die Baronin und ich», fuhr er fort, den Blick immer noch auf ihr Bild gerichtet, «weiterhin mit Einladungen Seiner Hoheit rechnen. Die Baronin hatte sich gestern Abend gefragt, warum es ausgerechnet der Comte de Chambord sein musste.»

Tron ließ die Frage unkommentiert und beschloss, ein wenig deutlicher zu werden. «Falls sich keine neuen Gesichtspunkte ergeben, Baron.»

Spaurs Augenbrauen zogen sich zusammen. «Was soll das heißen, Commissario?»

«Dass ich dieser Lösung nicht traue.»

«Obwohl die Beweise klarer nicht sein könnten?»

«Die einzigen Beweise, die wir haben, sind Messer, Masken und Lederriemen», sagte Tron.

«Das sollte ausreichen.»

«Die Frage ist, wie diese Beweisstücke in das Zimmer von Signor Sorelli gelangt sind.»

Spaur runzelte die Stirn. «Sie unterstellen dem Oberst, dass er Signor Sorelli falsches Beweismaterial untergeschoben hat?»   

«Ich unterstelle dem Oberst gar nichts», sagte Tron. «Ich wundere mich nur darüber, dass er mir nicht gestattet, mit Signor Sorelli zu reden.»

«Das ist sein gutes Recht. Abgesehen davon frage ich mich, warum Sie mit Signor Sorelli reden wollen.»

«Ich möchte seine Version der Angelegenheit hören.»

«Sorelli wird leugnen.»

Tron nickte. «Das denke ich auch. Aber ich würde gerne wissen, mit welchen Argumenten.»

Spaur schloss den Deckel der Pralinenschachtel und warf einen bösen Blick über den Tisch. «Sie halten den Comte de Chambord immer noch für den Ausweider?» «Nein», sagte Tron. «Aber ich bezweifle trotzdem, dass Signor Sorelli die Frauen getötet hat.»

«Und wer hat sie Ihrer Meinung nach getötet?»

«Bevor ich darüber nachdenke, würde ich gerne mit Signor Sorelli sprechen.»

Spaur lächelte falsch. «Ich kann mich jederzeit auf dem offiziellen Dienstweg an den Stadtkommandanten wenden.»

Da hatte der Polizeipräsident recht. Aber das würde ein halbes Dutzend Formulare erfordern, bei deren Ausfertigung man zwei Dutzend Fehler machten konnte. Und die Kommandantura würde die Anfrage der Questura vermutlich zur Stellungnahme nach Verona schicken. Natürlich wusste Spaur das. Er wusste auch, dass Tron es wusste.

«Es wird mindestens zwei Monate dauern, bis Sie eine Antwort erhalten», sagte Tron. «Signor Sorelli könnte bereits in den nächsten Tagen nach Verona verlegt werden.»

«Dann fahren Sie ins Hauptquartier nach Verona.»

Tron schüttelte den Kopf. «Ich muss Signor Sorelli noch hier sprechen. Sie könnten ...»

Spaur unterbrach Tron, indem er die Hand hob. «Ich kann gar nichts, Commissario. Der Fall ist abgeschlossen. Die Questura wird sich nicht mehr mit dem Ausweider befassen. Als ob wir nicht auch noch anderes zu tun hätten.»

«Etwas Dringendes liegt im Moment nicht an, Baron.»

«Gar nichts? Trotz des Karnevals?»

«Taschendiebe auf der Piazza, Falschspiel im Café Oriental, ein paar Schlägereien auf dem Molo und der Verkauf von anstößigen Fotografien auf der Riva degli Schiavoni.»

«Also Kleinigkeiten», sagte Spaur. «Das ist ein Beleg für die Effektivität der venezianischen Polizei.» 

«Nicht alle Fälle», sagte Tron, dem plötzlich ein Einfall gekommen war, «sind Kleinigkeiten. Es gibt auch einen dokumentierten und durch Zeugenaussagen bewiesenen Fall von widernatürlicher Unzucht.»

Spaurs Augenbrauen zogen sich entsetzt zusammen. «Sie meinen doch nicht etwa den Comte de Chambord? Ist das Ihr Ernst?»

«Wir haben ein Protokoll der Vernehmung von Signor Lupi», sagte Tron. Er setzte einen bedauernden Gesichtsausdruck auf. «Und es findet sich leider immer jemand, der plaudert. Diese Geschichte wäre ein gefundenes Fressen für die französische Presse.»

«Soll das heißen, dass Sie ...»

Tron verstärkte seinen bedauernden Gesichtsausdruck. «Ich weise lediglich auf die Möglichkeit von Indiskretionen hin.»

War das deutlich genug? Sollte er noch die Gefühle schildern, die der Comte beim Lesen eines entsprechenden Artikels empfinden würde? Und Vermutungen über die Reaktion der Baronin äußern. Nein, offenbar war seine Bemerkung deutlich genug gewesen.

Spaur stieß den Seufzer eines Mannes aus, der gezwungen ist, sich einer üblen Erpressung zu beugen. «Was wollen Sie, Commissario?»

«Ein paar Zeilen an Generalleutnant Nadolny», sagte Tron in neutralem Geschäftston. «Schreiben Sie, dass Sie für einen Ihrer Beamten außerhalb des regulären Dienstweges einen Passierschein brauchen, weil dieser Beamte mit Signor Sorelli sprechen muss. Es wird niemand von dem Besuch erfahren.»