Das Kleid war aus grünlich changierender Seide und hatte ein mit winzigen Perlen besetztes Oberteil, das im Schein der Petroleumlampen verführerisch funkelte. Es hing über einer samtüberzogenen Schneiderpuppe im Schaufenster von Petrucci. Direkt neben dem Café Quadri gelegen, war Petrucci das Modegeschäft Venedigs. Jedenfalls, dachte Carla Dolci, wenn man das nötige Kleingeld hatte.
Hinter der Schneiderpuppe war ein niedriger Vorhang angebracht; durch ihn hindurch konnte sie ein elegantes Paar sehen, das gerade mit einem der Angestellten verhandelte. Die Dame lachte, und Carla Dolci fragte sich, ob auch sie eines Tages bei Petrucci einkaufen und mit dem Verkäufer scherzen würde. Sie schätzte, dass sie mindestens ein Jahr lang arbeiten müsste, um sich ein solches Kleid wie im Schaufenster kaufen zu können. Was bedeutete, dass sie es sich nie leisten konnte.
Sie trat zur Seite, um einer Dame und einem Herrn Platz zu machen, die sich dem Schaufenster von Petrucci genähert hatten. Als sie sich umdrehte, traf ihr Blick den des Mannes, und der Bursche hatte tatsächlich die Nerven, ihr zuzuzwinkern. Hatte er erkannt, wie sie ihre Brötchen verdiente? Vielleicht an der etwas zu dick aufgetragenen Schminke? Oder an den schwarzen Wimpern, die ein wenig zu lang waren, um echt zu sein? Wahrscheinlich. Es war auch wenig sinnvoll, dass man es ihr nicht ansah, in welchem Gewerbe sie arbeitete. Schließlich konnte sie sich kein Schild um den Hals hängen, auf dem ihre Tarife standen.
Was sie konnte und jetzt tat, war, mit wiegenden Hüften die Piazza zu überqueren und dabei einzelne Herren mit anzüglichen Blicken zu bedenken. Natürlich geschah dies mehr oder weniger automatisch, denn sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, hier nach Kunden zu fischen — schon gar nicht an einem erstaunlich milden Februarabend, der halb Venedig auf die Piazza getrieben hatte. Der Markusplatz war für ihr Gewerbe tabu. Da verstand Ispettor Bossi, der gutaussehende Leiter der Polizeiwache an der Piazza, keinen Spaß.
Carla Dolci blieb im trüben Licht einer Gaslaterne vor dem Palazzo Ducale stehen und zündete sich eine Zigarette an. Die dünne Rauchsäule stieg auf und verflüchtigte sich in der nebligen Nachtluft. Als ein maskierter Signore an ihr vorbeilief und ihr einen Blick zuwarf, fühlte sie sich einen Moment lang unbehaglich. Hatte sie sich jetzt auch von der Nervosität ihrer Kolleginnen anstecken lassen? Sie war sich nicht mehr so sicher.
Natürlich waren die Gespräche, die sie in den letzten Tagen geführt hatten, immer nur um ein Thema gekreist: Hatte sich der Verrückte, der auf der Gondel und im Seguso zugeschlagen hatte, aus dem Staub gemacht, oder lag er noch immer auf der Lauer? Die eine Hälfte der Frauen war davon überzeugt, dass der Mann Venedig verlassen hatte, während die andere glaubte, er halte sich immer noch in der Stadt auf und könne jederzeit wieder zuschlagen. Ähnlich kontrovers wurde die Blondinenfrage diskutiert. War es reiner Zufall, dass ausgerechnet zwei blonde Frauen gestorben waren, und hätte es ebenso gut eine Brünette treffen können? Wenn es stimmte, dass sich der Mann ausschließlich an Blondinen hielt, musste sie allerdings auf der Hut sein.
Doch Carla Dolci hatte sich inzwischen längst eine eigene Meinung gebildet. Für sie stand fest, dass der Mann die Stadt verlassen hatte und es sich rein zufällig um Blondinen gehandelt hatte. Folglich gab es nicht den geringsten Grund, mitten in der Karnevalszeit eine Arbeitspause einzulegen, zumal sich die Tarife innerhalb von zwei Tagen um ein Viertel erhöht hatten. Risikoprämie hatte es einer ihrer Kunden gestern genannt — ein Wort, das ihr nicht bekannt war. Jedenfalls konnte ihr das nur recht sein. Nach kurzem Nachdenken beschloss sie, ihr Glück heute Abend im Stella zu versuchen.
*
Ein Stunde später schloss Carla Dolci die Tür eines Zimmers im Imperiale auf und gratulierte sich dazu, wie schnell alles gegangen war. Das Stella war gerammelt voll gewesen, und sie hatte freie Auswahl gehabt. Entschieden hatte sie sich für einen Herrn mittleren Alters ohne Mundgeruch. Dass er eine schwarze Halbmaske trug — geschenkt. Jeder zweite Mann im Stella trug eine schwarze bautta. Auch dass er mit einem ausländischen Akzent sprach, irritierte sie nicht. Viele Gäste im Stella sprachen mit einem ausländischen Akzent. Als Signor Crespi, der Concierge, ihr den Schlüssel aushändigte, hatte er ihr einen besorgten Blick zugeworfen. Kein Wunder — er gehörte zu der Fraktion, die fest davon überzeugt war, dass sich der Gondelmörder immer noch in der Stadt aufhielt.
Doch selbst falls das zutreffen sollte, dachte sie amüsiert, dann doch gewiss nicht in ihrem Zimmer. Der Mann, der jetzt seine Maske abgenommen hatte, bot ein Bild vollendeter Harmlosigkeit. Auf seine Stirn, Nase, Kinn und Mund traf nur ein Wort zu: unauffällig. Er hielt sich kerzengerade, vermutlich wollte er sich als Offizier in Zivil präsentieren. Viele Zivilisten taten das, um sich ein Air zu geben. Meistens wirkte es lächerlich.
Genauso lächerlich wie der militärische Ton, den der Bursche jetzt anschlug. Er hatte seinen Gehrock ausgezogen und lag, den Rücken an die Wand gelehnt, in Hemdsärmeln auf dem Bett. Neben ihm auf dem Nachttisch stand die obligatorische, im Preis inbegriffene Flasche Champagner.
«Aufheben und auf den Bügel», sagte der Bursche. Er zeigte auf seinen Gehrock, der vom Fußende des Bettes gerutscht war.
Im Hinblick auf das, was nun auf dem Programm stand, fand sie diesen Ton ein wenig barsch. Aber wenn der Kerl das brauchte — warum nicht? Vor zwei Wochen hatte ein Kunde von ihr verlangt, dass sie erst strammstand und anschließend — äußerst locker bekleidet — salutierte. Zwanzigmal hintereinander. Selbstverständlich hatten sie sich vorher über die Kosten für diese zusätzliche Leistung geeinigt.
Sie bückte sich, wobei sie auf ein routinemäßiges Lächeln verzichtete — Rekruten auf dem Kasernenhof lächelten nicht. Dann hob sie den Gehrock auf und ging langsam zum Schrank.
*
Vermutlich, dachte sie später, hätte sie das Messer nicht entdeckt, wenn ihr der Gehrock nicht aus der Hand gerutscht wäre, als sie ihn auf den Bügel hängen wollte. Gerade wollte sie ihn aufheben, da sah sie, wie sich unter dem Stoff der Außentasche ein kleiner, schmaler Gegenstand abzeichnete, nicht länger als eine Hand. Den Rücken zum Bett, bückte sie sich, dabei ließ sie die Finger ihrer rechten Hand in die Tasche des Gehrocks gleiten und zog den Gegenstand hervor. Die Petroleumlampe stand hinter ihr auf dem Nachttisch, sodass ihr Körper einen Schatten warf, aber das Licht reichte aus, um zu erkennen, was sie in der Hand hielt: ein längliches Gerät aus Holz, das in der Mitte einen Schlitz hatte und an einer Seite ein Scharnier. Dann begriff sie — und ihr Verstand befand sich plötzlich in freiem Fall —, dass es sich um ein Rasiermesser handelte.
Ein Rasiermesser.
Weiß der Himmel, woher der Entschluss kam, nicht schreiend aus dem Zimmer zu flüchten. Auf einmal wusste sie, was zu tun war. Was nicht bedeutete, dass sie keine Angst hatte und ihr das Herz nicht bis zum Hals klopfte. Als sie sich umdrehte, fühlten sich ihre Beine an wie Gummi, aber sie schaffte es, die paar Schritte bis zum Kopfende zu machen, ohne zu straucheln. Es gelang ihr auch, die Champagnerflasche zu nehmen und dabei zu lächeln. Der Mann hatte sich halb aufgerichtet und blickte ihr ins Gesicht. Deshalb entging ihm auch, dass sie die Champagnerflasche am Hals gepackt hatte — wie eine Keule.
Sie lächelte immer noch, als die Flasche auf den Kopf des Mannes herabsauste, seine Stirn traf und zerplatzte wie bei einer Schiffstaufe. Ein paar Spritzer landeten auf ihrem Gesicht. Der Mann stieß mit dem Kopf gegen die hölzerne Rückwand des Bettes, prallte ab wie eine Billardkugel und kippte dann seitlich weg. Rotes Blut strömte aus einer Stirnwunde und sickerte in das Kissen. Der Mann hatte die Augen geschlossen. Er röchelte, und einen Augenblick später ging das Röcheln in ein flaches, unregelmäßiges Atmen über. Hätte sie zu diesem Zeitpunkt noch eine intakte Flasche in der Hand gehabt, so hätte sie vermutlich ein zweites Mal zugeschlagen - gewissermaßen, um den Vorgang abzuschließen. Doch das wäre, wie sich später herausstellte, keine gute Idee gewesen.
Also trat sie einen unsicheren Schritt zurück, kam ins Stolpern und wäre gefallen, wenn sie sich nicht am Pfosten des Bettes festgehalten hätte. Dann schloss sie die Augen, machte einen tiefen, keuchenden Atemzug und stieß den lautesten Schrei ihres Lebens aus — einen von der Sorte, die mühelos durch dicke Wände dringt und Gläser zerspringen lässt.
Signor Crespi, einen Bleistift in der Hand, hörte den Schrei, als er gerade die Anmeldeformulare der letzten Woche ordnete. Das Hotel Imperiale war kein reines Stundenhotel. Es gab immer eine Reihe von alleinstehenden Herren, die hier länger logierten und denen er gerne behilflich war, etwas Passendes für die Nacht zu finden. Signor Crespi kannte den Artikel in der Gazzetta. Natürlich wusste er auch, was dem Kollegen in der Pensione Seguso passiert war. Er sprang von seinem Schreibtisch auf, rannte zur Treppe, kehrte dann aber wieder zurück, um schnell einen Revolver aus der Schublade zu ziehen. Die Waffe, die er offiziell gar nicht besitzen durfte, war nicht geladen, und Signor Crespi besaß auch keine Munition. Er war davon ausgegangen, dass es in den meisten Fällen ausreichend war, den Revolver zu zeigen und den Hahn knacken zu lassen — ein Fall, der bisher noch nie eingetreten war. Ob er mit seiner Vermutung recht hatte, würde sich jetzt herausstellen.
Als Carla Dolci die Augen wieder öffnete, erkannte sie Signor Crespi unter dem Türsturz. Er hatte große, vom Schreck geweitete Augen, hielt einen Revolver in der Hand und sah ausgesprochen verstört aus. Ihr Verstand war inzwischen nicht mehr in der Lage, den Ereignissen zu folgen, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass sie jetzt in Sicherheit war. Dann gaben ihre Beine nach und sie sank zu Boden. Das Letzte, was sie sah, bevor sich eine gnädige Ohnmacht über sie breitete, war das Bild eines perlenbesetzten Kleides, das im Schaufenster eines Ladens an der Piazza hing.