«Ein doppeltes Doppelleben», sagte Bossi nachdenklich, «ist philosophisch betrachtet eine interessante Vorstellung.»
Der Ispettore lehnte sich in das Polster der Polizeigondel zurück und schrammte mit seinem Stiefel haarscharf an Trons neuem Zylinderhut vorbei, den dieser auf dem Boden abgelegt hatte. Sie hatten den Dogenpalast und den Molo passiert und näherten sich jetzt der Mündung des Canalazzo. Da es seit den frühen Morgenstunden nicht mehr regnete, hatten sie auf den felze — das kleine schwarze Zelt auf der Gondel — verzichtet. Es war kurz vor zehn, und wahrscheinlich, dachte Tron, würde er den Comte de Chambord wieder beim Frühstück stören. In der Hand hielt er einen großen Umschlag, in dem das Verhörprotokoll von Lupi steckte.
«Weil sich nämlich», fuhr Bossi fort, «die Frage stellt, wer hier ein doppeltes Doppelleben fuhrt.»
«Der Comte de Chambord natürlich.»
«Oder ein Serienmörder. Jemand, der auch Comte de Chambord und auch Liebhaber eines jungen Neapolitaners ist. Aber primär ein Serienmörder.»
«Warum sagen Sie das?»
«Weil eine taktvolle Rücksicht auf den Ausweider fehl am Platz wäre.»
Tron, der endlich verstand, worauf der Ispettore hinauswollte, musste lachen. «Bossi, ich will Ihnen erklären, warum ich mit Chambord unter vier Augen sprechen muss. Der Comte wird gezwungen sein, über Dinge zu reden, über die er nur höchst ungern spricht. Wenn eine uniformierte Person dabei ist, hat diese Unterredung den Charakter eines Verhörs. Und ich möchte ein inoffizielles Gespräch mit ihm führen. Ich will, dass er redet. Es kann sein, dass ihn jemand in der Hand hat. Jemand, der zu viel über ihn weiß.»
«Das halte ich für spekulativ.»
«Wenn Sie die Stimme des Comtes nicht wiedererkennen», sagte Tron, «ist diese Überlegung mehr als eine Spekulation.» Er sah Bossi an. «Erinnern Sie sich daran, was Sie in diesem Fall sagen sollten?»
«Ich warte auf Sie in der Questura.» Bossis Miene signalisierte, dass er nicht damit rechnete, diesen Satz aussprechen zu müssen.
«Genau.» Tron bückte sich, um seinen Zylinderhut aus der Reichweite von Bossis Stiefeln zu rücken. «Wenn ich Sie dem Comte vorgestellt habe, übergeben Sie ihm die Schnupftabaksdose. Das wird ihn überraschen und zu einem Kommentar veranlassen. Ein paar Sätze sollten ausreichen, um seine Stimme wiederzuerkennen — oder auch nicht. Anschließend lassen Sie sich den Empfang des Stückes durch die Unterschrift Seiner Hoheit bestätigen und gehen wieder.»
Bossis Mundwinkel zogen sich beleidigt nach unten. «Ich muss also gehen, weil Sie die Gefühle dieses Mannes nicht verletzen wollen.»
«Weil ich seine Aussage brauche», sagte Tron. «Es steht keineswegs fest, dass es sich bei dem Ausweider um den Comte de Chambord handelt.»
«Um wen denn sonst, Commissario? Um Signor Sorelli? Oder um Pater Francesco?»
«Ich weiß es nicht. Und deshalb muss ich dieses Gespräch mit dem Comte unter vier Augen führen.»
*
Wie bei Trons letztem Besuch im Palazzo Cavalli dauerte es auch diesmal einige Minuten, bis sich der Comte im Empfangssalon einfand. Während sie warteten, bewunderte Bossi das Porträt des Sonnenkönigs und registrierte das halbe Dutzend Schnupftabaksdosen auf dem Konsoltisch. Tron war ans Fenster getreten und blickte auf die gusseiserne Accademia-Brücke und den Canalazzo hinab. Ein lockerer Möwenschwarm flog über die Brücke wie ein Verbinde-die-Punkte-Rätsel, das ein Gesicht oder eine Faust bedeuten konnte — oder auch irgendetwas, dachte Tron, das keinen Sinn ergab.
Als der Comte de Chambord schließlich erschien, machte er den Eindruck eines Mannes, den man gerade in helle Aufregung versetzt hatte. Er schien unangenehm überrascht zu sein, Tron und den Ispettore zu sehen. An der Tür blieb er stehen und verbeugte sich knapp. «Was können wir für Sie tun, Signori?» Das klang nicht so, als hätte er große Lust, etwas für seine Besucher zu tun.
Tron kam sofort zur Sache. «Es hat sich etwas eingefunden», sagte er, «das aus dem Besitz Seiner Hoheit stammen müsste.» Bossi holte die Schnupftabaksdose aus der Tasche.
Beim Anblick des Gegenstandes zogen sich die Augenbrauen des Comtes zusammen. «Woher haben Sie dieses Stück?»
Tron antwortete mit einer Gegenfrage. «Sind Hoheit sicher, dass diese Dose Ihrer Hoheit gehört?»
Der Comte nahm die Dose in die Hand, klappte den Deckel auf, schloss ihn wieder und untersuchte den Boden. Schließlich nickte er. «Ja, sie ist uns im letzten Monat abhandengekommen.»
«Wo abhandengekommen?»
«Irgendwo in Venedig», sagte der Comte vage. Und dann, mit einem nervösen Flackern in den Augen: «Woher wussten Sie, dass es sich um unsere Schnupftabaksdose handelt?»
«Das erkläre ich Hoheit», sagte Tron mit einem Seitenblick auf Bossi, «wenn Hoheit dem Ispettore den Empfang der Dose quittiert haben.» Bossis Miene war noch nicht zu entnehmen, ob er die Stimme des Comtes wiedererkannt hatte.
Tron räusperte sich. «Sehe ich Sie nachher, Ispettore?»
Über diese Frage musste Bossi noch ein wenig nachdenken. Schließlich sagte er mit verdrossener Stimme: «Ich warte auf Sie in der Questura.»
*
«Diese Dose», sagte Tron, nachdem Bossi den Salon verlassen hatte, «wollte ein gewisser Antonio Lupi an Monsieur de Sivry verkaufen. Sie kennen das Geschäft von Monsieur de Sivry?»
Als der Name Lupi fiel, war der Comte de Chambord zusammengezuckt. Er nickte stumm.
«Signor de Sivry sagte uns», fuhr Tron fort, «er habe Hoheit dieses Stück selber verkauft, und er vermutet, dass Hoheit die Schnupftabaksdose gestohlen wurde. Deshalb hat er sich an die Questura gewandt. Wir hatten inzwischen eine Unterredung mit Signor Lupi. Haben Hoheit eine Erklärung dafür, wie diese Dose in seinen Besitz gelangt sein könnte?»
Tron sah den Comte aufmerksam an. Er hatte das Phänomen zu oft beobachtet, um nicht zu wissen, was jetzt kam. Da waren plötzlich rote Flecken im Gesicht des Comtes, der schnellere Atem und die charakteristischen Schweißperlen auf der Stirn.
Der Comte schloss die Augen und dachte nach — zumindest tat er so. Schließlich schlug er die Augen wieder auf. «Wir haben keine Erklärung dafür», sagte er matt.
«In diesem Fall», sagte Tron, «kann ich Hoheit behilflich sein. Hier ist das Protokoll der Vernehmung von Signor Lupi.» Er reichte es ihm über den Tisch.
Der Comte las die ersten Seiten mit unbewegtem Gesicht. Dann senkte er den Kopf und schwieg. Als er sprach, klang seine Stimme brüchig — wie die eines alten Mannes. «Was wollen Sie von uns?»
«Dass Hoheit uns behilflich sind», sagte Tron schlicht. «Vermutlich wohnt der Mann, den wir suchen, unter diesem Dach. Und diese Person könnte einiges über Hoheit wissen.»
Der Comte lachte nervös auf. «Sie meinen, wenn wir reden, redet er auch? Schweigen um Schweigen?»
Tron beschränkte sich darauf, wortlos den Kopf zu senken.
Dann sah er, wie der Comte de Chambord aufstand und mit steifen Schritten zu dem Konsoltisch lief, über dem das Porträt des Sonnenkönigs hing. Dort blieb er, den Blick auf seinen erlauchten Vorfahren gerichtet, einen Moment stehen.
Nachdem er wieder Platz genommen hatte, sagte der Comte: «Erpresst worden sind wir nicht, Commissario. Jedenfalls noch nicht. Aber wir wissen, dass der Mann, um den es hier geht, zufällig von unserer Bekanntschaft mit Signor Lupi erfahren hat.» Er seufzte. «Sie kennen unseren Privatsekretär?»
«Signor Sorelli ist ein Verwandter der Fürstin von Montalcino», sagte Tron.
Der Comte machte ein unglückliches Gesicht. «Sorelli hat fast jeden Abend das Haus verlassen. Und er hat die Artikel aus der Gazzetta über die Morde gesammelt.»
«Wenn das alles ist, dann ist es nicht sehr viel.»
«Es ist aber nicht alles. Haben Sie den Ring bemerkt, den Signor Sorelli am Finger trägt?»
«Er trägt einen goldenen Wappenring.»
«Dieser Ring», sagte der Comte de Chambord, indem er einen Blick auf seinen eigenen Wappenring warf, «zeigt ein Eichhörnchen mit einer Krone. Er stammt aus der Familie der Mutter von Signor Sorelli. Wir waren uns einig, dass er auf die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts zu datieren ist.»
«Eine Kostbarkeit also.»
Der Comte nickte. «Er ist auch in anderer Hinsicht bemerkenswert.»
«Und in welcher Hinsicht?»
«Des Eichhörnchens und der Krone wegen. Es handelt sich dabei um das Wappen der Laval-Montmorencys, die damals, als der Ring angefertigt wurde, zu den bedeutendsten Familien Frankreichs gehörten.»
«Ich kann Hoheit nicht ganz folgen.»
«Dieser Ring», sagte der Comte, «ist wahrscheinlich von einem Mann getragen worden, der im Oktober des Jahres 1440 nach einem aufsehenerregenden Prozess gehängt und anschließend verbrannt worden ist.» Er sah Tron an. «Sagt Ihnen der Name Tiffauge etwas? Schloss Tiffauge in der Normandie?»
Tron schüttelte den Kopf.
«Es gehörte in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts den Laval-Montmorencys», sagte der Comte. «Der damalige Schlossherr war Marschall von Frankreich.» Er schwieg einen Moment, bevor er weitersprach. «Der Marschall wurde im Jahre 1440 gehängt, weil er über hundert Knaben und Mädchen geschändet, gequält und anschließend getötet hat.»
Plötzlich wusste Tron, über wen der Comte sprach. Ihm fiel sogar der Name des Mannes ein. «Meinen Hoheit ...Gilles de Rais?» Tron hatte das unangenehme Gefühl, dass sich sein Verstand in freiem Fall befand. «Reden wir von ... Blaubart?»
Der Comte de Chambord nickte.
«Und Signor Sorelli trägt Blaubarts Ring?»
«Es sieht ganz danach aus.»
«Was soll damit bewiesen werden?»
«Der Ring und seine nächtlichen Ausflüge beweisen gar nichts», sagte der Comte. Er erhob sich von seinem Schreibtisch. «Aber es hat sich inzwischen ein wenig mehr ergeben.»
«Was hat sich ergeben, Hoheit?»
«Das erklärt Ihnen am besten jemand anders.»
«Und wer?»
«Er hält sich momentan im Zimmer von Signor Sorelli auf.» Der Comte de Chambord wandte sich zur Tür. «Folgen Sie uns, Commissario.»