Alvise Tron, Commissario von San Marco, schob den Teller mit den Schlagsahneresten und den Kuchenkrümeln zur Mitte seines Schreibtischs und leckte die Kuchengabel sorgfältig ab. Dann trank er einen Schluck Kaffee, lehnte sich auf seinem knarrenden Sessel zurück - und staunte über sich selbst. Hatte er diesen Mann in der Wachstube tatsächlich mit drei kraftvollen Fußtritten unschädlich gemacht? Er? Dessen eigentliche Waffe das geschliffene, wie ein Florett oder eine Kuchengabel geführte Wort war? Hatte er die Gewalt über sich verloren? War die wilde Bestie, die angeblich in jedem Mann lauert, unkontrolliert ausgebrochen?
Tron beugte sich wieder nach vorne und leckte seinen Zeigefinger nass, um die auf dem Teller verbliebenen Kuchenkrümel in seinen Mund zu befördern. Dann trank er abermals einen Schluck Kaffee und kam zu dem Schluss, dass er genau das getan hatte, was er sich vorgenommen hatte. Nämlich seine Kritiker, speziell den Stadtkommandanten Toggenburg, der eine «kraftvolle Amtsführung» bei ihm vermisste, eines Besseren zu belehren. Er verbringe zu viel Zeit in den Cafés an der Piazza, sagte man ihm nach. Dort esse er jeden Vormittag Torte, anstatt sich in der Questura um die venezianische Kriminalität zu kümmern. So ein Unsinn! Schließlich gehörte es zu seinen Pflichten, sich über die Stimmung im Volke zu informieren. Und wo war die Stimme des Volkes besser zu vernehmen als in den Cafés an der Piazza?
Jedenfalls konnte er heute mit sich zufrieden sein. Er hatte den Verrückten, über dessen Mordabsicht kein Zweifel bestand, kraftvoll aus dem Verkehr gezogen. Außerdem, überlegte er weiter, gab der Umstand, dass sein Stiefel auf der Nase eines Österreichers gelandet war, dem Vorgang eine patriotische Note. Ein italienischer Absatz auf der Nase eines Österreichers! Und wie die österreichische Nase danach geblutet hatte! Keine Frage, dass die Leute auch deswegen applaudiert hatten. Zwar hegte Tron keinerlei patriotische Gefühle und galt unter den Anhängern der italienischen Einheit als unsicherer Kantonist. Aber vielleicht war es klug, sagte er sich, gelegentlich an die Zeit danach zu denken. Schließlich konnten die Österreicher das Veneto nicht auf ewig besetzt halten. Und ein Commissario, der allzu eng mit den Besatzungsmächten verbandelt war, hatte schlechte Karten, wenn das Veneto Teil des italienischen Königreichs werden würde. Man könnte auf den Gedanken kommen, jemand anderen als Commissario von San Marco zu installieren. Vielleicht Ispettor Bossi? Den dynamischen Adepten
moderner Polizeitechnik? Der nie ein Hehl daraus gemacht hatte, dass er den Abzug der Österreicher kaum erwarten konnte?
Tron drehte den Kopf, und sein Blick fiel auf die Lithografie des Kaisers, die vorschriftsgemäß an der Wand jeder habsburgischen Amtsstube hing. Mit der beginnenden Stirnglatze und dem dumpfen Gesichtsausdruck bot Franz Joseph keinen besonders majestätischen Anblick. Das Bild hing schief, und das Glas hatte einen Sprung. Aber irgendwie, dachte Tron, hatte er sich daran gewöhnt.
*
Fünf Minuten später betrat Ispettor Bossi sein Büro. Er salutierte und nahm auf dem Bugholzstuhl vor dem Schreibtisch Platz. Wie immer wirkte der Ispettore, als wäre er gerade dem Bad entstiegen und hätte sorgfältig Toilette gemacht. Seine schwarzen Stiefel glänzten, auf seiner blauen Uniform war kein Stäubchen zu erkennen, und die Sterne auf seinen Schulterklappen funkelten. In der Hand hielt er seinen Notizblock.
«Wir haben sie vorsichtshalber in verschiedene Zellen verfrachtet», sagte Bossi. Er hatte sich so hingesetzt, dass seine penibel gebügelte Uniform keine unnötigen Falten warf. «Der Österreicher war zahm wie ein Lämmchen.»
«Und seine Nase?»
«Ist rot und angeschwollen, aber nicht gebrochen. Er hat es abgelehnt, einen Arzt zu sehen.»
Tron schob seinen Kuchenteller an den Rand des Schreibtischs. «Was ist denn eigentlich passiert?»
«Die beiden hatten einen Streit auf der Piazza, der in Tätlichkeiten ausgeartet ist», sagte Bossi. «Daraufhin sind sie von zwei Sergenti verhaftet und auf die Questura gebracht worden.»
«Und worum ging es bei diesem Streit?»
«Signor Grassi hatte sich eine Trikolore ins Knopfloch gesteckt. Direkt vor dem Café Quadri.»
Tron musste lachen. Das Quadri wurde traditionellerweise von kaiserlichen Offizieren frequentiert. Sich vor dem Café eine Schleife mit den italienischen Farben anzustecken war eine klare Provokation.
«Der Österreicher, der offenbar gerade aus dem Quadri kam», fuhr Bossi fort, «hat Grassi aufgefordert, die Schleife zu entfernen.»
«Und Grassi hat sich geweigert?»
Bossi nickte. «Worauf der Österreicher versucht hat, die Schleife abzureißen. Nachdem er ihm vorher einen Faustschlag versetzt hatte.»
«Ist dieser Grassi bereits auffällig geworden?»
«Nicht bei uns in der Questura. Ob er eine Akte auf der Kommandantura hat, kann ich nicht sagen.» Der Ispettore warf einen Blick auf seine Notizen. «Grassi betreibt eine Fleischerei am Campo San Giobbe: Sergente Caruso kennt den Mann. Seine Frau kauft bei ihm.» «Und der Österreicher? Ist er zu Besuch in Venedig?»
Bossi schwieg einen Moment. «Daraus könnte sich vielleicht ein Problem ergeben», sagte er schließlich. «Der Bursche behauptet, ein Oberst der kaiserlichen Armee zu sein.»
Tron hob überrascht den Kopf. «Er behauptet, was zu sein?»
«Ein Oberst der kaiserlichen Armee», wiederholte Bossi.
«Der keine Uniform trägt? Konnte er sich ausweisen?»
«Er hat verlangt, dass wir jemanden zur Kommandantura schicken», sagte Bossi.
«Haben Sie das getan?»
«Bossi schüttelte den Kopf. «Ich wollte erst mit Ihnen sprechen.»
«Halten Sie es für möglich, dass ein kaiserlicher Offizier sich so aufführt?»
«Der Mann war ziemlich betrunken.» Bossi sah Tron besorgt an. «Meinen Sie, wir sollten die Militärpolizei einschalten, Commissario?»
«Das können wir immer noch. Wir lassen ihn erst mal schmoren.»
«Wie lange?»
«Eine Nacht sollte er mindestens in Arrest bleiben. Der Bursche hat im Wachraum der Questura einen Mordversuch unternommen. Solange er keine Uniform trägt, ist er für mich ein Zivilist ohne Papiere.»
«Was machen wir mit Grassi?»
«Sie nehmen ein Protokoll auf, und dann lassen Sie ihn gehen», sagte Tron.
«Einfach so?»
«Signor Grassi kann sich ausweisen und hat einen festen Wohnsitz. Wir können ihn jederzeit wieder vorladen. Ich bezweifle, dass er sich gleich auf Turiner Gebiet absetzen wird. Wer schreibt den Bericht?»
«Sergente Caruso. Er hat den Schuss in die Decke abgegeben.»
«Dann soll er auf jeden Fall erwähnen, dass der Österreicher betrunken war, wirres Zeug geredet hat und nicht vernommen werden konnte.» Tron entdeckte noch ein paar Kuchenkrümel auf seinem Teller und brachte es fertig, sich rechtzeitig zu bremsen und sie nicht mit dem angeleckten Finger zum Mund zu führen. «Hat uns der Mann einen Namen genannt?»
Bossi nickte. «Er hat behauptet, sein Name wäre Stumm von Bordwehr.»
Tron verdrehte die Augen. «Oberst Stumm von Bordwehr? Das ist lächerlich. Caruso soll das in seinen Bericht aufnehmen. Niemand heißt Stumm von Bordwehr.»
Bossi erhob sich. Er strich seine Uniformjacke glatt und schnippte ein imaginäres Staubkörnchen vom Ärmel. Tron dachte, dass er sich jetzt zum Gehen wenden würde, aber offenbar hatte der Ispettore noch etwas auf dem Herzen. «Commissario?»
«Ja?»
Bossi räusperte sich. Dann sprach er in dem leicht gedämpften Tonfall, den er bei Dingen anschlug, die nicht unmittelbar mit dem Dienst zu tun hatten.
«Ich wusste gar nicht, dass Sie so ...» Der Ispettore hielt inne und sah Tron an. In seiner Miene mischten sich Erstaunen und Bewunderung. Ihm schien kein passendes Wort einzufallen.
Tron lehnte sich zurück und hob amüsiert die Augenbrauen. «So was?»
«So energisch sein können, Commissario», sagte Bossi schließlich.
Tron musste lachen. «Meinen Sie den Tritt zwischen die Beine?»
Bossi grinste. «Der Tritt auf die Nase war auch nicht schlecht.»
«Ich wollte kein Risiko eingehen.» Tron setzte ein dienstliches Gesicht auf. «Immerhin hat der Mann versucht, ein Tötungsdelikt zu begehen.»
«Es waren alle sehr beeindruckt», sagte Bossi. «Die Geschichte macht gerade die Runde in der Questura.» Sein Grinsen wurde noch breiter. «Dass der Bursche ein Österreicher war, hat den Kollegen besonders gut gefallen.» Er warf einen Blick auf die Lithografie des Kaisers und stieß einen Seufzer aus. «Und was machen wir, wenn er tatsächlich ein kaiserlicher Oberst ist?»
Tron streckte seinen Zeigefinger energisch nach einem Rest süßer Schlagsahne auf dem Teller aus. «Darüber denken wir nach, wenn es so weit ist.»