«Bemerkenswert», sagte Tron, als sie eine gute Stunde später wieder auf den Campo della Bragora traten. Der Himmel sah kränklich und bleich aus, es hatte angefangen zu nieseln.
«Was ist bemerkenswert, Commissario?» Bossi spannte seinen Regenschirm auf, um seine frischgebügelte Uniform vor Wasserflecken zu bewahren.
«Dass unser Mann nicht maskiert war», sagte Tron. «Und wie gut die Signorina das Ereignis überstanden hat.»
Für eine Frau, die dem Tod durch einen bloßen Zufall — oder das Maunzen einer Katze — entronnen war, hatte Signorina Maggiotti in der Tat einen bemerkenswert guten Eindruck gemacht. Auch die Würgemale am Hals und die Platzwunde auf ihrer Stirn sahen eher harmlos aus. Die lädierte Nase, die Bossi erwähnt hatte, wies lediglich einen Kratzer auf.
Sie hatten ein langes Gespräch mit der jungen Frau geführt, während diese, halb aufgerichtet in den Kissen, mit sichtlichem Behagen eine Hühnerbrühe geschlürft hatte. Offenbar genoss sie den Aufenthalt im Pfarrhaus, das bequeme Bett und die Fürsorge des Priesters. Sie schien bereits auf einem Plauderfuß mit Pater Hieronymus zu stehen und hatte die Absicht bekundet, nach den Ereignissen der letzten Nacht auszusteigen. Doch das, dachte Tron, sagten die jungen Frauen vermutlich immer, wenn sie in Schwierigkeiten geraten waren.
«Wir können», fuhr er fort, «aus dem Umstand, dass der Mann nicht maskiert war, ein paar interessante Schlüsse ziehen.»
«Und welche?»
«Dass er gestern improvisiert hat», sagte Tron. «Wahrscheinlich hatte er gar nicht die Absicht, sich ein Opfer zu suchen, als er aus dem Haus ging, und wollte nur eine Runde über die Piazza drehen.»
«Und da hat Signorina Maggiotti ihn angesprochen.»
Tron nickte. «Er sieht ihre blonden Haare, und etwas in ihm reagiert — wie ein Hund auf einen Befehl. Oder so wie bei ganz normalen Menschen manchmal eine automatische Reaktion abläuft, wenn sie ein bestimmtes Wort hören.»
Bossi schien irritiert. «Automatische Reaktion?»
«Ga-ri-bal-di», sagte Tron langsam, jede Silbe betonend.
Sofort ging ein Ruck durch Bossis Körper, als hätte er eine galvanische Apparatur berührt. Sein Rückgrat straffte sich, und seine Augen leuchteten auf. Er schien ein paar Zentimeter zu wachsen.
«Genau das meine ich», sagte Tron, der ein Lachen unterdrücken musste. «Die blonden Haare lösen einen Reiz bei ihm aus, und er beschließt, sich diese Frau nicht entgehen zu lassen. Dass er sein Gesicht anschließend im Dunkeln gehalten und geflüstert hat, geschah vermutlich instinktiv.»
«Und der Schlüssel? Wie kam er an den Schlüssel? Hatte er den rein zufällig mit?»
Tron hob die Schultern. «Gute Frage. Ich weiß es nicht.»
«Was denken Sie über die Theorie von Pater Hieronymus, dass es sich um ein heidnisches Ritual gehandelt haben könnte?»
«Der Pater gehört zu den Leuten, die gerne mit einer gelehrten Erklärung aufwarten», sagte Tron. «Haben Sie sich seine Bibliothek angesehen?»
Bossi schüttelte den Kopf.
«Sie besteht hauptsächlich aus antiken Klassikern», sagte Tron. «Kein Wunder, dass der Pater sofort an ein Augurium gedacht hat.»
«Dann war es also eher ein Zufall, dass der Mann versucht hat, die Frau direkt vor dem Altar zu töten.»
Tron zuckte die Achseln. «Auf jeden Fall hat er eine Vorliebe für ungewöhnliche Schauplätze. Der Artikel in der Gazzetta wird ihn gefreut haben.»
Der Ispettore blieb stehen und schwenkte seinen Regenschirm haarscharf an Trons Zylinderhut vorbei. «Ob er nach diesem Fehlschlag aufhört?»
«Wer immer es ist», sagte Tron, «er weiß vermutlich, dass die Signorina ihn nicht identifizieren kann. Und denkbar wäre auch, dass er versucht, die Scharte wieder auszuwetzen.»
«Sie meinen, er könnte erneut zuschlagen?»
«Auszuschließen ist es nicht», sagte Tron müde.
Bossi sah ihn an wie einen zum Tode Verurteilten. «Was werden Sie Spaur sagen?»
Großer Gott, Spaur! Tron hatte völlig vergessen, dass ihm noch ein Gespräch mit dem Polizeipräsidenten bevorstand. Der womöglich von seinem Adlatus, Sergeant Kranzler, bereits erfahren hatte, dass sie den Mörder gefasst hatten und nur noch ein Geständnis brauchten. Wahrscheinlich hatte Spaur bereits den roten Teppich für ihn ausgerollt.
*
Sergeant Kranzler strahlte wie ein Kronleuchter, als Tron das Vorzimmer des Polizeipräsidenten betrat. «Der Baron erwartet Sie bereits.»
Na bitte. Offenbar war Spaur bis jetzt tatsächlich nur über die Verhaftung Zuckerkandis informiert und wusste noch nicht, was sich gestern Nacht zugetragen hatte. Tron fragte sich, wie Spaur die Nachrichten verkraften würde.
«Gute Arbeit», sagte Spaur, nachdem Tron Platz genommen hatte. Der Polizeipräsident strahlte ebenfalls wie ein Kronleuchter. «Der Bursche hat gedacht, die Gondel fährt ihn zum Bahnhof, und dann landet er vor der Questura. Genial, Commissario. Damit dürfte der Fall abgeschlossen sein. Die Baronin hatte sich bereits Sorgen gemacht.» Spaur fischte ein Praliné aus der obligatorischen Demel-Schachtel auf seinem Schreibtisch und lehnte sich befriedigt zurück.
«Baron, ich ...»
Spaur hob die Hand. «Keine falsche Bescheidenheit.» Er sah Tron an. «Glauben Sie, dass er bald gesteht?»
«Ich fürchte, wir ...»
Spaur lächelte wohlwollend. «Hauptsache, wir haben ihn aus dem Verkehr gezogen.»
Tron nahm einen neuen Anlauf. «Ich fürchte, dass Signor Zuckerkandl nicht gestehen wird.»
Spaur sah Tron verständnislos an. «Setzen Sie ihn auf Wasser und Brot. Spätestens nach drei Tagen wird er reden.»
«Er wird ...»
«Falls wir überhaupt», fuhr Spaur fort, «ein Geständnis brauchen. Immerhin ist der Mann verrückt.»
Tron schüttelte den Kopf. «Zuckerkandl wird nicht gestehen, weil er mit der Sache nichts zu tun hat. Der Mann ist unschuldig.»
Spaurs Hand, die sich nach einem Praliné ausgestreckt hatte, verharrte regungslos in der Luft. «Wie bitte?»
Tron holte tief Atem. «Der Mörder ist immer noch frei. Er hat gestern Nacht versucht, eine Frau zu töten.»
Für einen Mann, dessen Träume sich eben in Luft aufgelöst hatten und dem ein unangenehmes Gespräch mit seiner Gattin bevorstand, war Spaurs Reaktion bemerkenswert gelassen. Er zog eine Flasche Grappa und ein Glas aus der Schublade seines Schreibtisches, schenkte sich ein und trank. «Erzählen Sie.»
Als Tron mit seinem Bericht zu Ende gekommen war, hatte Spaur drei weitere Grappe getrunken und die Demel-Schachtel geleert. Sein Schreibtisch war mit kleinen Papierstücken übersät, in denen die Pralinen eingewickelt waren. «Wo ist das alles passiert?»
Tron war sich sicher, dass er den Namen der Kirche erwähnt hatte. «In San Giovanni in Bragora», sagte er. «Der Täter hatte offenbar einen Schlüssel. Pater Hieronymus vermutet, dass er ihn aus der Sakristei gestohlen hat.»
Spaur machte ein überraschtes Gesicht. «Sagten Sie Pater Hieronymus?»
Tron nickte. Den Namen des Priesters hatte er ebenfalls schon erwähnt. Er fragte sich, ob Spaur ihm überhaupt zugehört hatte.
Der überraschte Gesichtsausdruck Spaurs hatte sich noch verstärkt. «Der Mann, der wie ein Gelehrter auftritt und Veneziano wie ein Einheimischer spricht?»
«Und der eine Katze hat, die wie ein Löwe aussieht», sagte Tron. «Wieso? Stammt er etwa gar nicht aus Venedig?»
«Nein, er kommt aus Wien», sagte Spaur, «und ist seit 1848 in Venedig. Damals hat er auch seinen Beruf gewechselt. Und seinen Namen.»
Tron runzelte die Stirn. «Was war er vorher?»
«Ein kaiserlicher Offizier», sagte Spaur. «Leutnant Holenia im Dragonerregiment Maria Isabella.»
Tron brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, was Spaur gerade gesagt hatte. «Also war Pater Hieronymus im selben Regiment wie ...»
Spaur nickte. «Wie Stumm von Bordwehr.»
«Der Oberst könnte den Pater besucht haben, und dabei könnte er den Schlüssel entwendet haben.»
Spaur verdrehte die Augen. «Nachdem er sich gesagt haben könnte, dass er auch mal in einer Kirche einen Mord begehen könnte? Das sind zu viele Könnte, Commissario! Ich weiß nicht einmal, ob die beiden zur selben Zeit im Regiment waren. Vielleicht sind sie sich ja nie begegnet.»
«Es wäre», sagte Tron, «nicht die einzige Spur, die zu Stumm führt. Wir konnten inzwischen die Tote an den Zattere identifizieren. Sie ist am vorletzten Sonntag im Nachtzug von Verona nach Venedig ermordet worden. In einem Zug, den auch der Oberst benutzt hat.»
Spaur schüttelte den Kopf. «Sie hatten zuerst eine Spur, die zu Grassi führte, und dann eine, die zu Zuckerkandl führte.» Der Polizeipräsident lockerte seinen Kragen mit der fahrigen Bewegung eines Mannes, der kurz vor einem Nervenzusammenbruch steht. «Nein, Commissario. Ich glaube nicht mehr an Ihre Spuren. Hier handelt es sich um einen Wähnsinnigen. Nicht um einen kaiserlichen Offizier.»
Spaur stand auf, ging schwankend zum Fenster, öffnete es und holte ein paarmal tief Luft. Nachdem er sich wieder gesetzt hatte, stellte er die entscheidende Frage. «Wird der Mann wieder zuschlagen? Oder ist er auf der Flucht?»
«Das hat mich Bossi auch gefragt», sagte Tron.
«Was haben Sie geantwortet?»
«Dass er wieder zuschlagen wird.»
«Und warum?»
«Weil er eitel und verrückt ist», sagte Tron. «Und weil er weiß, dass wir nicht hinter jede mammola einen Polizisten stellen können.»