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Die Tischdecke war voller Flecken, der Falerner war sauer und eiskalt, und selbstverständlich war das Weinglas mit fettigen Fingerabdrücken übersät. Dass seine Serviette, die er immerhin zum Mund führen musste, eindeutig benutzt worden war, hatte ihn nicht überrascht. Der Laden, der sich Trattoria Goldoni nannte, war ein Saustall, und die bloße Vorstellung, wie es in der Küche aussah, drehte ihm den Magen um. Am Nebentisch saßen zwei angeheiterte Leutnants der kroatischen Jäger und verspeisten gemeinsam einen Kalbskopf: Augen, Zunge, Maul, Zahnfleisch. Ihre gewaltigen, balkanmäßigen Kinnladen kauten und mahlten, wobei die Leutnants durchdringende Knack- und Knirschgeräusche hervorbrachten. Jedes Mal, wenn er schaudernd einen Blick zum Nebentisch riskierte, musste er unwillkürlich an das griechische Wort Nekrophagen denken. Leichenfresser.

Die Leber, die ihm der dicke Kellner gebracht hatte, fegato alla veneziana, war allerdings ausgezeichnet. Genauer gesagt: Sie war so zubereitet, wie er es sich erhofft hatte. Sie war sorgfältig abgezogen und geschnetzelt, und der Koch hatte sie mit Knoblauch, Zwiebeln, Rosmarin und Thymian in Olivenöl gebraten. Serviert wurde sie zusammen mit einer großen Portion Polenta, die mit Parmesankäse und Butter verrührt worden war. Dass der Koch so weit gegangen war, die Polenta zusätzlich mit frischer Sahne zu verfeinern, stand in auffälligem Kontrast zu den traurigen Standards, die offenbar sonst in der Trattoria Goldoni herrschten.

Es hatte einen ganzen Tag gedauert, bis er nach dem bedauerlichen Zwischenfall in San Giovanni in Bragora sein geistiges Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Den täglichen Dienst hatte er lustlos verrichtet, den Ausführungen seines Herrn und Meisters war er nur mit halbem Ohr gefolgt. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, war in seinem Kopf die grässliche Szene abgelaufen, die sich in der Nacht zuvor auf den Altarstufen abgespielt hatte: das durchdringende Knarren, mit dem sich die Tür der Sakristei geöffnet hatte, die bedrohliche Silhouette des Mannes auf der Schwelle, das Messer, das ihm, wie Abraham, vor lauter Schreck aus der Hand gefallen war, und dazu noch in seinem Inneren das kreischende Tier, das immer eine Ewigkeit brauchte, um etwas zu kapieren. Nur gut, dass wenigstens er die Nerven behalten und sich sofort aus dem Staub gemacht hatte. Hatte Pater Hieronymus ihn erkannt? Nein, dafür war es in der Kirche viel zu dunkel gewesen. Sonst wäre der Commissario schon lange bei ihm aufgetaucht, um ein Gespräch mit ihm zu fuhren.

Jedenfalls war ihm heute Nachmittag eingefallen, wie er diese peinliche Scharte auswetzen konnte, und je mehr er darüber nachgedacht hatte, desto mehr hatte ihn sein Einfall fasziniert. Dass das wilde Tier in ihm seine Faszination nicht teilte, war ein wenig enttäuschend gewesen. Aber im Grunde, dachte er, handelte es sich um ein primitives Lebewesen, dem es völlig gleichgültig war, unter welchen Umständen Blut floss — solange es nur kräftig sprudelte. Er rief den Kellner, bezahlte die Rechnung, gab ein großzügiges Trinkgeld und brachte es sogar fertig, die kroatischen Nekrophagen (inzwischen hackevoll) vom Nebentisch mit einem freundlichen Nicken zu bedenken.

Ein paar Minuten später durchschritt er den Sottoportego unter dem Uhrenturm und erreichte die Piazza San Marco. Jetzt, um diese Zeit — es war kurz vor acht — war es hier äußerst belebt. Ganze Heerscharen von maskierten Fremden schoben sich an Maronen- und Frittoliniverkäufern vorbei, Kinder, aufgeregt, weil man sie noch nicht ins Bett geschickt hatte, fütterten Tauben, und vor dem Cafe Quadri hatte sich die übliche Ansammlung von kaiserlichen Offizieren gebildet. Waren mehr Polizeipatrouillen als sonst auf der Piazza zu sehen? Nein, das fand er nicht.

Natürlich hatte er an dem Falerner nur genippt, und sein Kopf war vollständig klar. Aber seiner Bewegung eine gewisse alkoholbedingte Unsicherheit zu verleihen schien ihm eine gute Idee zu sein. Also überquerte er die Piazza mit wankenden Schritten. Dicht vor der schweren Eichentür des Glockenturmes blieb er stehen, lehnte sich mit der linken Hand an die Tür und ließ den Kopf hängen - die typische Haltung eines Mannes, der ein wenig über den Durst getrunken hatte. Dann zog er den Dietrich aus der Tasche, schob ihn in das Schloss. Er drehte ihn ein paarmal hin und her und fand die entsprechende Vorhaltung sofort. Es war, wie er es erwartet hatte. Das Schloss ging so leicht auf wie eine Pralinenschachtel. Er ließ die Vorhaltung wieder zurückschnappen und drehte sich langsam um. Niemand hatte ihn beobachtet. Er schätzte, dass er in spätestens zwei Stunden wieder zurück sein würde — dann allerdings in Begleitung. Und dass sich niemand für einen Signore und eine Signorina interessieren würde, die das beneidenswerte Privileg hatten, den Glockenturm außerhalb der normalen Öffnungszeiten zu besteigen. Allenfalls ein paar ahnungslose Fremde mochten ihn vielleicht bitten, sich dem Aufstieg anzuschließen. Ein Ansinnen, das er höflich, aber bestimmt ablehnen würde. Für das, was er vorhatte, konnte er keine Zeugen brauchen.   

Er schob den Dietrich in die Tasche zurück und lief langsam bis zur Mitte der Piazza. Zwischen einer Gruppe kaiserlicher Offiziere und dem Kohlenbecken eines Maronenverkäufers blieb er stehen und dachte kurz nach. Das Zanetto, das er sehr schätzte, kam nach der Nummer auf der Gondel nicht mehr in Betracht, und Entsprechendes galt auch für das Mulino und das Stella. Nicht dass die Signorinas dort misstrauischer gewesen wären als auf anderen Maskenbällen — er selbst hätte sich dort unbehaglich gefühlt. Schließlich entschied er, sein Glück im Castello zu versuchen. Es lag an der Riva degli Schiavoni, nur ein paar hundert Schritte vom Danieli entfernt, und galt als ausgesprochen teuer. Aber warum nicht? Seine Kleidung war tadellos, der saftige Eintrittspreis, der für eine gewisse Exklusivität sorgen sollte, war kein Problem für ihn. Außerdem amüsierte es ihn, dass sich das Castello in der Nähe der Questura befand.

Als er in die Riva degli Schiavoni einbog, schlug ihm auf einmal ein kühler Wind entgegen. Der dunkelgraue Nachthimmel über ihm war aufgerissen, und zwischen fliehenden Wolken zeigten sich ein blasser Halbmond und ein paar Sterne. Der Blick vom Campanile auf die Stadt musste an diesem Abend atemberaubend sein! Das war dem Tier in ihm natürlich völlig gleichgültig. Er hingegen würde es begrüßen, wenn ein wenig Mondschein dem Unternehmen einen Einschlag ins Romantische gäbe. Schließlich war er verrückt.

Kurz bevor er das Castello betrat, setzte er seine neue Maske auf. Sie war hellblau, hatte einen aufgemalten roten Schnurrbart und Augenbrauen aus Goldlametta. Die Maske war ungeheuer auffällig und ließ nur einen einzigen Schluss zu: dass ihr Träger nicht alle Tassen im Schrank hatte.

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Dass mit dem Burschen etwas nicht stimmte, sah sie sofort. Er stand, ein Weinglas in der Hand, direkt vor dem kleinen Podium, auf dem ein Salonorchester gerade einen Walzer spielte, und trug eine blaue Halbmaske mit einem aufgemalten roten Schnurrbart. Ein Dummkopf, vermutlich jemand, der gerade erst in der Stadt eingetroffen war und nicht wusste, wie man sich kleidete. Denn das decorum verlangte auch im Karneval, dass sich ein cavaliere an gewisse Regeln hielt, speziell im Castello, in dem sich vorwiegend gehobenes Publikum einfand. Hier trug man gediegene Abendanzüge oder Fracktoilette, dazu unauffällige schwarze Halbmasken. Alles andere sah an einem Signore einfach albern aus. Veronica Franco fragte sich, wie der Bursche es mit dieser Maske überhaupt geschafft hatte, an dem Portier vorbeizukommen. Im Castello sah man sich die Gäste genau an, bevor man sie über die Schwelle ließ. Andererseits herrschte im Moment ein gewisses Unbehagen bei Gästen mit schwarzen Halbmasken.

Sie hatte weder die Kollegin, die es auf der Gondel erwischt hatte, noch die Tote in der Pensione Seguso gekannt. Signorinas, die im Zanetto oder im Mulino arbeiteten, verkehrten normalerweise nicht im Castello, sie selbst würde sich nie freiwillig in einen billigen Schuppen wie das Zanetto begeben. Aber natürlich hatte die Buschtrommel dafür gesorgt, dass sich die Nachricht von beiden Morden wie ein Lauffeuer verbreitet hatte. Mein Gott, was dachte sich dieser Bursche dabei, seine Opfer regelrecht auszuweiden? Und warum tappte die Polizei — wenn man den Gerüchten Glauben schenken wollte — immer noch im Dunkeln? Weil der Bursche mit seiner schwarzen Maske, die halb Venedig trug, eine perfekte Tarnung hatte? Und weil er sich völlig unberechenbar verhielt, weil er verrückt war? So verrückt, dass er seine Opfer, nachdem er sie erwürgt hatte, ausweidete? Veronica Franco schüttelte sich. Nein, da waren ihr Dummköpfe mit hellblauen Masken lieber.

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Eine gute Stunde später stand sie an einem Ort, an den selbst ihre wildesten Träume sie nie befördert hätten, und fand es wunderbar. Jedenfalls nachdem sich ihr Atem und Puls wieder beruhigt hatten. Bei der zweihundertsten Stufe hatte sie entnervt aufgehört zu zählen und sich gefragt, warum sie sich auf diesen Wahnsinn eingelassen hatte. Eine völlig überflüssige Frage, denn die Antwort befand sich in ihrer Tasche: zwei Lire in Gold. Also ungefähr die Summe, die sie, wenn die Geschäfte gut liefen, normalerweise in einer Woche verdiente.     

Der Bursche mit der blauen Maske hatte sie angesprochen, als sie sich gerade einer Gruppe von lüsternen Offizieren in Zivil näherte. Er hatte sie, von der Seite herantretend, an der Schulter berührt - etwas, das sie normalerweise nicht ausstehen konnte. Aber sein Angebot war interessant gewesen. Ungewöhnlich, aber interessant. Die Details hatten sie noch im Castello geregelt, den vereinbarten Betrag hatte sie gleich vor der Tür kassiert. Ihrer Aufforderung, die Maske abzunehmen, war er ohne Zögern gefolgt, was sie davon überzeugt hatte, dass der Bursche harmlos war. Sie würden also zusammen ein paar Stufen hinaufsteigen, und oben würde der Bursche seine Hose aufknöpfen. Der Rest war eine Angelegenheit von höchstens fünf Minuten. Kein Ausziehen, kein Gegrapsche, keine Keucherei, sondern eine schnelle, lukrative Nummer. Zwei Goldlire konnten sich sehen lassen.

Nicht dass sie dieses Geld nicht bereits hart verdient hatte, denn der Aufstieg hatte ihr mehr zu schaffen gemacht, als sie erwartet hatte. Die hölzernen Stufen hatten bei jedem Schritt geknarrt, und die Mauern des Glockenturms hatten einen übelriechenden Dunst ausgeströmt. Zudem hatte sie bei jeder Stufe das absurde Gefühl gehabt, sie würden nicht hinauf-, sondern hinabsteigen — in feuchte Kellerräume, in denen Unaussprechliches auf sie lauerte. Was natürlich Unsinn war. Hier oben, dreihundert Fuß über der Stadt, sah sie, dass sie keineswegs in einem feuchten Kellergewölbe stand.

Die Aussicht war atemberaubend. Der Wind hatte sich gelegt, und die dunklen Wolken, die noch am frühen Abend über die Stadt getrieben waren, hatten sich wie Flaggschiffe einer besiegten Flotte auf das Meer verzogen. Über der östlichen Lagune hing ein bleicher Halbmond, der die Dächer, die Kuppeln der Kirchen und das Wasser in ein silbriges Licht tauchte. Unter ihnen lag der Markusplatz wie eine Spielzeug-Piazza, eingefasst in einen schimmernden Rand aus Gaslaternen, die von oben wie winzige Kerzen aussahen. Alles war klein, fern, seltsam entrückt und wunderschön. Es war, wenn man mal davon absah, dass ihr noch harte Arbeit bevorstand, romantisch hier oben, und einen Moment lang wünschte sie sich, eines Tages nicht mit einem Mann hier zu stehen, der sie bezahlte, sondern mit einem, der sie ...

Die Finger, die sich plötzlich um ihren Hals legten und ihre Kehle zusammenpressten, beendeten diesen Gedankengang abrupt. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, aber es kam keine Stimme. Bevor sie das Bewusstsein verlor, schoss ihr ein Satz durch den Kopf: Man stirbt, wie man gelebt hat.