Das Mulino Rosso lag am Campo San Martino und war dafür bekannt, dass abenteuerlustige Herren hier auf ihre Kosten kamen. Es war ein frisch renovierter Palazzo mit geöffneten Spitzbogenfenstern, aus denen laute Musik drang, und er fragte sich, was die Anwohner wohl dazu sagten. Die drei grell geschminkten Damen, die rauchend vor der Tür standen, warfen nur einen flüchtigen Blick auf ihn, als er durch den Eingang schritt. Eine von ihnen war rothaarig, die beiden anderen brünett. Nichts für ihn. Das Tier in ihm bestand ausdrücklich auf Blondinen.
Seine schwarze Halbmaske hatte er bereits aufgesetzt — dieselbe, die er auch in der Locanda benutzt hatte. Da alle Welt schwarze Halbmasken trug, gab es keinen Grund, sie durch eine andere zu ersetzen. Nicht dass er vorgehabt hatte, heute Abend wieder zur Sache zu kommen. Eine Durchsuchung seiner Taschen hätte nichts zutage gefördert, weder Messer noch Lederriemen. Er wollte sich nur ein wenig umsehen, im Idealfall eine Verabredung treffen. Sich zu verabreden, fand er, war so romantisch.
Die Ausstattung des Ballsaals, die kerzenbestückten Kronleuchter und die rötlichen Damasttapeten an den Wänden wies das Mulino Rosso als Etablissement gehobenen Zuschnitts aus. Das Salonorchester auf der einen Seite des Saals spielte in Fracktoilette, und auch das Publikum hatte hier eine andere Zusammensetzung als in der Locanda. Dort hatten Handwerker und Unteroffiziere das Publikum dominiert, hier gaben Fremde aus den großen Hotels, gutgekleidete Einheimische und kaiserliche Offiziere den Ton an. Keine hohen Ränge, aber eine ganze Anzahl von Leutnants der verschiedensten Waffengattungen. Er unterschied die Uniformen der Kaiserjäger, der Linzer Dragoner und der in Venedig stationierten kroatischen Jäger. Ein paar Offiziere tanzten, die meisten standen am Rand der Tanzfläche und rauchten.
Wo war der Getränkeausschank, um den herum sich erfahrungsgemäß die Priesterinnen der Liebe tummelten? Er reckte den Hals, um über die tanzende Menge hinwegzusehen. Aha, dort hinten, gleich neben dem Podium, auf dem das Orchester spielte. Introibo ad altare Dei, dachte er, während er sich in Bewegung setzte, und wäre fast in Kichern ausgebrochen.
Drei Leutnants der kroatischen Jäger hatten am Tresen Posten bezogen, sie verhandelten gerade mit zwei jungen Damen. Neben ihnen stand ein rotgesichtiger Herr im Frack, der bereits ein wenig schwankte. Hinter der Theke polierte eine junge Saaltochter Gläser. Auf dem marmornen Tresen waren Champagnerflaschen aufgereiht, hübsch anzusehen mit ihren goldfarbenen Hälsen, daneben eine große Glasschale mit Orangen, die ihrerseits von diversen Likörflaschen flankiert wurde. Der hinter dem Tresen angebrachte riesige Spiegel reflektierte das Glitzern der Kronleuchter und das bunte Gewoge der Menge, die sich über die Tanzfläche schob. Als er näher trat, konnte er nicht umhin, sein Spiegelbild zu betrachten.
Merkwürdig, dachte er, wie wenig die draufgängerische Seite seines Wesens in Erscheinung trat. Die Halbmaske ließ die untere Gesichtshälfte frei, und eigentlich hätte man in den Mundwinkeln zwei Reißzähne sehen müssen. Stattdessen sah er einen schmalen, fast asketisch wirkenden Mund, der gut zu seinem schwach ausgeprägten Kinn passte. Er wirkte ausgesprochen unauffällig. Ob die Saaltochter hinter dem Tresen ihn überhaupt bemerkt hatte? Würde er die Arme schwenken müssen, um etwas zu trinken zu bekommen, wie ein Schiffbrüchiger auf einem Floß? Nein — jetzt sah sie ihn an, und er bat um ein Glas Champagner — Champagner macht einen leichten Fuß. Das Zeug war billiger Prosecco, aber bei der Hitze im Ballsaal tat es gut, an dem kalten, prickelnden Getränk zu nippen.
Seit zwei Tagen war seine Gemütsverfassung ausgesprochen euphorisch. Das wilde Tier in ihm hatte geschlafen, während er durch die Gassen geschlendert war und sich bei Regen in eines der Cafes an der Piazza gesetzt hatte. Während der Karnevalszeit schien sich die ganze Stadt in einen summenden Bienenkorb verwandelt zu haben. Nachts gab es die Auswahl zwischen Dutzenden von Maskenbällen, und selbst tagsüber schien jeder zweite Passant Dreispitz und Degen zu tragen. Auch die kaiserlichen Offiziere, denen man überall in der Stadt begegnete, sahen wie verkleidet aus und wirkten in ihren bunten Uniformen wie Statisten aus einer Offenbach-Operette. Wahrscheinlich, dachte er amüsiert, hätte es sie sogar erfreut, wenn man ihnen gesagt hätte, dass sie so aussahen.
Er schloss die Augen und versuchte, sich an die Genugtuung zu erinnern, als er am Rialto aus der Gondel gestiegen war. Erstaunlich, dass ihm in der Hitze des Gefechts keine groben Fehler unterlaufen waren. Aber die Schnitte, die er gesetzt hatte, waren sicher und routiniert gewesen. Auch das kurze Gespräch, das er nach getaner Arbeit am Rialto mit dem Gondoliere geführt hatte, konnte man nicht anders als kaltblütig bezeichnen. Den blutbefleckten Gehrock hatte er am nächsten Morgen in einen Kanal geworfen. Selbst wenn ihn jemand fand und die Polizei ihn mit dem Mord auf der Gondel in Verbindung brachte, wäre sie keinen Schritt weiter. Abgesehen davon würde niemand in Venedig einen fast neuen Gehrock wegen ein paar Flecken zur Polizei bringen.
Er wandte sich zum Tresen, um noch einen Schluck von dem kalten Prosecco zu trinken, als sich plötzlich eine Hand auf seinen Ärmel legte. Erschrocken fuhr er auf dem Absatz herum. Was er sah, brachte sein Herz zum Klopfen. Zugleich spürte er, wie das Tier in ihm erwachte.
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Als sie ihm ihre Hand auf den Ärmel legte, wusste sie genau, was sie tat, denn sie hatte ihn vorher lange beobachtet. Er würde zuerst erschrecken, aber einen Augenblick später würde er die Berührung als angenehm empfinden, als aufreizend. Schließlich war er genau deswegen hierhergekommen. Und so wie er aussah, überlegte er schon die ganze Zeit, wie er eine Frau ansprechen sollte. Er wirkte nicht wie jemand, dem es leichtfiel, auch wenn es sich um eine Frau handelte, deren Geschäft darin bestand, angesprochen zu werden. Wandte man sich ihm zu — sie hatte es beobachtet drehte er den Kopf weg und wurde rot. Ein armes Würstchen, das sich nach ein paar Stunden frustriert entfernen würde, wenn man ihm nicht ein wenig behilflich war.
Julia Dossi hatte gelernt, ihre Kunden in zwei Kategorien einzuteilen: in Adler und Hühnchen. Die Adler kriegten den Hals nie voll und feilschten wie auf dem Fischmarkt. Sie verlangten alle möglichen Extras und wurden wütend, wenn sie dafür bezahlen sollten. Hühnchen hingegen feilschten nicht und kämen nie auf den Gedanken, Extras zu verlangen. Viele trauten sich auch nicht, wenn es zur Sache kam, und waren schon zufrieden, wenn sie jemandem ihr Herz ausschütten konnten. Und hier handelte es sich definitiv um ein Hühnchen.
Das Hühnchen war ihr aufgefallen, weil es kurz hinter ihr über die Schwelle des Ballsaals getreten war und lange am Eingang verharrt hatte. Nachdem es den Saal mit verstörten Augen gemustert hatte, war es mit zaghaften Schritten zum Getränkeausschank getrippelt. Dort stand das Hühnchen nun, drehte ein Glas in der Hand und kam sich mit seinem schwarzen Dreispitz aus Pappe vermutlich genauso albern vor, wie es aussah. Wahrscheinlich, dachte sie, handelte es sich bei dem Hühnchen um einen Familienvater aus der Provinz, der sich gerade fragte, ob er dem Abenteuer hier gewachsen war. Das war offenkundig nicht der Fall, aber sie könnte ihm behilflich sein. Und wenn sie sich nicht täuschte, würde er sich als großzügig erweisen.
Wenn sie sich nicht täuschte — genau das war der springende Punkt. Denn Menschenkenntnis war zurzeit überlebenswichtig in dieser Branche. Zwar kannte sie keine Einzelheiten der Geschichte, die sich gestern auf einer Gondel ereignet hatte, aber was sie wusste, reichte ihr. Dass der Gondoliere nichts bemerkt hatte, war unglaublich. Ebenso unglaublich war, dass die Frau die Gefahr, in der sie schwebte, offenbar nicht gespürt hatte. Sie selbst war fest davon überzeugt, dass das Böse eine Aura hatte, einen üblen Geruch. Und dass die Nagelprobe ein Blick in die Augen war. Als das Hühnchen herumfuhr und sie in seine unschuldigen braunen Augen sah, hätte sie fast aufgelacht. Sie hatte es mit einem Küken zu tun.
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Er hatte am Arsenal eine Gondel genommen, saß jetzt zurückgelehnt in den Polstern und lauschte auf das leise Knirschen, mit der sich das Ruder in der forcola bewegte. Diesmal war der felze nicht diskret verschlossen worden, sondern blieb auf seinen Wunsch zur Seite hin geöffnet. Die Luft war schwer und feucht, aber durchsichtig genug, um die Häuser zu erkennen, die sich als schwarze Masse von dem schiefergrauen Nachthimmel abhoben. Als sie das Danieli passiert hatten und sich dem Molo näherten, stellte er fest, dass die Piazzetta, festlich gesäumt von den Girlanden der Gaslaternen, immer noch voller Menschen war. Aus einem der Cafes am Markusplatz wehte Musik herüber, eine beschwingte Walzermelodie, die gut zu der gehobenen Stimmung passte, in der er sich befand.
Natürlich waren es zuerst ihre blonden Haare gewesen, die ihn entzückt erstarren ließen. Als er einen Augenblick später sah, dass sie grüne Augen hatte, war das Tier in ihm augenblicklich erwacht, so als hätte man einen Eimer Wasser über einen Schlafenden geschüttet. Er konnte die Bestie direkt vor sich sehen: wie sie sich ruckartig aufsetzte, die Augen groß wie Suppenteller wurden und sie die Zähne fletschte. Hin und wieder kam es vor, dass er in solchen Momenten die Kontrolle über seine Mimik verlor, er albernerweise ebenfalls den Rachen aufriss, sein Gebiss bleckte und ein brünstiges Geheul ausstieß. Auch vorhin war es ihm so ergangen — oder: Es wäre ihm fast so ergangen, denn es war ihm gerade noch gelungen, seinen weit aufgerissenen Mund als Gähnen zu tarnen und das Geheul mit einem künstlichen Hustenanfall zu überdecken. Was die Signorina offenbar als Zeichen von nervöser Aufgeregtheit verstanden hatte, denn ihr ohnehin mitleidiger Gesichtsausdruck hatte sich noch verstärkt.
Also morgen Abend. Sie hatten sich in einer kleinen pensione an den Zattere verabredet, die sich Seguso nannte. Er würde am Nachmittag einen ersten Blick auf das Gebäude werfen, danach in aller Ruhe einen Kaffee an der Piazza trinken und anschließend, bevor er sich in die pensione begab, die erforderlichen Werkzeuge holen: Messer, Lederriemen und Riechsalz. Es würde kinderleicht sein.