Er brauchte fast zwei Stunden, um sich zu schminken. Das hatte sich als eine harte und ziemlich komplizierte Arbeit erwiesen. Er hatte eine ganze Sammlung von Töpfchen und Tiegelchen in einer buntbedruckten Schachtel gekauft, auf der eine blonde Vaudeville-Schönheit prangte. Die Schachtel kam aus Paris und enthielt eine in Französisch verfasste Anleitung, ohne die er vermutlich gescheitert wäre. Das aber war, wie ihm der Blick in den Spiegel bewies, keineswegs der Fall.
Durch eine leichte Untermalung des Lides hatten seine Augen an Glanz gewonnen, und über seine sonst blasse Gesichtshaut breitete sich nun ein zartes Karmin. Die Nase, die ihm immer ein wenig spitz vorgekommen war, sah jetzt ausgesprochen edel aus. Auch sein kosmetisch verschönerter Mund wirkte voller und sinnlicher. Was überhaupt das Entscheidende war, denn da er eine bautta trug, würde sich die Aufmerksamkeit der Herren auf seinen Mund konzentrieren. Nach langem Überlegen hatte er sich für dunkelroten Lippenstift mit einem leichten Perlmuttglanz entschieden. Seine Befürchtung, die Farbe würde nicht zum Rot der bautta passen, hatte sich als unbegründet erwiesen. Die beiden Rottöne harmonierten überraschend gut, verstärkten die sinnliche Wirkung seines Gesichts und bissen sich auch nicht mit der blonden Perücke.
Doch letztlich kam es nur darauf an, nicht aufzufallen. Wie diese Tanzkarten funktionierten, würde er an Ort und Stelle herausfinden. Einen Walzer zu tanzen, traute er sich zu. An komplizierten Quadrillen und Contretänzen — tanzte man das heutzutage eigentlich noch? — würde er sich vorsichtshalber nicht beteiligen. Wenn seine Informationen zutrafen, war auf dem Ball der Contessa Tron mit ungefähr hundert Personen zu rechnen — alle mehr oder weniger schrill verkleidet. Dass er auffallen würde, war also unwahrscheinlich.
Und dieser Commissario Tron, Sohn der Contessa Tron, schien nicht gerade der Hellste zu sein. Von ihm war nichts zu befürchten. Wenn man davon ausging, überlegte er weiter, dass ungefähr die Hälfte der Anwesenden cavalleri sein würden, blieben fünfzig Personen übrig, unter denen der Mann sein musste, den er suchte. Würde er sich in irgendein exotisches Kostüm werfen? Nein — auch das war äußerst unwahrscheinlich. Vermutlich würde der Bursche einen schlichten Frack tragen, selbstverständlich mit einer bautta, denn das war an diesem Abend Vorschrift. Aber er würde ihn trotz der Maske erkennen. Und dann ...
Er löste den Blick von seinem Spiegelbild, stand auf und ging langsam zu seinem Kleiderschrank. Dort hing das Kleid, das er sich heute Nachmittag aus einem Kostümverleih besorgt hatte. Ausgiebig beraten von einem jungen Ladenschwengel, war seine Wahl schließlich auf ein schlichtes Ballkleid aus schwarzem Atlas mit gepufften, fast bis zum Ellbogen reichenden Ärmein gefallen. Dazu würde er lange, den ganzen Unterarm bedeckende Handschuhe tragen. Die Haare zwischen Puffärmeln und Handschuhen hatte er sorgfältig wegrasiert. Seine Handtasche — ebenfalls ausgeliehen — war aus schwarzem, mit Goldapplikationen verziertem Maroquinleder. Dass es sich dabei um ein etwas größeres Exemplar handelte, würde niemandem auffallen. Aber in einer zierlichen Balltasche hätte er das Stilett nicht unterbringen können.
Natürlich war das, was ihm auf dem Ponte della Paglia eingefallen war, nicht besonders originell. Er selbst wäre der Erste gewesen, es zuzugeben. Allenfalls konnte man sagen, dass eine gewisse Originalität des Planes in seiner Unwahrscheinlichkeit lag. Niemand, der seine Sinne beisammen hatte, würde auch nur ernsthaft daran denken, ein solches Vorhaben in die Tat umzusetzen. Und wer immer ihn — eine Frau — dabei beobachtete, würde seinen Augen nicht trauen und die Sache zunächst für einen Faschingsscherz halten.
Ein schneller, aus dem Unterarm heraus geführter Stich also. Problematisch konnte es allenfalls werden, wenn der Stoß nicht das Herz, sondern eine Rippe traf. Doch auch dann würde es ein, zwei Sekunden dauern, bis die Nervenbahnen den Schmerz an das Gehirn weitergeleitet hatten — genug Zeit, um im Gedränge zu verschwinden. Direkt ins Herz getroffen, würde der Bursche zusammensacken, ohne viel zu spüren. Eigentlich — vielleicht noch mit einem Champagnerglas in der Hand — nicht die schlechteste Art zu sterben. Notfalls, dachte er, würde auch ein Stich in den Bauch reichen. Dann trat der Tod durch Verbluten ein. Auch hier kam der Schmerz, vorausgesetzt, die Waffe war scharf genug, immer erst ein paar Sekunden später. Da war er schon ein paar Meter weiter, und selbstverständlich würde sich die Suche auf einen Mann konzentrieren.
Er nahm das Kleid vom Bügel, legte es auf das Bett, setzte sich daneben und zog die Strümpfe an. Dann schlüpfte er in das Kleid und schloss die Knöpfe. Die schwarze, etwas klobig wirkende Handtasche und die über das Kleid geworfene Contouche, die er an der Garderobe abgeben würde, vervollständigten seine Ausstattung. Vor den Spiegel tretend fand er, dass er deutlich älter aussah, als er erwartet hatte. Er stieß einen resignierten Seufzer aus. Es war töricht gewesen zu glauben, dass ihm eine blonde Perücke und ein wenig Schminke die verflossenen Jahre zurückgeben konnten. Andererseits, dachte er, verlieh ihm das höhere Alter einen Einschlag ins Harmlos-Matronenhafte.
Eine Signora, die auf dem Ball eine ihrer Töchter unter die Haube bringen wollte, mochte so aussehen.
«Elisabetta, mach dich interessant», rief er mit hoher, verstellter Stimme in den Spiegel. Darüber musste er laut lachen. Nein — so gesehen war sein Außeres perfekt. Eine bessere Tarnung war nicht denkbar.
Allerdings war noch eine kleine Angelegenheit zu erledigen, bevor er die Gondel besteigen konnte. Er hatte immer noch keine Einladung für den Maskenball im Palazzo Tron, und ohne diese würde man ihn bereits am Wassertor abweisen. Er bückte sich — was problemlos ging, denn er hatte ein Kleid ausgeliehen, in dem er sich frei bewegen konnte — und zog den flachen Koffer hervor, den er unter seinem Bett aufbewahrte. Er enthielt zwei Lederriemen, ein halbes Dutzend scharfe Messer und den Totschläger, den er kürzlich erworben hatte. Nach kurzer Überlegung entschied er sich für den Totschläger. Wenn er mit ein wenig Gefühl zuschlug, würde der Comte de Chambord keinen dauerhaften Schaden davontragen.
*
Als er eine gute halbe Stunde später in der Gondel saß, konnte er nicht umhin, die Geschicklichkeit des Gondoliere zu bewundern. Der Nebel war inzwischen so dicht geworden, dass außer dem kleinen Lämpchen auf dem ferro der Gondel kaum etwas zu erkennen war. Der Gondoliere musste sich hart am Rande des Canalazzo halten, denn seine einzige Orientierung waren die auf der linken Seite der Gondel aufragenden Palazzi, auf deren Fassade gelegentlich ein schwacher Lichtschein zu erkennen war. Schließlich tauchte der durch ein Dutzend Fackeln hell beleuchtete Steg des Palazzo Tron unvermittelt in der nebligen Dunkelheit auf. Ein letztes Drehen des Ruders in der
forcola bremste die Gondel ab. Dann schlug der Bug weich an den hölzernen Steg, und hilfreiche Hände streckten sich ihm entgegen.
Dass der Comte de Chambord auf der Gästeliste der Trons als Herzog von Berry geführt wurde — auf der Einladung stand Comte de Chambord —, verursachte eine kurzfristige Irritation unter den Lakaien. Er geriete in Schwierigkeiten, wenn man den Conte Tron nun persönlich zur Aufklärung der Angelegenheit bemühen würde, aber so weit kam es Gott sei Dank nicht. Daran, dass der Comte de Chambord - oder der Duc de Berry - als Signora in einem Abendkleid erschien, nahm niemand Anstoß.
Den Ballsaal des Palazzo Tron betrat er in dem Moment, als von San Stae zehn dumpfe Glockenschläge durch die nebbia hallten und sich mit dem Gelächter und dem Klingen der Gläser vermischten. Die meisten Gäste der Trons schienen bereits gekommen zu sein, denn die sala, ein länglicher, durch unzählige Kerzen erleuchteter Raum, war bis zum Bersten gefüllt. Er roch den Honigduft der Kerzen, ein Gemisch unzähliger Parfums, den Geruch von feuchter, zerknitterter Seide. Schwarze Pagen in maurischen Kostümen bewegten sich zwischen den Gästen und boten Sorbets, Champagner und Rosenliköre an. Ein bunter Papagei flatterte durch die sala, stieß hin und wieder verstört auf die Ballgäste herab, wobei er jedes Mal lautes Gekreische bei den Frauen auslöste. Langsam weitergehend, stellte er mit Befriedigung fest, dass seine blonden Haare und sein sinnlicher Mund durchaus reichten, um die Aufmerksamkeit der Männer zu erregen. Ein maskierter Neptun mit einem hölzernen Dreizack warf einen lüsternen Blick auf ihn. Eine dickliche Kleopatra, bei der es sich offenbar um einen älteren Herrn handelte, zwinkerte ihm anzüglich zu, als er sich an ihm vorbeidrängte, um zur Stirnseite der sala zu gelangen.
Dort, rechts vom Orchesterpodium und vor den Fenstern zum Canalazzo, entdeckte er den am Kopf bandagierten Commissario. Als Gastgeber war der Conte unmaskiert, und mit seinen ironisch herabgezogenen Mundwinkeln bot er in der brünstig aufgeladenen Atmosphäre des Maskenballes ein Bild skeptischer Nüchternheit. Er war in einen schwarzen Frack gekleidet und stand an der Seite einer eleganten, weißhaarigen Signora — offenbar die Contessa Tron, seine Mutter. Neben den Trons plauderte die atemberaubend aussehende, ebenfalls unmaskierte Fürstin von Montalcino mit einem jungen Wesen unbestimmten Geschlechts. Die junge Person trug eine skandalös kurze Tunika, dazu Sandalen mit hohen Absätzen, was ihre schlanken Beine höchst vorteilhaft zur Geltung brachte. Ob es sich bei dem Wesen um eine Frau oder einen Mann handelte, war nicht zu entscheiden. Dann setzte die Musik wieder ein. Er sah, wie die Paare sich fanden, auf die Tanzfläche schritten und die ersten, noch zögernden Schritte machten. Das Orchester spielte Geschichten aus dem Wienerwald — seinen Lieblingswalzer. Unwillkürlich wiegte er sich im Dreivierteltakt. Fast hatte er Lust, selbst zu tanzen.
Als er sich umdrehte, entdeckte er den Mann, den er suchte. Er stand, höchstens vier Schritte von ihm entfernt, hinter einer Pulcinella und einem Domino und sprach mit einer bizarren Kleopatra, deren dick aufgetragene Schminke bereits zu verlaufen begann. Offenbar wollte ihn die ägyptische Königin zum Tanzen auffordern, denn der Mann schüttelte verlegen lachend den Kopf. Wie erwartet, trug er einen schlichten Frack. Seine Verkleidung beschränkte sich auf eine schmale schwarze Maske.
Merkwürdig, dachte er, wie leicht und problemlos sich alles auf einmal fügte. Er fischte ein Glas Champagner vom Tablett eines Mohren und stürzte das Glas mit einem Schluck hinunter. Der Champagner war erfrischend und von erstklassiger Qualität. Er fühlte sich heiter, festlich beschwingt und ausgesprochen tatkräftig.