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Tron, unter seinem Verband schwitzend, stand an der Stirnseite der sala und registrierte ohne Überraschung die ersten Zeichen gesellschaftlicher Verwilderung unter den Ballgästen. Wie üblich hatten die Hitze im Saal, der Champagner und die Maskierung eine allgemeine Enthemmung bewirkt, und aus langjähriger Erfahrung wusste er, dass spätestens um zehn die Konventionen zu bröckeln begannen. Da durften die Augen der Herren länger als schicklich auf den Ausschnitten der Damen ruhen und ihre Hände beim Tanz wie beiläufig unter die Hüften rutschen. Intime Geständnisse, normalerweise mit einem indignierten Abwenden des Kopfes beantwortet, waren dann nicht nur gestattet, sondern willkommen. Alles dies war schließlich der Sinn der Maskenbälle. Tron drehte den Kopf, als neben dem Orchesterpodium ein lautstarkes Konfetti-Scharmützel entbrannte. Drei Herren in Kniebundhosen und gepuderten Perücken bewarfen drei junge Damen in seidenen Abendkleidern mit Papierschnipseln und Papierschlangen. Die Damen stießen spitze Schreie aus, während die Herren die Maskenfreiheit benutzten, um ihnen anschließend die Schnipsel aus den Dekolletes zu klauben. 

Wie immer versuchte Tron zu erraten, wer sich hinter den jeweiligen Masken verbarg. Den Polizeipräsidenten zu identifizieren war kein Problem. Tron wusste ja, dass Spaur als Kleopatra erscheinen würde. Außerdem schien der Baron es geradezu darauf angelegt zu haben, von möglichst vielen Ballgästen erkannt zu werden, denn gleich nach seiner Ankunft hatte er an der Seite seiner Frau eine Runde gedreht. Jetzt machte er offenbar den Versuch, Stumm von Bordwehr von etwas zu überzeugen — ihm vielleicht einen Tanz anzutragen. Der Oberst, leicht zu erkennen, hatte abwehrend die Hände erhoben und schüttelte lachend den Kopf. Als Vertreter des kaiserlichen Militärs war Stumm in einem formellen, mit seinen roten Galons fast militärisch wirkenden frac erschienen. Seine Maskerade hatte sich auf eine schlichte schwarze Maske beschränkt. Er war ohne Begleitung gekommen.

Und Signorina Violetta, die Baronin Spaur? Die Principessa hatte recht gehabt. Die junge Baronin konnte es sich in der Tat leisten, in einer Tunika aufzutreten, die mehr als nur knapp war. Kaum geschminkt, die üppigen Haare unter einem schlichten Kriegshelm aus bronzierter Pappe verborgen, bot sie trotzdem einen atemberaubenden Anblick. Als Signorina Violetta in ihrer männlichen Antonius-Verkleidung die Principessa zum Tanz aufgefordert hatte und die beiden Damen im Dreivierteltakt über die Tanzfläche glitten, war ein Raunen durch die Menge gegangen. Morgen früh, wenn die große Ernüchterung eingekehrt war, würde man die tanzenden Damen zweifellos de trop finden, aber heute Abend überwog die Bewunderung. Zu seiner Erleichterung hatte Tron festgestellt, dass sich seine eigene Irritation über die Principessa in Grenzen hielt, zumal er sich selbst dem androgynen Reiz Signorina Violettas nicht entziehen konnte.

Ebenfalls leicht zu identifizieren war sein Freund Alphonse de Sivry, der Gemäldehändler von der Piazza San Marco und heute zum ersten Mal Gast auf dem Maskenball im Palazzo Tron. Sivry war stark geschminkt, trug eine Perücke à l'Oiseau Royal, dazu einen kornblumenblauen Anzug im englischen Stil. Er sprach mit hoher Stimme, rollte die Augen wie ein ungarischer Violinzigeuner und begleitete seine Worte mit affektierten Gebärden. Im Grunde, dachte Tron, war Sivry heute Abend keineswegs in Maskierung erschienen. Er hatte lediglich die Maske abgelegt, die zu tragen er normalerweise gezwungen war.

Aber wer war der schwarzgekleidete Pirat, der sich in wilden Bocksprüngen durch die Menge bewegte und jede Blondine mit einem Messer aus Pappe bedrohte? Einer von den verrückten Priulis? Tron erinnerte sich dunkel daran, dass einer von ihnen mal auf einem Maskenball der Trons ein echtes Messer gezückt hatte, doch das war lange vor seiner Geburt geschehen, noch in den Zeiten der Republik. Jedenfalls passte der Pirat zu einem bereits leicht torkelnden Neptun, der den Damen neckische Stöße mit seinem ebenfalls aus Pappe angefertigten Dreizack versetzte. Ein Mocenigo übrigens — diese Familie hatte traditionellerweise eine Vorliebe für maritime Verkleidungen.

Und um wen handelte es sich bei der Frau mit der auffällig großen Handtasche und der blonden und etwas schief sitzenden Perücke, die sich schüchtern durch die Menge schob? Irgendwie kam sie Tron bekannt vor, doch um Bossi handelte es sich nicht. Der Ispettore hatte zwar heute ebenfalls eine blonde Perücke auf dem Kopf, aber er hatte keine Handtasche und trug eine Krinoline aus dunkelblauer Seide und einen weißen Fächer aus Straußenfedern.

Rätsel über Rätsel, dachte Tron, dunkle Geheimnisse, die sich erst um Mitternacht, bei der allgemeinen Demaskierung, aufklären würden. Das aber störte ihn wenig, denn der unangenehme Teil des Balls lag jetzt hinter ihm — der traditionelle Eröffnungstanz, bei dem es fast zu einer Katastrophe gekommen war. Pünktlich um halb neun hatten Tron und seine Mutter den Ball wie in jedem Jahr mit den Figuren des Aimable Vainqueur eröffnet. Tron hebte Menuette, aber er hasste es, sie öffentlich zu tanzen - speziell dann, wenn fünfzig Augenpaare kritisch beobachteten, ob sein pas menu auch die erforderliche Leichtfüßigkeit hatte. Wie befürchtet, war es bei einer ronde, einer Drehung, zur Katastrophe gekommen. Die Contessa hatte sich nach links gedreht, er selbst irrigerweise nach rechts. Bei dem Versuch, seinen Fehler zu korrigieren, war er mit den Füßen durcheinandergeraten und — nun ja, nicht ganz gestürzt, aber halb. Zwar war es ihm gelungen, seinen halben Sturz in eine plié umzudeuten, eine Beugung des Knies. Die aber war völlig fehl am Platz und wurde durch ein demi-coupé, eine anschließende Streckung des Beines, nur notdürftig kaschiert. Der Beifall des Publikums war äußerst ironisch gewesen.

Jetzt hatte die Musik wieder eingesetzt, und Tron sah, wie die Paare sich formierten, um gemeinsam auf die Tanzfläche zu schreiten. Eigentlich hatte er vorgehabt, die Principessa zum Tanz aufzufordern, musste dann aber feststellen, dass sie bereits besetzt war — sie verschwand gerade laut lachend am Arm der Baronin Spaur. Also beschloss er, sich in die sala degli arrazzi, das Gobelinzimmer, zu begeben, in dem traditionellerweise das kalte Buffet aufgeschlagen wurde. Ob noch etwas von dem köstlichen, auf zerstoßenem Eis gebetteten Zitronensorbet vorhanden war? Diesem     

Gedicht von Sorbet, das auf seinen Wunsch hin bereitet worden war und auf das er sich den ganzen Abend gefreut hatte? Doch als Tron im Gobelinzimmer — eine Schale und einen Löffel bereits in der Hand — vor das Buffet trat, musste er feststellen, dass ihm jemand zuvorgekommen war. Das große, mit Zitronenlaub dekorierte Glasbehältnis war leer, und der Täter stand direkt daneben. 

Es handelte sich um eine blonde Signora mit einer roten bautta und ausgesprochen männlich wirkenden Händen — es war die Frau, die ihm bereits in der sala aufgefallen war. In der rechten Hand hielt sie einen Löffel, in der linken eine Glasschale, in der sich eine unverschämt große Portion Sorbet befand — der ganze Rest. Tron beschränkte sich darauf, eine eisige Verbeugung anzudeuten, obwohl er eigentlich Lust gehabt hätte, den Burschen auf der Stelle zu erschießen. Jawohl, den Burschen. Denn dass es sich hier um einen Mann handelte, war jetzt völlig klar. Keine Frau hätte die Nerven gehabt, wie ein wildes Tier über das Zitronensorbet herzufallen. Als Tron sich wütend abwandte, stieg ihm der Duft von bouquet à la Maréchal in die Nase. Das löste zum zweiten Mal eine dunkle Erinnerung in ihm aus, die er nicht einordnen konnte.