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Hübsch, dachte Tron, der es sich auf einer der roten Polsterbänke im maurischen Salon des Café Florian bequem gemacht hatte. Die Verse, einfache, sich in Paaren reimende Jamben, flossen anmutig dahin, und er bezweifelte inzwischen, ob es wirklich eine gute Idee wäre, das zweiseitige Gedicht auf eine Seite zu kürzen. Andererseits hatte Spaur wieder eine Prosadichtung angekündigt, die in der nächsten Ausgabe des Emporio della Poesia mindestens zehn Seiten Platz einnehmen würde. Die Novelle des Polizeipräsidenten über einen alternden Schriftsteller, der sich in Venedig in eine junge Polin verliebt und an der Cholera stirbt — eine selten dämliche Geschichte —, war ein großer Erfolg für Spaur gewesen, und Tron fragte sich, ob ...   

«Commissario ?»

Tron hob erschrocken den Kopf und griff automatisch nach der Meringue, die der Kellner des Florian ihm eben serviert hatte; ein äußerst leckeres Teilchen, bestrichen mit einer üppigen Schicht Schokolade, die ihrerseits von einer Schicht mousse au chocolat gekrönt war. Bossi hatte noch einen Satz hinterhergeschoben, von dem Tron nur die Wörter Kirche, Messer und Altar registriert hatte. Sein Verstand war immer noch bei dem Emporio.

Der Ispettore wirkte ausgesprochen derangiert. Sein Gesicht war gerötet, und Tron sah Schweißperlen auf seiner Stirn glänzen. Ob er Bossi die Meringue empfehlen sollte? Mit zusätzlicher Schlagsahne? Nein, lieber nicht. Der Ispettore sah nicht so aus, als würden ihn jetzt Gebäckteilchen interessieren.

Tron setzte ein beruhigendes Lächeln auf. «Was ist los, Bossi?»

Nicht dass er es wirklich wissen wollte. Eigentlich wollte er nur in aller Ruhe sein Frühstück beenden, sich gegen zwölf gemütlich in die Questura begeben, um das Verhör von Signor Zuckerkandl mit einem Geständnis abzuschließen.

Bossi hatte Platz genommen und dämpfte die Stimme. Von den Nachbartischen warf man ihnen neugierige Blicke zu. «Er hat gestern Nacht wieder zugeschlagen.»

Wie bitte? Das war ein Satz, den Tron nicht verstand. Die einzige Person, die Bossi meinen konnte, hatten sie gestern verhaftet. «Wer hat zugeschlagen?»

«Der Verrückte», sagte Bossi. «Diesmal in einer Kirche. Direkt vor dem Altar.»

Tron legte die Kuchengabel, mit der er den Rest der Meringue aufspießen wollte, wieder auf den Teller zurück. Die mousse sah plötzlich grau und unappetitlich aus — wie geronnenes Blut. Er räusperte sich. «In welcher Kirche ist das passiert?»

«In San Giovanni in Bragora», sagte Bossi. «Der Pfarrer war eben auf der Questura. Er hat die Frau vor dem Altar gefunden. Neben ihr lag ein scharfes Messer.» Der Ispettore holte tief Luft. «Ich glaube, dass Zuckerkandl unschuldig ist und der Mann, den wir suchen, noch frei herumläuft.»

Noch frei herumläuft.

«Dann könnte ...», fuhr Bossi fort, brach aber den Satz sofort wieder ab. Es war klar, was er sagen wollte.

Tron nickte. «Stumm hat am vorletzten Sonntag den Nachtzug von Verona nach Venedig benutzt. Der Neffe der Principessa, Signor Sorelli, hat ihn gesehen. Der Oberst war in Zivil.» Tron musste sofort an das Gespräch mit Spaur denken, das ihm bevorstand. «Womit wir vier Tote hätten», sagte er matt.

Bossi schüttelte den Kopf. «Das stimmt nicht.»

«Die erste Tote in der Gondel», sagte Tron. «Die zweite an den Zattere, die dritte im Hotel. Und jetzt die vierte Tote in der Kirche.» Er sah Bossi irritiert an. «Was stimmt nicht?»

«Die Frau ist noch am Leben.»

Tron setzte sich ruckartig auf. «Sie lebt?»

«Sie ist weniger schwer verletzt, als es zunächst den Anschein hatte.»

«Wer sagt das?»

«Der Arzt, den der Pfarrer gerufen hatte.» Bossi dachte kurz nach, bevor er die Verletzungen aufzählte. «Würgemale am Hals, eine lädierte Nase, eine Platzwunde an der Stirn. Aber sonst nichts.»

«Ist sie bei Bewusstsein?»

«Der Pfarrer sagt, sie kann reden.»

Tron sprang energisch auf.

«Die Gondel wartet am Molo», sagte Bossi.

*

Offenbar hatte Pater Hieronymus sie bereits auf dem Campo della Bragora kommen sehen, denn die Tür des Pfarrhauses öffnete sich, bevor sie klingeln konnten. Vor ihnen stand ein Mann, der Tron gerade bis zur Schulter reichte.

Tron schätzte Pater Hieronymus auf Mitte fünfzig. Sein bartloses Gesicht war durchscheinend blass, die braunen Augen etwas vorstehend, der Rand ihrer Lider gerötet. Er trug eine Soutane, darüber ein goldenes Kreuz. Die Hand, die er Tron mit schlaffem Druck gereicht hatte, war auffällig weiß. Sein Kneifer gab ihm das Aussehen eines Privatgelehrten, der sich als Priester verkleidet hatte. Um seine Füße strich eine bräunliche Katze und rieb ihr Fell an seiner Soutane. 

«Möchten Sie die Signorina sofort sehen, oder wollen Sie erst mit mir sprechen?» In der Stimme des Paters verband sich eine unerwartet tiefe Tonlage mit einer trägen, aber kultivierten Sprechweise.

«Vielleicht reden wir zuerst», sagte Tron.

«Dann würde ich vorschlagen, dass wir uns in mein Arbeitszimmer begeben», sagte Pater Hieronymus. Er ging voraus, öffnete eine Tür am Ende des Flures und machte einen höflichen Schritt zur Seite.

Das Arbeitszimmer hatte zwei hohe Fenster zum Campo und eine weitere Tür, die zur Kirche führen mochte. Eine ganze Wand wurde von deckenhohen Bücherregalen eingenommen. Zwei altertümliche Holzstühle und ein Lesepult erinnerten Tron an Bilder, auf denen der heilige Hieronymus in seinem Studierzimmer dargestellt war. Auf einer Staffelei stand ein zur Hälfte gereinigtes Gemälde mit einer Flusslandschaft. Daneben, auf einem Tischchen, sah Tron eine Sammlung von Pinseln, Tuben, Schabern und Fläschchen. Es roch nach Ölfarbe und Lösungsmittel.     

«Ich bin nicht nur zum Hüter meiner Schäfchen bestimmt», sagte Pater Hieronymus, nachdem sie Platz genommen hatten, «sondern auch für das verantwortlich, was frühere Generationen unserer Kirche hinterlassen haben.»

Womit er offenbar das künstlerische Inventar der Kirche meinte, das dem Pater, vermutete Tron, vielleicht mehr am Herzen lag als seine Schäfchen.

«Ich nehme an, Sie wissen», fuhr der Pater fort, «was die Stadt an dieser Kirche hat.» Er warf einen inquisitorischen Blick auf seine Besucher.

Nein, das wusste Tron nicht. Jedenfalls nicht so genau. Hing hier ein Tintoretto? Oder gar ein Tizian? Oder womöglich zwei von jeder Sorte? Vorsichtshalber senkte er bejahend den Kopf. Die Katze, ein Tier mit mähnenartigem Nackenfell, war dem Pater gefolgt, und Tron musste unwillkürlich lächeln. Der Löwe zählte zu den Attributen des heiligen Hieronymus. Pater Hieronymus hatte Trons Blick bemerkt. «Hätte es Gattopardo nicht gegeben», sagte er lächelnd, «würde die Signorina nicht mehr leben.»

«Gattopardo?»

«Meine Katze», sagte der Pater. «Sie ist auf mein Bett gesprungen und hat gemaunzt. Davon bin ich wach geworden. Ich wollte aufstehen, um Milch aus der Küche zu holen, aber dann habe ich diesen Schrei gehört. Er kam direkt aus der Kirche. Also habe ich mir etwas übergezogen und bin durch die Sakristei dorthin gelaufen. Als ich die Tür öffnete», fuhr der Pater fort, «sah ich einen Mann, der neben einer liegenden Person kniete und ein Messer in der Hand hatte. Wie auf dem Maggiotto. Ich war gewissermaßen der Engel.»

«Maggiotto?»

Pater Hieronymus sah Tron an wie einen Erstklässler. «Das Opfer Abrahams, Commissario. Im rechten Gang.»

Aha, offenbar handelte es sich um ein Gemälde, und Maggiotto war der Maler. Tron nickte verständnisvoll.

«Als der Mann mich hörte», fuhr Pater Hieronymus fort, «ist er aufgesprungen.»

«Und dann?»

«Habe ich ihn angeschrien. Ich bin schließlich kein Engel. Er hätte mich töten können. Aber er zog es vor zu verschwinden.»

«Auf welchem Weg?»

«Vermutlich durch die Tür, die er auch benutzt hatte, um zusammen mit der Frau die Kirche zu betreten.»

«Sind die Kirchentüren nicht nachts abgeschlossen?»

«Natürlich sind sie das.»

«Dann hat der Mann entweder einen Dietrich benutzt oder einen Schlüssel gehabt.»

Der Pater schüttelte den Kopf. «Die Schlösser zu den drei Portalen sind vor einem halben Jahr ausgewechselt worden, nachdem jemand versucht hatte, unseren Vivarini zu stehlen.» Wieder setzte Pater Hieronymus voraus, dass seine Besucher über die Ausstattung der Kirche im Bilde waren. «Mit einem Dietrich», beendete er seinen Gedankengang, «ist nicht viel anzufangen.»

«Wollen Sie damit sagen, dass der Mann einen Schlüssel benutzt hat?»

Der Pater nickte. «Zumal ich einen meiner beiden Schlüssel vermisst habe.»

«Wo bewahren Sie die Schlüssel normalerweise auf?»

«An einem Brett in der Sakristei.»

«Wer hat Zugang zur Sakristei?»

«Der Küster, meine Haushälterin und meine Besucher. Die betreten mein Arbeitszimmer durch die Sakristei.»

«Und wer besucht Sie?»

«Alle möglichen Leute mit unterschiedlichen Anliegen.»

«Es könnte also einer Ihrer Besucher den Schlüssel entwendet haben.»

«Das wäre möglich.»

«Wann haben Sie entdeckt, dass einer der beiden Schlüssel verschwunden ist?»

«Vor ein paar Tagen. Was aber nicht bedeuten muss, dass der Schlüssel schon seit einiger Zeit nicht mehr da ist.» Pater Hieronymus sah Tron an. «War es der Mann, der die Frau auf der Gondel ermordet hat?»

«Wir gehen davon aus», sagte Tron.

«Ich habe den Artikel in der Gazzetta gelesen.» Der Pater schüttelte entsetzt den Kopf.

«Vor zwei Tagen», sagte Tron, «hat der Mann auch eine Frau in einem Hotel ermordet.»

«Ist der Frau ebenfalls die Leber entnommen worden?»

Tron nickte. Plötzlich fiel ihm der Maggiotto ein — die Opferung Isaaks durch Abraham. «Ich frage mich», sagte er langsam, «ob es sich dabei nicht um eine Art Opferritual handelt. Vielleicht war es kein Zufall, dass der Mann versucht hat, die Frau direkt vor dem Altar zu töten.»

Pater Hieronymus dachte kurz nach. «Das ist möglich. Nur dass es dem Mörder nicht auf das Töten ankam.»

«Worauf sonst?»

Der Pater sah Tron triumphierend an. «Darauf, dem Organ Informationen zu entnehmen.»

Es dauerte einen Moment, bis Tron verstand, was der Pater damit meinte. «Sie glauben, es hat sich um ein Augurium, eine Weissagung aus den Eingeweiden, gehandelt?»

Pater Hieronymus nickte selbstgefällig. «Der Mann könnte die Vorstellung haben, dass ein Augurium auf geweihtem Boden besonders präzise Weissagungen erlaubt. Jedenfalls», fuhr er fort, «wäre ein Augurium die Erklärung dafür, dass der Mann seinen Opfern die Leber entnimmt.»

«Eine andere Erklärung», sagte Tron freundlich, «wäre die, dass der Mann schlicht und einfach verrückt ist.»

Doch dies war ein Gedankengang, den der Pater — wie seine Miene deutlich besagte — für zu schlicht hielt. «Sie heißt Maria Maggiotto», sagte er, indem er sich säuerlich lächelnd erhob. «Aber sie kennt den Maler gar nicht. Kommen Sie, Commissario. Ich bringe Sie zu ihr.»