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Während sie langsam die Treppen zu Spaurs Büro emporstiegen, fragte sich Tron, in welcher Verfassung sie den Polizeipräsidenten vorfinden würden. Hatte Spaur die neueste Hiobsbotschaft noch in Gegenwart der Baronin empfangen oder erst auf der Questura von Sergeant Kranzler? Traf Ersteres zu, dann hatte Spaur bereits ein unangenehmes Gespräch mit seiner Gattin geführt, und entsprechend grauenhaft würde seine Laune sein. Tron konnte sich lebhaft vorstellen, wie die Baronin reagiert hatte. Nach diesem Mord konnte Spaur eine kaiserliche Einladung in die Hofburg definitiv vergessen — zweifellos ein schwerer Schlag für die Baronin. Was wiederum bedeutete, dass Spaur genötigt sein würde, seine junge Frau auf andere Weise zu beglücken. Also noch mehr Geld für Schmuck und Garderobe auszugeben, als er ohnehin schon tat.

Dabei konnte man nicht behaupten, dass Signorina Violetta, ehemals Soubrette am Malibran, den Polizeipräsidenten listig in die Ehefalle gelockt hatte. Tron hatte dieses Märchen lange Zeit geglaubt, musste dann aber feststellen, dass er sich getäuscht hatte. Tatsächlich war es Spaur gewesen, der Signorina Violetta hartnäckig bekniet hatte, ihn zu heiraten. Und in Wahrheit hatte die Signorina gezögert, einen Mann zu ehelichen, der fünfunddreißig Jahre älter war als sie. Da der Polizeipräsident sich in der Rolle des attraktiven Junggesellen gefiel, hatte er überall — auch bei Tron — den Eindruck verbreitet, Signorina Violetta hätte ihn in diese Ehe gedrängt.

Sie war eine brünette, schlanke Fünfundzwanzigjährige mit kohlschwarzen Augen, und als Tron sie zum ersten Mal gesprochen hatte, war er von ihrer natürlichen Art angenehm berührt gewesen. Dass sich an diesem Verhalten nach ihrer ehelichen Erhebung zur Baronin nichts änderte, sprach in seinen Augen unbedingt für sie. Und war es nicht verständlich, dass die Baronin den Wunsch hatte, in der Welt, in die sie eingeheiratet hatte, auch akzeptiert zu werden? Und dass sie deshalb allergrößten Wert auf eine Einladung in die Hofburg legen musste? Dass die Baronin sich nicht scheute, beträchtliche Summen für Schmuck und Garderobe auszugeben, lag wahrscheinlich auch daran, dachte Tron, dass Spaur seiner jungen Gemahlin gegenüber die eigenen finanziellen Verhältnisse ein wenig zu rosig dargestellt hatte.

Unwillkürlich fiel ihm der bayerische König Ludwig ein — nicht der zweite Ludwig, der erst kürzlich die Regentschaft angetreten hatte, sondern der erste, den eine ganz ähnliche Konstellation zu Fall gebracht hatte. Wie alt war der König gewesen, als er im Herbst 1847 die spanische Tänzerin Lola Montez zum ersten Mal auf der Bühne gesehen hatte? Tron tippte auf sechzig. Womit sich — wenn man die Montez auf fünfundzwanzig schätzte — ebenfalls eine Differenz von fünfunddreißig Jahren ergab. Die schöne Andalusierin, in Wirklichkeit aus Irland und nicht aus Sevilla, hatte knappe zwei Jahre gebraucht, um ihren Liebhaber zu ruinieren. Am Ende musste der König abdanken, und die Montez war gezwungen, München fluchtartig zu verlassen. Ob Spaur die traurige Geschichte von Ludwig und Lola kannte? Ja, sicher. Ganz Europa hatte damals den Skandal am bayerischen Hof mit größtem Interesse verfolgt.   

*

«Dieser Mord», sagte Spaur verdrossen, nachdem Tron und Bossi vor seinem Schreibtisch Platz genommen hatten, «geht die Questura im Grunde nichts an. Wenn ein kaiserlicher Offizier eine Leiche auf einem Militärgelände entdeckt, ist das kein Fall für die venezianische Polizei. Das habe ich jedenfalls versucht, der Baronin zu erklären.»

Der Polizeipräsident steckte sich ein Praliné in den Mund. Das tat er mit einer so schwerfälligen Bewegung, als wöge das Stück Trüffelkrokant mindestens einen Zentner. Offenbar hatte er seine Gattin von dieser Sicht der Dinge nicht überzeugen können.

Tron beugte sich verbindlich über den Tisch. «Und was hat die Baronin dazu gesagt?»

«Sie hat mir entgegnet, dass man den Campanile nicht unbedingt als Militärgelände bezeichnen kann», antwortete Spaur. «Und dass es sich eindeutig um den Mann handelt, nach dem wir bereits fahnden.»

«Wir werden also nicht versuchen, den Fall an die Militärpolizei abzugeben?»

Spaur schüttelte den Kopf. «Davon hält die Baronin nichts. Sie möchte», setzte er lahm hinzu, «dass wir in die Offensive gehen.»

Tron hatte nicht den Eindruck, dass der Polizeipräsident dem Ratschlag seiner Gattin mit großer Begeisterung folgte. «Wem gegenüber sollten wir in die Offensive gehen?»

«Den Militärbehörden gegenüber und auch dem Täter.»

«Und wie?»

Spaur rückte die Kaffeekanne zur Seite, um einen Blick auf die Fotografie seiner Gattin zu werfen, die in einem silbernen Rahmen auf dem Schreibtisch stand. «Die Baronin meint, wir sollten dem Burschen eine Falle stellen.»

Tron hob die Augenbrauen. «Eine Falle?»

Spaur sah Tron an wie einen begriffsstutzigen Rekruten. «Eine Falle ist ein Mechanismus, der die Beute fängt oder tötet», sagte er. «Mit einem Köder, der sie anlockt.»

Als Tron schwieg, weil er nicht wusste, was er darauf antworten sollte, räusperte sich Bossi respektvoll. «Exzellenz meinen, wir sollten einen Lockvogel einsetzen?» Der Ispettore sprach Spaur gewöhnlich in der dritten Person an, was der Polizeipräsident jedes Mal genoss und was Tron jedes Mal amüsierte. 

Spaur warf einen wohlwollenden Blick auf Bossi. «So ist es, Ispettore. Das ist auch das Wort, das die Baronin benutzt hat — Lockvogel.» Er trank einen Schluck aus seiner Tasse. «Und was hatten die Opfer alle gemeinsam?»

Bossi dachte nach. Dann sagte er: «Sie waren blond und hatten grüne Augen, Exzellenz. Aber es dürfte schwierig sein», fügte er hinzu, «eine weibliche Person aufzutreiben, die sich als Lockvogel eignet.»

«Die Baronin meint, es müsse nicht unbedingt eine Frau sein, die den Lockvogel spielt», sagte Spaur.

Das schien den Ispettore zu verwirren. «Ein weiblicher Lockvogel, der keine Frau ist?»

Spaur lächelte plötzlich — auf eine Art und Weise, die Tron nicht gefiel. «Alles, was wir brauchen», sagte der Polizeipräsident langsam, «ist eine junge Person mit grünen Augen, blonden Haaren und guten Nerven.»

Bossi straffte sich dienstfertig auf seinem Stuhl. «Haben der Baron jemanden ins Auge gefasst?»

Spaurs unangenehmes Lächeln verstärkte sich. «Sie kennen die Kriterien, Ispettore. Blond, grüne Augen, keine Landsknechtfigur. Angenehmes Gesicht, keine Stimme wie ein Reibeisen. Wenn diese Person auch mit einer Waffe umgehen könnte, wäre das vorteilhaft.» Spaur lehnte sich über den Tisch und sah Bossi an. «Würden Sie mir Ihre Augenfarbe verraten, Ispettore?»

Bossi schien die Frage ein wenig zu irritieren. «Grün, Exzellenz.»

Spaur nickte zufrieden. «Na bitte.»

Der Ispettore war plötzlich bleich geworden. «Exzellenz schlagen vor, dass ich ...»

Spaur schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. «Bei Riccardi bekommen Sie alles, was Sie brauchen.»

Bossi schluckte. «Exzellenz meinen den Kostümverleih in der Frezzeria?»

«Riccardi hat Kleider in allen Größen», sagte Spaur kalt. «Suchen Sie sich etwas Ansprechendes aus und lassen Sie sich von Signor Riccardi persönlich bedienen. Sagen Sie ihm, dass es sich um eine polizeiliche Ermittlung handelt. Er soll die Rechnung an die Questura schicken.»

*

«Werden Sie es machen, Ispettore?»

Bossi, den Rücken an die Wand des Flurs vor Spaurs Zimmer gelehnt, sah aus, als würde ihm ein maskierter Wegelagerer einen Dolch an die Kehle halten. Er stöhnte auf. «Spaur ist imstande, Sergeant Kranzler zu Riccardi zu schicken, um feststellen zu lassen, ob ich dort gewesen bin. Er hat es ernst gemeint.»     

«Dann kleiden Sie sich ein und gehen anschließend einfach nach Hause.»

«Zu mir nach Hause? Zu meiner Mutter? In einem Kleid?» Bossi schüttelte entsetzt den Kopf.

Richtig, das hatte Tron völlig vergessen. Bossi war Junggeselle und wohnte immer noch bei seiner verwitweten Mutter. Die verhätschelte ihren Sohn, hielt ihn aber zugleich unter scharfer Aufsicht.

Der Ispettore sah Tron unsicher an. «Was würden Sie machen, Commissario?»

Eine interessante Frage. Tron bezweifelte, dass er in einem Kleid glaubwürdig aussehen würde. Aber bei Bossis jugendlicher Optik lag der Fall anders.

«Wenn ich Sie wäre», sagte Tron gnadenlos, «würde ich an meine Karriere denken. Ich würde mich bei Riccardi kostümieren lassen und eine Runde über die Piazza drehen. Sie könnten auch im Florian einen Kaffee trinken.»

Der Ispettore machte ein empörtes Gesicht. «Ich soll ohne männliche Begleitung in ein Café gehen?»

Tron musste lächeln. Bossi, der Fanatiker technischen Fortschrittes, war zugleich gusseisern konventionell. Eine ehrbare Frau, die unbegleitet ins Florian ging, um dort einen Kaffee zu trinken? Undenkbar! Dass es auch etwas mit Fortschritt zu tun hatte, wenn Frauen ohne Herrenbegleitung ein Café aufsuchten, wäre dem Ispettore nie in den Sinn gekommen. Engländerinnen und Amerikanerinnen traf man jetzt immer öfter allein in den Cafés an der Piazza. Bei den Venezianerinnen, da waren sich Tron und die Principessa einig, bestand auf diesem Gebiet noch ein gewisser Nachholbedarf. Und natürlich auch bei den venezianischen Männern.

«Ein moderner Polizeibeamter», sagte Tron, «muss flexibel sein.»

«Sie meinen also, ich sollte ...»

Tron nickte. «Probieren Sie es aus. Und wenn Sie mit dem Kostüm klarkommen, drehen Sie heute Nacht eine Runde durch die einschlägigen Etablissements.»