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Tron betrat die Questura am nächsten Morgen kurz vor elf. Spaur war noch nicht aufgetaucht, aber der Commissario hatte ohnehin die Absicht, den Bericht von Dr. Lionardo zu lesen, bevor er mit dem Polizeipräsidenten sprach. Es war klar, aber erheblich kälter als gestern Nacht. Ein unangenehmer, von der nördlichen Lagune kommender Wind strich über Venedig und schien die Feuchtigkeit, die über der Stadt gelegen hatte, auf die terra ferma geblasen zu haben. Vermutlich, dachte Tron, konnte man heute von den Altanen vieler Häuser die schneebedeckten prealpi sehen, ein Anblick, der ihn immer aufs Neue entzückte.

In seinem Büro angekommen, sah Tron, dass zwei große braune Umschläge auf seinem Schreibtisch lagen. Einer enthielt den Sektionsbericht von Dr. Lionardo, der andere die Fotografien, die Bossi auf der Gondel gemacht hatte. Tron überlegte kurz. War es notwendig, Bossis Umschlag zu öffnen? Nein. Den Anblick des aufgeschlitzten Frauenkörpers musste er sich nicht ein zweites Mal zumuten. Also setzte er seinen Kneifer auf und öffnete den Umschlag mit dem Sektionsbericht.

Wie erwartet, bestätigte sich das, was der dottore bereits gestern Nacht vermutet hatte. Die Frau war noch am Leben gewesen, als der Mörder ihre Bauchdecke aufgeschlitzt hatte. Der Tod war nicht durch Ersticken eingetreten, sondern durch Verbluten. Da Tron mit der Gabe der exakten Phantasie geschlagen war, stellten sich sogleich einige Fragen. Wie lange hatte es gedauert, bis der Blutverlust so stark war, dass die Frau das Bewusstsein verloren hatte? Fünf Minuten? Zehn Minuten? Und: Hatte sie die Operation noch bei vollem Bewusstsein erlebt, oder war sie zu diesem Zeitpunkt bereits ohnmächtig? Die Einschnürungen an Händen und Fußgelenken waren stärker gewesen, als gestern Abend zu erkennen gewesen war — ein Indiz dafür, dass das Opfer sich verzweifelt gewehrt hatte. Interessant war auch, dass der Mörder über solide anatomische Kenntnisse verfügt haben musste. Eine Leber zu entfernen, ohne sie dabei zu beschädigen, betonte der Bericht, sei nicht einfach, und das entfernte Organ war intakt gewesen. Handelte es sich demnach um einen Arzt? Nicht unbedingt. Jedenfalls würde Dr. Lionardos Beobachtung helfen, die Suche nach dem Täter einzugrenzen.     

Aber nach welchem Täter? Suchten sie tatsächlich einen Zuhälter, der auf brutale Weise ein Exempel statuieren wollte? Hier im gemütlichen Venedig? Tron wusste nicht, was in den einschlägigen Kreisen von Paris oder London üblich war. Weidete man dort abtrünnige Huren zur Abschreckung aus? Tron bezweifelte es. Das venezianische Rotlichtgewerbe jedenfalls hatte eine lange, ehrwürdige Tradition. Zuhälter und Huren verhielten sich unauffällig, und dafür ließen die Behörden sie gewähren. Außer ein paar Körperverletzungen war in Trons Amtszeit auch nie etwas Ernsthaftes vorgefallen. Nein - ein solches Verbrechen passte nicht zu Venedig.

Handelte es sich also um die Tat eines Wahnsinnigen? Eines äußerst brutalen Verrückten? Und wenn — wie fahndet man nach einem Verrückten? Nach einem Täter, der kein rationales Motiv hat? Nach einem Mann, der sein Opfer nicht einmal vorher gekannt haben muss und der jederzeit wieder zuschlagen kann? Das war keine angenehme Aussicht.

*

Bossi tauchte eine halbe Stunde später auf. An den freudig-dynamischen Schritten, mit denen er sich näherte, erkannte Tron, dass der Ispettore Erfolg gehabt hatte.

«Sie hat hin und wieder in der Locanda verkehrt», sagte Bossi. «Ein Kellner hat sie sofort erkannt und konnte mir auch sagen, wo sie gewohnt hat.»

«Und wo?»

«Am Campo San Biagio», sagte Bossi. Und zwar direkt neben der Kirche.»

«Woher wusste der Kellner das?»

«Weil er selber am Campo San Biagio wohnt.»

«Hat er sonst noch etwas über die Frau sagen können? Hatte sie einen rampane, einen Zuhälter?»

«Das habe ich ihn auch gefragt, aber davon wusste er nichts. Er sagte, sie hätten nie miteinander gesprochen.»

«Hat die Frau jetzt einen Namen?»

«Zumindest einen Vornamen», sagte Bossi. «Sie heißt Gina. In dem Haus ist eine Pasticceria. Ihre Wohnung liegt im zweiten Stock.»

*

Das Haus am Campo San Biagio war ein zweistöckiges Gebäude mit abblätterndem Putz und grünlichen Fensterläden, die dringend einen neuen Anstrich gebraucht hätten. Die Pasticceria hatte geöffnet, und der Bäcker bestätigte auf Nachfrage, dass zwei junge Frauen in der Wohnung über dem Laden wohnten. Zwei junge Frauen? Ja — zwei Putzmacherinnen, setzte der Bäcker hinzu, ohne das Wort mit einem anzüglichen Unterton auszusprechen. Offenbar war in der Nachbarschaft nichts darüber bekannt, wie die junge Frau ihr Geld verdient hatte — seltsam in einer Stadt wie Venedig, in der kaum etwas verborgen blieb.   

Erst nachdem Bossi zum zweiten Mal an die Wohnungstür geklopft hatte, hörten sie Schritte, die sich näherten. Dann schwang der Türflügel nach innen, und eine junge Frau stand vor ihnen. Wenn sie ebenfalls in dem Gewerbe tätig war, in dem ihre Mitbewohnerin ihr Geld verdient hatte, sah man es ihr nicht an. Sie trug ein schlichtes, bis zum Kragen geschlossenes Hauskleid aus brauner Wolle. Ihre dunkelbraunen, fast schwarzen Haare hatte sie zu einem Dutt hochgesteckt. Als ihr Blick auf Bossis Uniform fiel, machte sie ein erschrockenes Gesicht und wich instinktiv einen Schritt zurück. 

Bossi legte grüßend die Hand an seinen Uniformhelm, und Tron deutete eine Verbeugung an. Dann fragte er: «Signora ...?»

«Signorina Querini», antwortete die junge Frau. Sie sah Tron, den sie sofort als den Ranghöheren identifiziert hatte, misstrauisch an. «Worum geht es?»

«Ich bin Commissario Tron», sagte Tron. «Und das ist Ispettor Bossi.» Er lächelte, um die Situation zu entspannen. «Dürften wir Ihnen drinnen sagen, worum es geht, Signorina?»

Signorina Querini antwortete nicht. Sie zuckte nur resigniert die Achseln und trat zur Seite. Als sie über die Schwelle traten, warf Tron einen Blick in die Wohnung. Sie war unaufgeräumt und schien nicht mehr als eine preiswerte Behausung zweier junger Frauen zu sein. Tron konnte sich nicht vorstellen, dass hier Männer empfangen wurden.

«Es geht um Signorina Gina», sagte er, als sie einen Augenblick später in der Küche Platz genommen hatten. «Ihren Nachnamen kennen wir nicht.» Er gab Bossi, der die Fotografie der Toten bereits aus der Tasche seiner Uniformjacke gezogen hatte, den Wink, sie wieder einzustecken. «Signorina Gina wohnt doch hier, oder?»

«Ja, Signorina Calatafimi wohnt hier», bestätigte die Frau. Sie beugte sich über den Küchentisch. «Ist ihr etwas zugestoßen?»

Tron hatte nie viel davon gehalten, in solchen Situationen die Wahrheit scheibchenweise zu servieren. Er sagte in sachlichem Tonfall: «Sie ist tot.»

Signorina Querinis Kopf fuhr ruckartig nach hinten, so als hätte ihr jemand einen Schlag versetzt. Dann zog sie ein Etui aus der Tasche ihres Hauskleides, zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief. Schließlich fragte sie, den Blick auf das glühende Ende ihrer Zigarette gerichtet: «Hatte Gina einen Unfall?»

«Sie wurde gestern Nacht von einem Mann ermordet, den sie in der Locanda getroffen hatte. Der Mörder konnte entkommen.» Tron sah keinen Sinn darin, die genaueren Umstände des Verbrechens zu schildern. «Könnte irgendjemand einen Grund gehabt haben, Signorina Calatafimi zu töten?»

Signorina Querini zog hektisch an ihrer Zigarette. Tron sah, dass ihre Hände zitterten. «Ich weiß es nicht», sagte sie. «Gina hat erst seit zwei Monaten bei mir gewohnt.»

«Hat sie für jemanden gearbeitet?»

Signorina Querini schüttelte den Kopf. «Sie hatte keinen rampane, falls Sie das meinen.»

«Und sie hatte auch keinen ...» Tron brach den Satz ab, weil er nicht wusste, wie er sich ausdrücken sollte. Keinen Bekannten? Keinen Liebhaber? Keinen Hausfreund?

Signorina Querini, die Trons Zögern bemerkt hatte, lächelte flüchtig. «Ob sie einen Freund hatte? Nein, den hatte sie nicht. Aber Gina wollte nach dem Carnevale aussteigen.»

Tron war sich nicht sicher, ob er Signorina Quirini richtig verstanden hatte. «Sie meinen ...»

Sie nickte. «Sie hatte jemanden, der sie heiraten wollte.» Wieder huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. «Genauer gesagt, hatte sie zwei Männer, die sie heiraten wollten.»

Gab es das? Männer, die eine mammola, eine Professionelle, heirateten? Tron hatte Schwierigkeiten mit dieser Vorstellung. Sicher, im Venedig der Renaissance, als viele der Kurtisanen als honorate galten, waren solche Heiraten vorgekommen. Aber das war länger als dreihundert Jahre her.

«Wussten diese Männer, welcher Tätigkeit Signorina Calatafimi nachging?», fragte Tron.

Signorina Querini nickte. «Gina hat sie in der Locanda kennengelernt. Wir bekommen öfter solche Angebote.» Ihr Ton und ihr Gesichtsausdruck besagten, dass sie von solchen Angeboten nicht viel hielt. «Die beiden waren verrückt nach ihr.» Signorina Querinis Mundwinkel zogen sich missbilligend nach unten. «Und zwar wirklich verrückt.»

«Verrückt? Was meinen Sie damit?»

«Liebeskrank.» Ein Wort, das sich im Mund von Signorina Querini wie Schweinepest anhörte. «Sie hätten sie am liebsten mit Gewalt daran gehindert, wieder in die Locanda zu gehen.»

«Was wissen Sie über diese beiden Männer?»

Signorina Querini überlegte kurz. Dann sagte sie: «Einer war Venezianer, der andere ein Ausländer.»

«Hat sie erwähnt, woher der Ausländer kam und was er in Venedig gemacht hat?»

«Sie hat nie viel darüber gesprochen.»

«Hätte sie einem der beiden den Vorzug gegeben?»

Diesmal kam die Antwort, ohne dass Signorina Querini lange nachdenken musste. «Demjenigen, der übrig bleibt, hat sie mal gesagt.»

Bossi runzelte die Stirn. «Was soll das heißen?»

«Die beiden wussten voneinander. Gina meinte, sie könne sich gut vorstellen, dass einer den anderen umbringt.» Signorina Querini zog wieder an ihrer Zigarette, inhalierte und blies den Rauch zur Decke. Dann sagte sie: Aber ich glaube, sie hatte sich bereits für einen der beiden entschieden.»

«Und für wen?»

«Für den Ausländer. Sie wollte weg von hier. Mit Venedig hat sie nichts verbunden.» Das hörte sich so an, als würde Signorina Querini ebenfalls wenig mit der Stadt verbinden.

«Ist das alles, was Sie mir über die beiden Männer erzählen können?»

«Ich fürchte.»

«Hatte Signorina Calatafimi Verwandte in der Stadt?»

Sie dachte kurz nach. Dann schüttelte sie den Kopf. «Gina hat jedenfalls nie jemanden erwähnt.»

Tron erhob sich. «Dürften wir uns noch ein wenig in ihrem Zimmer umsehen?»

Signorina Querini, die offenbar froh darüber war, dass sich der Besuch der Polizei dem Ende näherte, nickte. «Ich zeige es Ihnen.»

Das Zimmer, das Signorina Calatafimi bewohnt hatte, lag auf der anderen Seite des Flurs. Die Einrichtung beschränkte sich auf einen kleinen Tisch, auf dem ein hölzerner Kasten stand, einen Kleiderschrank, einen Stuhl und ein Bett. Der einzige Luxus bestand in geblümten Vorhängen vor dem Fenster und einem Fell, das als Bettvorleger diente. In der Hoffnung, auf persönliche Gegenstände zu stoßen, hatte Tron sofort das Kästchen untersucht. Aber er fand nur ein paar Schminkutensilien, einen Kamm und eine Haarbürste — keine Briefe, keine Fotografien, nichts. Es war, als hätte hier ein Gespenst gewohnt. Als Bossi den Kleiderschrank öffnete, stellten sie fest, dass er nicht mehr als ein halbes Dutzend Sachen, ein wenig Wäsche und zwei Paar Schuhe enthielt. Die Kleider waren abgetragen, zerschlissen und billig.

Hier hatte eine junge Frau gewohnt, die, wie die meisten mammole in Venedig, mit ihren Einkünften gerade mal über die Runde kam. Kein Wunder, dass sie die Gelegenheit genutzt hatte, um aus dieser wenig einträglichen Tätigkeit — wie hatte Signorina Querini es genannt? — auszusteigen.