Ignaz Zuckerkandl, Fabrikant chirurgischer Messer und nicht mehr ganz nüchtern, lehnte sich an den Marmortresen des Mulino Rosso und warf einen lässigen Blick in den riesigen Spiegel hinter dem Tresen. Im Saal drehte sich zu den Klängen eines Walzers die übliche Mischung aus Offizieren, Fremden, Einheimischen und grell geschminkten Kokotten. Zuckerkandl, ein Musikkenner, in dessen Wiener Wohnung auch ein Klavier stand, war sich sicher, dass die Musiker des Salonorchesters gleichzeitig in verschiedenen Tonarten spielten, aber er vermutete, dass es hier niemandem auffiel.
Er trank einen Schluck Champagner, zündete sich eine Zigarette an und fuhr fort, die tanzende Menge im Spiegel zu beobachten. Seine spöttisch herabgezogenen Mundwinkel signalisierten aller Welt, was er von der Veranstaltung hielt: ganz nett, aber nichts, was einen Mann wie ihn vom Hocker hauen konnte. Um festzustellen, dass er ein Mann von Welt war, reichte schon ein Blick auf seine Kleidung. Sein nach der neuesten Mode geschnittener Frack hatte farblich abgesetzte Galons an den Hosenbeinen, der weiße Seidenschal ließ ihn wie den Habitué eines Pariser Cafés wirken. Er bot das Bild eines Mannes, der alles gesehen hat und den nichts mehr erschüttern kann.
Auf dem Kopf trug er einen Dreispitz aus schwarzer Pappe, vor dem Gesicht eine samtbezogene schwarze Halbmaske. Beides hatte er an der Rezeption seines Hotels erstanden, wo ihm ein hilfreicher Portier auch die Adresse des Mulino Rosso genannt hatte. Natürlich hätte er den Portier bitten können, ihm bei seinem Problem behilflich zu sein, aber er zog es vor, es allein zu lösen.
Als zwei Leutnants der kroatischen Jäger und ein Oberleutnant der Innsbrucker Kaiserjäger sich dem Tresen näherten, trat er höflich zur Seite und registrierte befriedigt den anerkennenden Blick, mit dem der Kaiserjäger die Galons an seinen Hosen streifte. Er wusste, was der Oberleutnant dachte: Hier war jemand, der sich nach dem Besuch eines mondänen Balls unter das Volk mischte — ein kraftstrotzender Salonlöwe auf der Suche nach einer leckeren Gazelle.
In Wahrheit hatte er die letzten drei Stunden in seinem Hotelzimmer verbracht, die Füße in einer Wanne mit heißem Wasser, in dem eine Handvoll Epson-Salz aufgelöst war. Nachdem er zwei Tage lang intensiv die Stadt und ihre speziellen Möglichkeiten erkundet hatte — er war immer im letzten Moment zurückgeschreckt —, hatte sich auf seinem rechten Fußrücken ein rötlicher Höcker gebildet, der bei jedem Schritt schmerzhaft gegen die Innenseite seines Stiefels drückte. Seine Versuche, den Höcker mit kalten Umschlägen zu behandeln, hatten nicht gefruchtet, und so hatte der Hotelarzt ihm ein heißes Fußbad mit Epson-Salz verschrieben. Und tatsächlich, nach zwei Stunden war die Schwellung abgeklungen. Allerdings nässte sie jetzt. Es wäre besser, die Socken anzubehalten, wenn es zur Sache kam.
Mein Gott, die Sache. Die Sache war die, dass er es noch nie getan hatte. Dass er es vor seiner Hochzeit endlich tun musste und alles dagegen sprach, die Sache in Wien zu proben. Er hatte Rebecca im letzten Herbst auf einem Tanzvergnügen der mosaischen Gemeinde in Grinzing kennengelernt. Drei Monate später waren sie verlobt, im Mai dieses Jahres würden sie heiraten. Rebecca war eine gute Partie und seine Firma praktisch pleite. Dass er in diesem Februar des Jahres 1864 nach Venedig reisen musste (er hatte heute Vormittag mit einem Dr. Lionardo vom Ognissanti verhandelt), war ein glücklicher Umstand. Hier bot sich die letzte Gelegenheit, die entsprechenden Kenntnisse zu erwerben, bevor in der Hochzeitsnacht die Sache auf dem Programm stand.
Natürlich war er diese Verbindung aus finanziellen Gründen eingegangen, aber es war nicht so, dass er seine Verlobte verabscheute. Mit ihrer rundlichen Figur, den haselnussbraunen Augen und ihrem herzförmigen Mund war sie eine reizvolle junge Frau. Allerdings hatte er festgestellt, dass sich sein Verlangen, Zärtlichkeiten mit ihr auszutauschen, in Grenzen hielt. Frauen hatten ihn immer schon irritiert, aber er hatte gelernt, seine Unsicherheit hinter der Maske eines Salonlöwen zu verbergen.
Zu den Offizieren hatten sich jetzt drei junge Damen gesellt, zwei Brünette und eine Blondine. Der Kaiserjäger sagte etwas zu der einen Brünetten, und die brach in Gelächter aus. Es war klar, was die Offiziere von den Damen wollten, und er bewunderte die Unbefangenheit, mit der sie die Sache in die Hand nahmen. Manchmal hatte er den Verdacht, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Aber was? Handelte es sich nur um eine gewisse erotische Trägheit? Oder war es möglich — an diesem Punkt pflegten sich seine Überlegungen jedes Mal zu einem gedanklichen Flüstern herabzusenken —, war es möglich, dass sich tief in seinem Inneren das griechische Laster verbarg? Wie war es sonst zu erklären, dass er immer wieder an den rehäugigen Piccolo denken musste, der ihm im Speisesaal des Regina e Gran Canal heute Morgen den Kaffee serviert hatte? Und dass er wie ein Backfisch errötet war, als sich beim Einschenken kurz ihre Hände berührt hatten?
Es war nicht das erste Mal, dass er solche Erlebnisse hatte, aber er hatte es immer vermieden, länger darüber nachzusinnen. Was wäre, wenn er, da er sich nun schon einmal in Venedig aufhielt, seiner Neigung einmal auf den Grund ginge? War dies nicht schon immer die Stadt, in der jedes Tierchen sein Pläsierchen fand? Aber nein — ihm fehlte der Mut. Es brachte nichts, solchen Gedanken nachzuhängen. Vor allen Dingen lenkten sie ihn von der eigentlichen Aufgabe ab, eine geeignete Person ausfindig zu machen, ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen und eine Verabredung zu treffen. Sich pünktlich am Ort der Verabredung — vermutlich ein Stundenhotel — einzufinden, das Zimmer zu betreten, zu bezahlen und dann ...
Er seufzte, schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, wie es nach der Bezahlung weiterging. Zog sie sich zuerst aus? Zogen sie sich gleichzeitig aus? Oder zog er sie aus? Würde er sich durch ein Dickicht von Haken, Knöpfen und Ösen kämpfen müssen? Löschte man das Licht, wenn es zur Sache kam? Redete man dabei? Alles dies waren Fragen, die vor der Hochzeitsnacht beantwortet werden mussten.
Als er die Augen wieder öffnete, sah er, wie sich die kleine Gruppe vor ihm auflöste. Die beiden kroatischen Leutnants verschwanden mit zwei der Kokotten auf der Tanzfläche. Der Kaiserjäger schien einen Bekannten in der Menge entdeckt zu haben und bewegte sich winkend in Richtung des Ausgangs. Zurück blieb die Blondine, die jetzt kaum eine Armeslänge von ihm entfernt am Tresen stand. Da ihr Blick auf das Champagnerglas gerichtet war, das sie vor sich abgestellt hatte, konnte er in aller Ruhe ihr Profil betrachten: eine sanft gewölbte Stirn, gerade Nase, darunter volle Lippen und ein leicht hervorspringendes Kinn. Kaum Schminke, wenig Lippenrot, nur eine Andeutung von Rouge - es fehlten alle weiblichen Attribute, die ihn immer schlagartig einschüchterten. Für eine Frau, deren Geschäftsgrundlage darin bestand, die Aufmerksamkeit von möglichst vielen Männern auf sich zu ziehen, wirkte sie erstaunlich unauffällig.
Er trank noch einen Schluck Champagner und stellte überrascht fest, dass irgendetwas in ihm sich dazu entschlossen hatte, sie anzusprechen. Seine Züge, die alkoholbedingt verrutscht waren, nahmen wieder den Ausdruck eines Salonlöwen an. Er warf einen prüfenden Blick in den Spiegel und war mit seinem Aussehen zufrieden. Dann holte er tief Atem und richtete das Wort an die Frau.