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Die Macelleria von Signor Grassi war das einzige Geschäft am Campo San Giobbe. Der Laden hatte, ungewöhnlich für Geschäfte in Cannaregio, ein Schaufenster. Neben dem Eingang hingen drei an den Füßen zusammengebundene Fasane, die mit ihren schillernden Federn aussahen wie Blumensträuße. Im Schaufenster lag, auf einer großen Anrichteplatte aus Porzellan und umgeben von allerlei dekorativem Grünzeug, ein rosiges, wie angemalt wirkendes Ferkel. Das Tier hatte weit aufgerissene Augen, und aus seinem halbgeöffneten Maul ragte eine Tomate. Ein riesiges Messer und eine riesige Gabel steckten in seinem Rücken, so als wäre ein Oger gerade dabei, das Tier zu verspeisen. Als Tron näher trat und sich fasziniert herabbeugte, stellte er fest, dass das Ferkel aus Wachs war und die Augen aus Glas. 

Grassi stand hinter dem Tresen und war gerade damit beschäftigt, einer Kundin ein Stück Schinken abzuschneiden, als Tron und Bossi sein Geschäft betraten. Er trug eine weiße Schürze und hatte eine weiße Mütze auf dem Kopf.

Nachdem er den Schinken eingewickelt und kassiert hatte, trat er zur Eingangstür und schloss sie ab. Dann begab er sich wieder hinter den Tresen und sagte, indem er Tron und Bossi flüchtig musterte: «Was kann ich für Sie tun?»

Grassis Gesicht war bleich, ausdruckslos und starr wie eine Maske. Er bewegte sich im Schneckentempo, und sein Gang war steif und ungelenk wie bei einer Marionette.

«Uns ein paar Fragen beantworten, Signore», sagte Tron.

Grassi lächelte müde. «Geht es um die Trikolore, die ich auf der Piazza getragen habe?»

In der Questura hatte Tron nicht darauf geachtet, aber jetzt fiel ihm auf, dass Grassis Italienisch einen Akzent hatte, den er nicht einordnen konnte. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Bossi die Stirn runzelte.

«Es geht um etwas ganz anderes, Signor Grassi», sagte Tron. «Darf ich fragen, wo Sie herstammen?»

«Aus Triest. Meine Mutter kam aus dem Friaul, mein Vater aus Mailand.»

Na, bitte. Kein Wunder, dass es schwierig war, Grassis Akzent einzuordnen. Dass der Gondoliere jemanden, der so sprach, für einen Ausländer hielt, war gut vorstellbar.

«Wir sind hier, weil wir ein längeres Gespräch mit Oberst von Bordwehr geführt haben», sagte Tron.

Tron hatte, als er den Österreicher erwähnte, eine Reaktion erwartet, aber Grassis Miene zeigte keine Regung. «Und wie kann ich Ihnen behilflich sein?»

«Kannten Sie eine Signorina Calatafimi?»

Grassi schwieg einen Moment. Dann sagte er zögernd: «Ja, ich kannte sie.»

«Sie wissen, dass sie tot ist?»

«Ja, das weiß ich.»

«Würden Sie uns verraten, in welcher Beziehung Sie zu Signorina Calatafimi gestanden haben?»

Grassi hatte nun eines der Messer ergriffen, die auf dem Tresen lagen, und fing an, die Klinge mit routinierten Be-wegungen abzuziehen. «Ich habe sie relativ häufig getroffen», sagte er schließlich.

«Wie häufig?», erkundigte sich Bossi.

Grassi legte das Messer zurück auf den Tresen und dachte kurz nach. «Vielleicht dreimal in der Woche.»

«Und wo?»

«In einem kleinen Hotel in der Nähe der Locanda.»

«Hatten Sie eine spezielle Beziehung zu der Signorina?»

«Die Signorina wollte sich beruflich verändern», sagte Grassi. «Ich hatte ihr meine Unterstützung angeboten. Sie hätte mir im Geschäft behilflich sein können.»

Tron gefiel die Wendung beruflich verändern. «Wollte Signorina Calatafimi Ihr Angebot annehmen?»

«Sie hatte Schwierigkeiten, sich zu entscheiden.»

«Oberst Stumm hat behauptet», sagte Tron, «Sie hätten gedroht, die Signorina zu töten, wenn sie weiterhin ihrer Tätigkeit nachgeht.»

Grassis Blick klebte an einem Blutfleck, den er auf dem Tresen entdeckt hatte. «Wir hatten hin und wieder Streit», sagte er. «Vielleicht hat mich Signorina Calatafimi missverstanden.» Dann hob er den Kopf und sah Tron wütend an. «Ich frage mich, warum der Oberst eine solche Behauptung aufstellt.»

«Und was wäre Ihre Antwort?»

«Vielleicht wollte er von sich selbst ablenken. Die Vorstellung, wie Gina ihr Geld verdient, hat ihn ebenso irritiert wie mich.»

«Sie meinen, ein kaiserlicher Oberst interessiert sich ernsthaft für eine ...» Tron brach den Satz ab, weil ihm plötzlich bewusst wurde, wie kränkend und herzlos seine Worte sich für Grassi anhören mussten.

Als Grassi antwortete, sah Tron keine Wut in seinen Augen, sondern nur Traurigkeit. «Sprechen Sie es ruhig aus, Commissario», sagte Grassi. «Gina war eine mammola.» Er hatte plötzlich einen nassen Lappen in der Hand und fing an, die Marmorplatte auf dem Tresen abzuwischen. «Vielleicht hat er Ihnen nur deshalb erzählt, ich hätte Signorina Calatafimi bedroht, weil er sie selber bedroht hat», sagte er.

«Und auch getötet?»

Grassi zuckte mit den Achseln. «Das herauszufinden ist Ihre Aufgabe, Commissario.»

«Aber wenn er es tatsächlich getan hat — warum hat er uns dann in der Questura aufgesucht? Warum hat er sich dann freiwillig in die Höhle des Löwen begeben?»

Grassi sah Tron verständnislos an. «Weil Sie früher oder später auf ihn gestoßen wären», sagte Grassi.

Er bückte sich, bis seine Augen auf gleicher Höhe mit der Marmorplatte waren, und wischte mehrmals über den Blutfleck, bis er verschwunden war. «Sie hätten», fuhr Grassi fort, «die Kundschaft von Signorina Calatafimi unter die Lupe genommen und wären irgendwann auf mich und den Oberst gestoßen.»

«Und warum haben Sie uns dann nicht aufgesucht?»

«Weil mehr gegen mich spricht als gegen den Oberst», sagte Grassi. «Einem kaiserlichen Offizier glaubt man eher als einem Schlachter aus Cannaregio. Auch wenn der Oberst seine Gewalttätigkeit bewiesen hat.» Grassi warf den Lappen auf den Tresen und sah Tron eindringlich an. «Haben Sie festgestellt, wo sich der Oberst am Dienstagabend aufgehalten hat?»

Tron ließ die Frage unbeantwortet. Stattdessen sagte er: «Vielleicht können Sie uns erzählen, wo Sie Dienstagabend gewesen sind.»

«Ich habe meinen Laden um sieben Uhr geschlossen», sagte Grassi. «Dann habe ich sauber gemacht und bin nach oben in meine Wohnung gegangen.» «Sie waren die ganze Nacht in Ihrer Wohnung?»

Signor Grassi nickte.

«Hatten Sie Besuch?»

Grassi senkte den Kopf. «Nein.»

«Es gibt also keine Zeugen dafür, dass Sie das Haus nicht noch einmal verlassen haben?»

Grassi senkte den Kopf noch ein wenig tiefer. «Leider nicht.»

Tron sah, wie Grassi nach dem Messer griff, das immer noch auf dem Tresen lag, und die Schärfe der Klinge mit dem Daumen prüfte. Grassi hatte die Lippen geschürzt und schien über etwas nachzudenken. Aus den Augenwinkeln sah Tron, wie Bossis Hand nach dem Lederholster mit der Dienstwaffe tastete.

«Ich fürchte», sagte Tron, indem er vorsichtshalber einen Schritt zurücktrat, «wir müssen Sie bitten, mit auf die Questura zu kommen, Signor Grassi.»

Grassis Gesicht war auf einmal totenblass. «Bin ich verhaftet?»

«Es geht lediglich darum, ein Protokoll aufzunehmen.»

Grassi legte das Messer auf den Tisch zurück. Wieder schien er über etwas nachzudenken. Dann lächelte er friedlich. «Darf ich kurz nach hinten gehen und mir etwas überziehen, Commissario?»

«Selbstverständlich», sagte Tron. Bevor sie das Geschäft betraten, hatten sie sich davon überzeugt, dass es keinen Hinterausgang gab.

Grassi verschwand durch eine halb angelehnte Tür, die hinter dem Tresen zu sehen war. Die Tür fiel ins Schloss, und man hörte, wie der Schlüssel gedreht wurde.

Tron und Bossi sahen einander an.

«Er hat abgeschlossen», sagte Bossi überflüssigerweise. Er lief auf die andere Seite des Tresens und rüttelte an der Tür, die sich nicht öffnen ließ. «Was hat er vor?», sagte er zu Tron. «Verschwinden kann er nicht. Die Fenster zum Hof sind vergittert.»     

«Vielleicht», entgegnete Tron, «fordern Sie ihn auf, die Tür zu öffnen.» Das war kein sonderlich geistreicher Vorschlag, aber mehr fiel Tron im Moment nicht ein.

Bossi schlug mit der Faust gegen die Tür. «Machen Sie auf, Signor Grassi.»

Was Grassi nicht tat, denn sonst hätte er die Tür nicht abgeschlossen. Stattdessen hörte man hektische Schritte und rumpelnde Geräusche, so als würde Grassi nach etwas suchen. Dann war es plötzlich still.

Bossi machte einen tiefen Atemzug. Dann hob er das rechte Bein und stieß seinen Stiefel mit aller Kraft gegen das Schloss. Der Schuss fiel in dem Moment, als der Türflügel krachend aufsprang und die Klinke auf der anderen Seite gegen die Wand knallte.

*

Der Raum, den sie vorsichtig betraten, war eine Mischung aus Werkstatt, Kontor und Rumpelkammer. Hölzerne Bottiche, aus denen Fleischabfälle quollen, waren auf einer Bank vor dem Fenster zu erkennen. An der linken Wand waren zwei große, offenbar aus Frankreich stammende Tafeln befestigt, die Seitenansichten von Rind und Schwein präsentierten und den Betrachter über die Lage von filet, entrecote, queue und lende de tranche aufklärten. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch, auf dem zwei Fasane, ein Hase, Knochen und diverse Messer lagen. An der Decke hing eine Petroleumlampe, die Grassis Sturz und die Detonation des Revolvers offenbar in eine schwankende Bewegung versetzt hatten, sodass flackernde Lichtstreifen über den Tisch huschten. Ein scharfer Korditgeruch hing im Raum und vermischte sich mit dem Gestank verbrannter Haare.

Grassi lag neben dem Tisch. Er war auf die Seite gestürzt, und das Einschussloch an seiner rechten Schläfe, umgeben von einem Kranz schwärzlich verbrannter Haare, war nicht zu übersehen. Er hielt den Revolver noch in der Hand, und seine geöffneten Augen starrten auf das Bild des französischen Schweins an der Wand. Grassis Mund hatte sich zu einem tölpelhaften Grinsen verzogen, so als bereite ihm der Anblick des Schweins ein bizarres Vergnügen.   

Tron, der zusammen mit Bossi neben Grassis Leiche niedergekniet war, erhob sich nun schweigend. Und dann sah er etwas, das seiner Aufmerksamkeit entgangen war — etwas, das man eher im Behandlungszimmer eines Arztes erwartet hätte als in einer Macceleria.

Unter den Tafeln von Schwein und Rind hingen zwei Bogen aus einem großen Anatomieatlas, handkolorierte Drucke im Folioformat. Sie waren sorgfältig aus dem Atlas herausgetrennt, in der Mitte geglättet und mit kleinen Nägeln auf dem Putz befestigt worden. Der eine Bogen zeigte die Organe, die sich im unteren Teil des menschlichen Körpers befanden, der andere die Organe des oberen Teils.

Bossi hatte sich ebenfalls erhoben. Auch er schien die anatomischen Bogen jetzt entdeckt zu haben. Tron sah, wie der Ispettore stutzte, einen Schritt auf die Wand zuging und sich herabbeugte. Schließlich drehte Bossi sich um. Seine Augenbrauen waren fragend emporgezogen.

«Der Fall», sagte Tron, «könnte gelöst sein.»