Epilog

Gideon Crew betrat hinter Garza die Räume des EES-Gebäudes an der Little West 12th Street. Garza hatte nichts gesagt, aber Gideon spürte, dass der Mann Zorn ausstrahlte wie eine Heizsonne.

Die Räumlichkeiten sahen unverändert aus. Dieselben Reihen von Tischen mit exotischen Modellen und wissenschaftlichen Gerätschaften; dieselben Techniker und Laboranten gingen geschäftig von hier nach dort. Abermals fragte sich Gideon, für wen er wirklich arbeitete. Sein Telefonat mit dem Heimatschutzministerium hatte jenseits allen Zweifels bestätigt, dass in Glinns Firma alles mit rechten Dingen zuging. Aber sie kam ihm dennoch ungeheuer merkwürdig vor.

Sie betraten das spartanisch eingerichtete Konferenzzimmer im vierten Stock. Wieder saß Glinn am Kopfende des Tisches, das eine gesunde Auge so grau wie der Himmel über London.

Keiner sagte etwas. Gideon nahm unaufgefordert Platz, Garza desgleichen.

»Nun«, sagte Glinn und zwinkerte kurz mit dem einen Auge, wodurch er Garza offenbar die Erlaubnis erteilte, das Wort zu ergreifen.

»Eli«, sagte Garza mit ruhiger, wenngleich angespannter Stimme, »bevor wir anfangen, möchte ich aufs schärfste gegen die Art und Weise protestieren, wie Crew hier sich bei diesem Auftrag aufgeführt hat. Fast von Anfang an hat er unsere Anweisungen missachtet. Bei jedem Treffen hat er mich mehrfach angelogen, und zum Schluss hat er vollkommen auf eigene Faust gehandelt. Er hat gelogen, was den Ort der Konfrontation betraf, ist ein enormes Risiko eingegangen und hat auf Hart Island ein riesiges potenzielles Problem für uns geschaffen.«

Noch ein kurzes Blinzeln. »Erzählen Sie mir vom Hart-Island-Problem.«

»Zum Glück«, sagte Garza, »konnten wir es abwenden.« Und damit knallte er die Morgenausgabe der Post auf den Tisch. Die Riesenschlagzeile lautete: VANDALEN VERWÜSTEN STÄDTISCHEN FRIEDHOF: ZWEI TOTE.

»Geben Sie mir eine Zusammenfassung.«

»In dem Artikel heißt es, dass Hart Island letzte Nacht von mehreren Vandalen überfallen wurde. Sie stahlen auf City Island ein Boot, rissen einen Haufen Gräber auf, entweihten menschliche sterbliche Überreste und verwüsteten einige Gerätschaften. Und dann setzte es sich einer der Vandalen in den Kopf, den Schornstein hinaufzuklettern, der im Sturm umstürzte, wodurch er umkam. Der Mann ist bislang noch nicht identifiziert worden. Ein Zweiter, eine Frau, wurde von Unbekannten erschossen. Die anderen sind entkommen und werden polizeilich gesucht.«

»Ausgezeichnet«, sagte Glinn. »Mr. Garza, wieder einmal haben Sie Ihre Nützlichkeit für unser Unternehmen unter Beweis gestellt.«

»Was Crew da drüben fast verhindert hätte. Es ist ein verdammtes Wunder, dass er die Sache hinbekommen hat.«

»Ein Wunder, Mr. Garza?«

»Wie würden Sie es denn nennen? Aus meiner Sicht war es ein beschissenes Kuddelmuddel von Anfang bis Ende.«

Gideon sah, dass Glinns farblose Lippen kurz ein Lächeln umspielte. »Ich bin da etwas anderer Meinung.«

»Ach ja?«

»Wie Sie wissen, haben wir hier bei EES zahlreiche Software-Algorithmen entwickelt, die menschliche Verhaltensweisen quantifizieren und hochkomplexe Spieltheorie-Simulationen analysieren.«

»Das müssen Sie mir nicht sagen.«

»Offenbar doch. Haben Sie sich nicht selbst gefragt, warum wir kein Mordkommando auf Wu angesetzt haben? Warum wir keine offiziellen Rund-um-die-Uhr-Beobachtungsteams zusammengestellt haben, um Dr. Crew hier zu überwachen? Warum wir ihn nicht mit zusätzlichen Informationen oder Waffen versorgt haben? Warum wir keine Unterstützung durch die Polizei für ihn angefordert haben? Wir haben reichlich Ressourcen, um so etwas hinzubekommen – und mehr.« Er beugte sich langsam vor. »Und haben Sie sich schon einmal gefragt, warum wir nicht selbst versucht haben, Nodding Crane zu töten?«

Garza schwieg.

»Mr. Garza, Sie kennen die Computer-Power, die wir hier haben. Ich habe alle diese Szenarien durchgespielt – und viele weitere mehr. Der Grund, weshalb wir diese Wege nicht beschritten haben, besteht darin, dass sie alle mit einem Fehlschlag endeten. Wenn Nodding Crane getötet worden wäre, hätten die Chinesen reagiert – in einem kolossalen Maße. Diese Reaktion war das Ereignis, das wir vermeiden mussten. Der Handlungsbogen des einsamen Agenten bot die größte Aussicht auf Erfolg. Der Handlungsbogen, in dem Dr. Crew auf sich allein gestellt operierte, ohne Unterstützung; in dem Nodding Crane bis ganz zum Schluss am Leben blieb und seinen Kontaktleuten positive, beruhigende Nachrichten übermittelte.«

»Sie wissen, dass ich einige Ihrer Programme für nichts als heiße Luft halte«, sagte Garza.

Glinn lächelte. »Ja. Sie sind ein rechtschaffener Ingenieur – der beste, den ich habe. Ich wäre besorgt, wenn Sie meine Psycho-Engineering-Methoden nicht mit Argwohn betrachteten.«

Er wandte sich zu Gideon um. »Dr. Crew hier hat einzigartige Talente. Und er agiert im befreiendsten psychologischen Milieu, in dem ein Mensch leben kann: Er weiß, wann und wie er sterben wird. Die amerikanischen Ureinwohner kannten die Macht dieses Wissens. Die bedeutendste Vision, die ein Krieger empfangen konnte, bestand darin, den eigenen Tod zu sehen.«

Gideon rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. Er fragte sich, ob Glinn wohl auch dann noch so selbstgefällig und selbstzufrieden reden würde, wenn er vom endgültigen Ausgang der Operation erfuhr.

Das graue Auge wandte sich ihm zu und musterte ihn unerschrocken und eindringlich. Eine verkrüppelte Hand erhob sich aus dem Rollstuhl, offen, bereit, etwas zu empfangen. »Der Draht, Dr. Crew?«

Jetzt war es so weit. »Ich habe ihn nicht.«

In dem Zimmer kehrte eine seltsame Stille ein. Alle schwiegen.

»Und warum nicht?«

»Ich habe ihn Falun Gong ausgehändigt. Zusammen mit den Zahlen. Ich habe Wus Mission beendet. Bald wird diese Technologie der ganzen Welt zur Verfügung stehen, und zwar gratis.«

Einen Augenblick fiel die selbstsichere Maske von Eli Glinns Gesicht ab, und irgendetwas Unlesbares – irgendein starkes Gefühl – huschte darüber hinweg. »Ich fürchte, unser Kunde wird höchst unzufrieden sein, wenn er davon erfährt.«

»Ich habe das getan, weil …«

So schnell er entstanden war, verschwand der geheimnisvolle Ausdruck, und das leise Lächeln kehrte zurück. »Sagen Sie bitte nichts mehr. Mir ist durchaus bewusst, warum Sie es getan haben.«

Kurze Stille.

»Die größte Aussicht auf Erfolg?«, rief Garza. »War das auch Teil Ihrer Computersimulation? Ich habe Ihnen gleich am Anfang gesagt, Sie sollen diesem Kerl nicht vertrauen. Und was wollen Sie nun unserem Kunden sagen?«

Glinn blickte von einem zum anderen und schwieg. Es lag eine gewisse Zufriedenheit in seiner Miene.

Das Schweigen dehnte sich, bis sich Gideon schließlich erhob. »Wenn wir hier fertig sind, fliege ich zurück nach New Mexico und schlafe mich eine Woche lang aus. Anschließend gehe ich angeln.«

Glinn verlagerte sein Gewicht im Rollstuhl und seufzte. Wieder tauchte die verkümmerte Hand unter der Decke auf, die seine Knie verhüllte. Sie hielt ein Päckchen aus braunem Packpapier. »Ihre Bezahlung.«

Gideon zögerte. »Ich hätte gedacht, dass Sie mich nicht entlohnen. Nach allem, was ich getan habe.«

»Tatsache ist, dass sich auf Grundlage dessen, was Sie mir gesagt haben, unsere Zahlungsmodalitäten geändert haben.« Glinn öffnete das Päckchen und zählte mehrere mit Banderole versehene Packen Hunderter ab. »Hier ist die Hälfte der hunderttausend.«

Gideon nahm es entgegen. Besser als nichts, dachte er.

Dann überreichte ihm Glinn zu seiner Überraschung die andere Hälfte. »Und das ist der Rest. Allerdings nicht als Honorar für geleistete Dienste. Eher als eine Art – wie soll ich sagen? – Vorschuss.«

Gideon stopfte sich das Geld in die Jackentaschen. »Ich verstehe nicht.«

»Bevor Sie gehen«, sagte Glinn, »so dachte ich mir, könnten Sie vielleicht bei einem Freund von Ihnen vorbeischauen, der in der Stadt ist.«

»Danke, aber ich bin mit einer Cutthroat-Forelle im Chihuahuenos Creek verabredet.«

»Schade, aber ich hatte sehr gehofft, dass Sie Zeit hätten, Ihren Freund zu besuchen.«

»Ich habe keine Freunde«, erwiderte Gideon trocken. »Und wenn ich welche hätte, wäre ich im Moment sicherlich nicht daran interessiert, bei ihnen ›vorbeizuschauen‹. Wie Sie selbst sagten: Meine Uhr läuft ab.«

»Reed Chalker ist sein Name. Ich glaube, Sie haben mit ihm zusammengearbeitet.«

»Wir haben in derselben Technologieabteilung gearbeitet. Das ist nicht dasselbe, wie mit jemanden zusammenzuarbeiten. Ich habe den Typen seit Monaten nicht mehr in Los Alamos gesehen.«

»Nun, Sie stehen kurz davor, ihn zu sehen. Die Behörden hoffen, Sie könnten sich ein wenig mit ihm unterhalten.«

»Die Behörden? Unterhalten? Worum zum Teufel geht’s hier?«

»In diesem Moment hat Chalker eine Geisel genommen. Vier Geiseln, um genau zu sein. Eine Familie in Queens. Er hat sie in seiner Gewalt.«

Langsam begriff Gideon. »O Gott. Sind Sie sicher, dass es sich um Chalker handelt? Der Typ, den ich kannte, war ein typischer Los-Alamos-Freak, korrekt bis in die Haarspitzen. Er würde keiner Fliege etwas zuleide tun.«

»Er ist durchgedreht. Paranoid. Völlig von Sinnen. Sie sind die einzige Person in der Nähe, die mit ihm bekannt ist. Die Polizei hofft, dass Sie ihn beruhigen, ihn dazu bringen können, dass er seine Geiseln freilässt.«

Gideon gab keine Antwort.

»Sosehr ich zwar bedauere, es Ihnen sagen zu müssen, Dr. Crew, aber diese Cutthroat-Forelle wird ihr Leben noch ein klein wenig länger genießen. Und nun müssen wir wirklich anfangen. Die Familie kann nicht warten.«