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Im Coffeeshop herrschte eine heitere Atmosphäre, eine feste Burg gegen den Schmutz und die Hoffnungslosigkeit draußen. Eine stämmige Kellnerin kam herbeigeeilt, mindestens sechzig, aber agil wie ein Teenager, mit wippender Frisur und zentimeterdickem Make-up.

»Was kann ich Ihnen bringen, junger Mann?«

Sie war spitze. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte Gideon ein Gefühl, das nicht düster war. Er rang sich ein Lächeln ab. »Kaffee, gewendete Spiegeleier, Schinken, weißen Toast.«

»Kommt sofort.«

Sie ging los, und er klappte das Notizbuch auf und überlegte. Zwei Dinge liebte er in dieser Welt: die Fischerhütte in den Jemez-Bergen und seine Winslow-Homer-Zeichnung. Die Zeichnung müsste zurück ins Merton Art Museum in Kittery, Maine, wo er sie sich vor Jahren angeeignet hatte. Aber die Hütte … Er wollte sichergehen, dass jemand sie erbte, der sie ebenso liebte wie er, der sie nicht verfallen lassen würde. Oder an einen Immobilienmakler verkaufte. Selbst wenn er Nodding Crane besiegte – und das war ein großes Wenn –, wusste er, dass er dem Tod schon ins Gesicht blickte.

Die Kellnerin stellte das Frühstück vor ihm ab. »Na, schreiben Sie den Großen Amerikanischen Roman?«

Er schenkte ihr sein schönstes Lächeln. Erfreut ging sie davon. Und während Gideon über seine Sterblichkeit nachsann, wurde ihm klar, dass er niemanden hatte. Er hatte den Großteil seines Erwachsenenlebens andere von sich weggestoßen. Er hatte keine Familie, keine echten Freunde und keine Kollegen, mit denen er freundschaftlichen Umgang pflegte. Tom O’Brien war ein Kumpel, aber ihre Beziehung war immer funktional gewesen, außerdem mangelte es dem Typen an Integrität. Sein einziger echter Freund war eine Prostituierte gewesen – und er trug die Verantwortung, dass sie umgebracht worden war.

»Soll ich Ihnen nachschenken?«, fragte die Kellnerin.

»Danke.«

Und da fiel ihm ein Name ein. Jemand, dem er vertrauen konnte. Charlie Dajkovic. Er hatte sich seit dem Tod von General Tucker nicht mehr bei dem Mann gemeldet. Dajkovic hatte einige Zeit im Krankenhaus verbracht, aber als Gideon das letzte Mal von ihm gehört hatte, befand er sich auf dem Weg der Besserung. Sie waren keine Freunde, nicht im eigentlichen Sinn. Aber Dajkovic war eine ehrliche Haut, ein guter Mensch.

Gideon fing an zu schreiben und versuchte dabei, das leichte Zittern in seiner Hand zu beherrschen. Es fiel ihm nicht leicht. Dajkovic würde die Hütte bekommen und alles, was sich darin befand, mit Ausnahme der Zeichnung. Er ernannte Dajkovic zu seinem Nachlassverwalter und beauftragte ihn, die Zeichnung anonym ans Merton Art Museum zurückzugeben. Im Leben war er allen Verdächtigungen entkommen; nach seinem Tod sollte ihn erst recht niemand behelligen.

Es dauerte nicht lange, das Dokument zu Ende zu schreiben. Als er es durchlas, gingen seine Gedanken zurück zur geheimen Angelstelle im Chihuahuenos Creek. Es hatte Jahre gedauert, in denen er die Angel über das Wasser des Gebirgsbachs auswarf, der die nördlichen Jemez Mountains entwässerte, um diesen Ort zu finden – der schönste auf Erden. Nachdem er einen Augenblick lang überlegt hatte, drehte er den Brief um und zeichnete für Dajkovic eine Landkarte, die ihm zeigte, wie er dorthin gelangte, dazu Vorschläge, welche Fliegen er zu welchen Jahreszeiten verwenden sollte. Das wäre seine größte Hinterlassenschaft.

Er hoffte nur, dass Dajkovic gern angelte.

Als er fertig war, rief er die Kellnerin zu sich.

»Möchten Sie noch etwas mehr Kaffee?«

»Nein, einen Gefallen.«

Sofort hellten sich ihre Züge auf.

»Dieser Brief«, sagte Gideon, »ist mein Testament. Ich brauche zwei Zeugen.«

»Ach, junger Mann, Sie sind doch kaum über dreißig, wieso denken Sie denn schon jetzt an so was?« Die Kellnerin schenkte ihm trotzdem den Becher voll. »Ich bin dreißig Jahre älter und denke noch immer nicht daran.«

»Ich leide an einer tödlichen Krankheit.« Kaum hatte er das gesagt, fragte er sich, warum um alles in der Welt er sich dieser Fremden anvertraute.

Die Kellnerin legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. »Das tut mir leid. Nichts ist in Stein gemeißelt. Beten Sie zum lieben Gott, er wird Ihnen ein Wunder schicken.« Sie wandte sich ab. »Gloria? Komm mal her, der Herr hier benötigt unsere Hilfe.«

Die andere Kellnerin des Coffeeshops kam herüber, ein pummeliges junges Ding von vielleicht zwanzig Jahren, die übers ganze Gesicht strahlte, weil sie helfen konnte. Gideon war gerührt von diesen zwei Zufallsbekanntschaften mit großem Herzen.

»Ich unterschreibe jetzt das Testament«, sagte Gideon, »und dann möchte ich, dass Sie beide es beglaubigen und hier mit Ihrem Namen unterzeichnen.«

Er unterschrieb, sie unterschrieben, und dann, als Gideon sich erhob, nahm ihn die alte Kellnerin spontan in den Arm. »Beten Sie zu Gott«, sagte sie. »Es gibt nichts, was Er nicht vermag.«

»Ich danke Ihnen ganz herzlich. Sie beide waren wirklich sehr freundlich.«

Sie gingen davon. Gideon verfasste ein Anschreiben an Eli Glinn, in dem er ihn darum bat, dafür Sorge zu tragen, dass Dajkovic den Brief erhielt. Dann klebte er das Kuvert zu und adressierte es an Glinn, Effective Engineering Solutions in der Little West 12th Street. Er zog den Packen Geldscheine hervor, den er dem Drogendealer abgenommen hatte, schob ihn unter seinen umgedrehten Teller und verließ rasch den Coffeeshop.

Auf dem Weg zur U-Bahn warf er den Brief in einen Briefkasten und verspürte dabei eine Riesenwelle des Selbstmitleids wegen seines einsamen, verkorksten Lebens, das bald auf die eine oder andere Weise enden würde. Vielleicht hatte die Kellnerin ja recht: Er sollte es mal mit Beten versuchen. Nichts anderes hatte in seinem jämmerlichen Leben funktioniert.