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Während das Boot in den breiten Sund einlief, empfing der Sturm sie mit einem scharfen Windstoß, der tückische, kabbelige Wellen hervorrief, die gegen den Rumpf donnerten und ins Boot schwappten. Die Gewitterfront kam immer näher, das Donnergrollen in der Ferne wälzte sich über das Wasser wie Artilleriefeuer.

Gideon steuerte das Boot in den Wind. »Fang an zu lenzen.«

Weiterhin tief geduckt, holte Mindy eine alte Chlorox-Flasche, die als Schöpfbüchse diente, aus dem Stauraum im Bug, schöpfte Wasser und schüttete es über Bord. Währenddessen schlug eine große Welle gegen das Dollbord und drückte das Boot so weit auf die Seite, dass sie klitschnass wurden.

»Mein Gott«, sagte Mindy, während sie schöpfte. »Das Boot ist ja die reinste Badewanne.«

Am Horizont blinkten die Lichter von City Island, aber direkt vor ihnen war es stockfinster. Gideon zog einen Kompass aus der Tasche, nahm eine Peilung vor, korrigierte den Kurs. Die Wellen waren schon übel, aber die Dünung war noch übler und überraschend stark für ein geschütztes Gewässer. Der Motor stotterte und setzte kurz aus; wenn er ganz ausginge, wären sie erledigt.

Aber er ging nicht aus, und so tuckerte das Boot weiter durch den Sturm, während Mindy fast ununterbrochen schöpfte. Es war keine lange Überfahrt – knapp 800 Meter –, doch das Boot steuerte in den Wind und kam nur im Schneckentempo voran. Gleichzeitig trieb es wegen der starken Strömung nach Norden ab, an der Insel vorbei und in Richtung offenes Meer.

Wenn sie die Insel verfehlten, wären die Execution Rocks ihr nächster Halt.

Gideon nahm wieder eine Peilung vor und glich den Abtrieb dadurch aus, dass er weiter nach Süden steuerte. Noch eine Welle knallte an die Bordwand, warf sie beide zur Seite und hätte das kleine Boot fast zum Kentern gebracht. Der leistungsschwache Motor setzte kurz aus, und Gideon hatte Mühe, das Boot wieder zurück in den Wind zu drehen.

»Wir werden ertrinken, ehe wir dort überhaupt ankommen«, sagte Mindy.

Aber noch während sie das sagte, begann sich in der Dunkelheit ein undeutlicher Umriss der Insel abzuzeichnen, gesäumt von einer nebelhaften Brandungslinie. Gideon nahm Kurs auf das Südende. Sie befanden sich auf der Leeseite der Insel, und je weiter sie sich ihr näherten, desto mehr ließ die gefährliche Dünung nach.

»Mach dich sprungbereit«, sagte er leise, zog ein Nachtsichtgerät aus seinem Rucksack und reichte es ihr. »Setz das hier auf. Kein Licht. Befolge den Zeitplan, den ich skizziert habe. Sei zur verabredeten Zeit in Position. Und um Himmels willen, warte auf deine Gelegenheit.«

»Ich mache solche Sachen schon länger als du«, sagte sie, während sie sich das Nachtsichtgerät am Kopf befestigte.

Die Brandung kam aus der Dunkelheit, die Wellen rollten auf einen breiten Strand mit großen Kieseln.

»Jetzt«, sagte er leise.

Mindy sprang in die Brandungswellen, und Gideon rammte den Rückwärtsgang ein, wobei die Propellerwelle wegen der Kraftumkehrung fast ganz aus dem Wasser kam. Kurz darauf war Mindy in der Dunkelheit verschwunden. Gideon drehte das Boot in den Sturm und steuerte in weitem Bogen vom Ufer fort, damit er von der Insel aus weder gehört noch gesehen werden konnte. Es bereitete ihm Mühe, zu schöpfen und gleichzeitig zu steuern. Es goss in Strömen, die Wellen schwappten klatschend ins Boot.

Nachdem er seine Position geschätzt hatte, drehte er nach Norden ab, fuhr einen parallelen Kurs zum Oststrand und hielt darauf zu, als er das Gefühl hatte, das er sich dem mittleren Punkt der Insel näherte. Während er darauf zusteuerte, war vor dem düsteren Himmel so gerade eben der Umriss des riesigen Schornsteins zu erkennen. Das war seine Landmarke. Er entschied sich für seine vorherige Anlegestelle, die kleine Salzmarsch, und steuerte das Boot unter Vollgas auf den Strand. Er sprang heraus und zog es in das dichte Ried.

Geduckt in der Deckung sitzend, bereitete er sich auf den langen Marsch inselaufwärts vor. Er setzte das Nachtsichtgerät auf, prüfte seine Waffen und warf einen letzten Blick auf seine Karte. Damit er nicht so gut zu berechnen war, hatte er eine ungewöhnliche Route gewählt, eine Art Umweg, der durch die gefährlichsten und am stärksten einsturzgefährdeten Ruinen führte.

Nodding Crane war sicherlich früh eingetroffen, hatte recherchiert und Stellung bezogen – die Spinne, die auf die Fliege lauerte. Und Gideon glaubte, auch wenn er das Mindy gegenüber nicht erwähnt hatte, die Position genau zu kennen. Es gab einen Ort auf der Insel, den er selbst ausgewählt hätte, einen in jeder Hinsicht exzellenten Beobachtungsposten. Falls er Nodding Cranes Denkweise verstand – was er glaubte –, dann würde der Gegner nicht der Versuchung widerstehen können, die stärkste Offensivstellung zu beziehen.

Es goss inzwischen noch stärker, und die Donnerschläge folgten unmittelbar auf die Blitze. Noch ein zufälliges Element zu seinen Gunsten. Er sah auf die Uhr: halb elf. Ihm blieben noch zwanzig Minuten, dann hätte Mindy Stellung bezogen.

Er schlich durch das feuchte Gras, hinein in irgendwelche dichten Wachsmyrtensträucher. Das Nachtsichtgerät zeigte seine Umgebung in einem grünlichen Licht an, der Regen verwischte und verdunkelte die Umrisse der Bäume und Büsche. Es war, als bewege man sich halb blind durch eine Geisterlandschaft.

Gideon drängte sich durch das dichteste Gebüsch, bis er hinter einem verfallenen Gebäude wieder daraus hervortrat: der Gebäudekomplex des Arbeitshauses für Jungen. Er stieg durch einen zerbrochenen Fensterrahmen in das von Schimmel befallene Innere, während der Regen durch die Löcher in den oberen Stockwerken und im Dach herabströmte. Die Hauptarbeit der Jungen hatte darin bestanden, Schuhe herzustellen, so dass überall alte Paare herumlagen, Tausende davon, eingerollt wie Herbstblätter, verstreut zwischen Glasscherben, Werkzeugen, eisernen Schuhgestellen und vermoderten Holzleisten. Die Waffe schussbereit, schlich er an der Wand entlang und achtete darauf, nicht auf Glas zu treten.

Kurz darauf stand er in dem langen, hallenden Mittelgang des Arbeitshauses. Die gedämpften Geräusche des Gewitters drangen durchs Mauerwerk.

Weiter hinten im Flur gelangte er zur rückwärtigen Tür, die nur noch an einer Angel hing. Von dort spurtete er eine kurze Strecke durch Unkraut in den Schlafsaal des Arbeitshauses. Er kam an Reihen verrosteter Bettgestelle und mit Graffiti vollgekritzelter Wände vorbei und blieb stehen, um eine besonders heftige Breitseite von Blitz und Donner vorbeiziehen zu lassen. Jeder Blitz tauchte den Raum in ein gespenstisches Licht, die verrosteten Bettgestelle warfen flackernde Schatten an die Wände, ein Graffito, in großen Lettern an die Wand gemalt, lautete: ICH WILL STERBEN.

Er eilte weiter. Am anderen Ende des Gebäudes angelangt, kam er an mehreren kleinen Räumen voll kaputter Aktenschränke, geborstener Pappkartons, gebündelter Aktenordner und -mappen vorbei – alles durchnässt und verrottet. Eine große Ratte, die auf einem Stapel Papiere hockte, beobachtete ihn, als er vorbeiging.

Kurz darauf war er wieder draußen im Sturm, der Regen stärker denn je. Er hatte die Ruinen hinter sich gelassen und befand sich jetzt im ältesten Teil des Friedhofs, der mittlerweile wieder zu Wald geworden war. Während er sich den Weg durch die dichteste Baumgruppe bahnte, stieß er auf alte, im Laub und Pflanzenbewuchs versunkene Grabsteine, Reihe um Reihe, die auf uralte Massengräber hindeuteten. Hier und da ragten Knochen aus dem Laub und Gesträuch am Boden.

Weiter im Wald gehend, näherte er sich schließlich der Rückseite des Schuppens, in dem die beiden Bagger standen. Während seines vorhergehenden Streifzugs über die Insel war ihm aufgefallen, dass es sich um fast brandneue Caterpillar-450E-Schaufelbagger handelte. Früher am Tag hatte er sich angelesen, wie man dieses Modell kurzschließen und bedienen konnte, hatte aber gehofft, den Schlüssel in der Zündung vorzufinden.

Er wartete gut versteckt, lauschte und schaute. Bei jedem Blitz erhaschte er einen scharf umrissenen Blick auf seine Umgebung, aber von Nodding Crane war nichts zu sehen. Was aber gar nichts bedeutete. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass der Mann in der Nähe war.

Langsam ging Gideon um den Schuppen herum. Dabei hielt er sich in der umgebenden Deckung versteckt, bewegte sich mit unendlicher Vorsicht und inspizierte das Dach. Es bestand aus Holzgebälk, das von alten Ziegelsteinmauern gestützt wurde, und war mit Wellblechplatten gedeckt, die auf Holzlatten festgeschraubt waren, die wiederum auf Dachsparren lagen. Das Ganze war verrottet, aber noch nicht so sehr, dass es einstürzte.

Das bestätigte eine entscheidende Tatsache: Das Dach würde das Gewicht eines Menschen tragen.

Er näherte sich der hinteren Ecke des Schuppens, dort, wo die Ziegel weggebrochen waren und ein Loch zu sehen war. Ein schneller Spurt, und im Nu hatte er sich durch die Öffnung gezwängt und stand im Schuppen. Betrachtet durch das Nachtsichtgerät, schimmerten die beiden Bagger hellgrün.

Sich eng an die rückwärtige Wand haltend, huschte er zu dem nächstgelegenen Bagger, streckte den Arm aus und öffnete vorsichtig die angelehnte Tür der Fahrerkabine. In einer raschen Bewegung zog er sich hinauf, setzte sich auf den Fahrersitz und schloss leise die Tür.

Der Schlüssel steckte in der Zündung.

Er sah auf die Uhr. Mindy müsste inzwischen seit mindestens zehn Minuten Stellung bezogen haben.

Zeit für Runde eins. Er schaltete die Steuerung ein, legte die Hand auf den Zündschlüssel und drehte ihn.

Mit kehligem Brummen sprang der Motor an. Ausgezeichnet. Der Bagger hatte eine kinderleichte Joystick-Steuerung, so stand es jedenfalls im Handbuch. Rasch senkte er die Stabilisatoren und brachte die Baggerschaufel in eine senkrechte Position oberhalb der Fahrerkabine, zum Schutz gegen das, was in wenigen Augenblicken geschehen würde. Dann aktivierte er das Joystick-Schaltpult des Baggers und holte tief Luft.

Mit einer sanften Fingerbewegung hob er schnell und heftig die mächtige, 250 Kilogramm schwere Ladeschaufel, so wie jemand, der immer wieder die Faust nach oben über den Kopf reckt. Die Ladeschaufel krachte gegen die Dachinnenseite und drückte sie, begleitet vom Ächzen verrotteter Balken und einem Wasserschauer, nach oben. Einen Augenblick lang schien es, als stürze das ganze Dach ein; dann schlug die Ladeschaufel durch die verrotteten Balken und das verrostete Wellblech, und das Dach fiel derart krachend zurück in seine alte Stellung, dass die Trümmerteile nur so auf Gideon herabregneten.

Mit einer weiteren heftigen Bewegung riss Gideon die Ladeschaufel zur Seite, worauf der Teleskoparm ein langes Loch ins Dach riss. Dann zog er ihn zurück, schloss die Ladeschaufel um einen Dachbalken und riss sie heftig nach unten. Alles kam krachend herabgestürzt: verrottete Balken, Bretter und verbogene Wellblechteile, dazu ein Schwall Wasser. Laut prallten zwei Pistolenkugeln von der Baggerschaufel ab – was bewies, dass er genau richtig geraten hatte: Nodding Crane hatte auf dem Dach des Schuppens Stellung bezogen, von wo er nicht nur den Friedhof und die Gräben überblicken, sondern auch auf jeden schießen konnte, der zu den Baggern ging.

Ohne zu zögern, faltete Gideon den Teleskoparm in die Fahrstellung, hob die Stabilisatoren, schob die Schaltung in den Vorwärtsgang und fuhr den Bagger aufs Feld hinaus, wobei er die Baggerschaufel so nach hinten schwenkte, dass sie einen Schutzschirm gegen das Feuer aus der kleinkalibrigen Schusswaffe bildete. Im Nu prallte eine Salve von Schüssen von der Rückseite der Baggerschaufel ab, wodurch sie wie eine Glocke läutete, Gideon in der Fahrerkabine aber schützte.

Der Mistkerl musste die Überraschung seines Lebens erlebt haben, als der Bagger wie eine Faust das Dach durchschlug. Verdammt schade, dass er sich nicht den Hals gebrochen hatte. Was aber nur bewies, dass Nodding Crane nicht der unverwundbare Killer war, für den alle ihn hielten.

Gideon lenkte den Bagger mit Vollgas über das morastige Feld. Die Schüsse, die hinter ihm ertönten, wurden präziser, und die Kugeln durchschlugen das Kabinendach, wodurch er mit kleinen Plastikteilen und Dämmmaterial bespritzt wurde. Er duckte sich und fuhr blindlings, während weitere Kugeln Löcher in die Windschutzscheibe schlugen. Die Ladeschaufel konnte eben keine hundertprozentige Deckung bieten.

Als er kurz aus der Hocke hochkam, um seine Position zu überprüfen, erkannte er, dass er fast am Ziel war. Wieder zischten zwei Kugeln an ihm vorbei, die eine zog ihm praktisch einen Scheitel. Noch ein Moment, und dann brachte Gideon den Bagger zum Stehen, stieß die Tür auf, sprang aus der Kabine und machte vom Rand des Grabens einen großen Satz über die Kante. Er stürzte in den Graben und landete in der Suhle aus Schlamm und Wasser an seinem Boden, dann kraxelte er wieder zum Rand hinauf und suchte das Feld mit seinem Nachtsichtgerät ab. Endlich hatte das Geballer aufgehört.

Er hatte den Graben in Besitz genommen; Mindy hatte sich noch nicht gezeigt; sein Widersacher hatte sich verrechnet und – mit etwas Glück – möglicherweise sogar verletzt.

Ein an Euphorie grenzendes Gefühl erfasste Gideon. Bislang zeigte er Nodding Crane, was eine Harke ist.