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Gegenwart
Gideon Crew trat zwischen den Gelb-Kiefern hervor auf die große Wiese vor der Hütte. In der einen Hand hatte er eine Aluminiumröhre mit seiner Fliegenrute darin; über die Schulter geschlungen trug er einen Beutel aus Segeltuch, in dem zwei Forellen in einem Nest aus feuchtem Gras lagen. Es war ein wunderschöner Tag Anfang Mai, die Sonne schien ihm mild in den Nacken. Mit seinen langen Beinen wischte er durch das Wiesengras, dass die Bienen und Schmetterlinge davonflogen.
Die Hütte stand am anderen Ende: mit der Hand geschlagene Holzstämme und Lehmziegel, ein rostiges Blechdach, zwei Fenster und eine Tür. Auf dem Dach war unauffällig ein Gestell mit Sonnenkollektoren angebracht, daneben eine Breitband-Satellitenschüssel.
Hinter der Hütte fiel der Berghang zum riesigen Piedra-Lumbre-Bassin ab, und die fernen Gipfel des südlichen Colorado säumten den Horizont wie blaue Zähne. Gideon arbeitete auf »dem Hügel« – im Nationalen Laboratorium in Los Alamos – und verbrachte die Abende in der Woche in einem billigen Regierungsapartment in einem Haus an der Ecke Trinity und Oppenheimer. Die Wochenenden – und sein echtes Leben – verbrachte er hingegen in dieser Hütte in den Jemez Mountains.
Er schob die Tür auf und betrat die Kochnische. Er legte den Segeltuchbeutel ab, holte die ausgenommenen Forellen heraus, säuberte sie und tupfte sie trocken. Dann griff er zum iPod, der in der Basisstation steckte, und wählte nach kurzem Überlegen ein Stück von Thelonius Monk aus. Aus den Lautsprechern ertönten die eindringlichen Klänge von Green Chimneys.
Gideon verrührte Zitronensaft und Salz, gab ein wenig Olivenöl und frisch gemahlenen Pfeffer hinzu und legte die Forellen in die Marinade. Dann ging er in Gedanken die übrigen Zutaten von truite à la provençale durch: Zwiebeln, Tomaten, Knoblauch, Wermut, Mehl, Oregano und Thymian. Normalerweise nahm er nur eine Mahlzeit am Tag zu sich – die allerdings von höchster Qualität und von ihm selbst zubereitet war. Essen war für ihn fast eine Zen-ähnliche Übung, sowohl was die Zubereitung als auch den langsamen Verzehr betraf. Waren mehr Nährwerte notwendig, behalf er sich mit Kuchenstücken, Maischips und Coffee to go.
Nachdem er sich die Hände gewaschen hatte, ging er in den Wohnzimmerbereich und stellte die Fliegenrutentasche in einen alten Regenschirmständer in einer Ecke. Anschließend ließ er sich auf das alte Ledersofa sinken und legte die Beine hoch, um sich zu entspannen. In dem großen Natursteinkamin knisterte ein Feuer, das er entfacht hatte, weil es so schön flackerte, und nicht, um den Raum zu heizen. Die Nachmittagssonne tauchte die beiden Elchgeweihe über dem Kamin in gelbliches Licht. Den Fußboden bedeckte ein Bärenfell, an den Wänden hingen alte Backgammon- und Schachbretter. Auf Beistelltischen und auf dem Boden stapelten sich Bücher, eine Wand mit Regalen am anderen Ende des Zimmers war so mit Bänden vollgestopft, dass kein einziger freier Platz mehr übrig war.
Er warf einen Blick auf die zweite Nische, die sich hinter einem improvisierten Vorhang aus einer alten Hudson’s-Bay-Wolldecke befand. Lange Zeit saß Gideon völlig regungslos da. Er hatte seinen Computer seit einer Woche nicht mehr angerührt und verspürte auch jetzt keinerlei Neigung dazu. Er war müde und freute sich aufs Abendessen. Doch weil das regelmäßige Nachschauen so lange schon eine selbstauferlegte Pflicht war, dass sie ihm zur Gewohnheit geworden war, raffte er sich schließlich auf, strich seine langen schwarzen Haare nach hinten und trottete zur Decke hinüber, hinter der ein leises Summen zu hören war.
Ein wenig widerstrebend zog er den Vorhang zur Seite, denn dem schummrigen Raum entströmte ein schwacher Geruch nach Elektronik und warmem Kunststoff. Man sah einen Schreibtisch aus Holz und ein Computer-Regal. Leuchtdioden blinkten im Dunkel. Im Rack standen vier Computer verschiedener Marken und Größen, alle No-name- oder Nachahmer-Geräte, keines jünger als fünf Jahre: ein Apache-Server und drei Linux-Maschinen. Für Gideons Zwecke mussten die Rechner nicht schnell sein, aber stabil und zuverlässig. Das einzige brandneue und vergleichsweise teure Gerät war ein leistungsstarker Breitband-Satellitenrouter.
Über dem Computer-Regal hing eine kleine, erlesene Bleistiftzeichnung von Winslow Homer: Felsen an der Küste von Maine. Es war der einzige Kunstgegenstand, den er aus seinem vorigen Beruf herübergerettet hatte, das einzige Kunstwerk, das zu verkaufen er nicht übers Herz gebracht hatte.
Er zog einen wackligen Bürostuhl auf Rollen zurück und setzte sich an den kleinen Schreibtisch, legte die Füße darauf, plazierte eine Tastatur auf den Oberschenkeln und fing an zu tippen. Ein Fenster erschien, darin eine Zusammenfassung der Suchergebnisse, die ihn darüber informierte, dass er sich seit sechs Tagen nicht mehr eingeloggt hatte.
Er scrollte in dem Fenster mit den Suchergebnissen und erkannte sofort, dass er einen Treffer erzielt hatte.
Er starrte auf den Monitor. Im Laufe der Jahre hatte er seine Suchmaschine verfeinert und verbessert, und die letzte Falschmeldung lag fast ein Jahr zurück.
Als er die Füße vom Tisch nahm, hämmerte ihm mit einem Mal das Herz in der Brust. Über den Schreibtisch gebeugt, tippte er wie verrückt. Der Treffer stammte aus einer vom Nationalen Sicherheitsarchiv an der George Washington University herausgegebenen Inhaltsübersicht. Das eigentliche Archivmaterial unterlag der Geheimhaltung, aber das Inhaltsverzeichnis war frei zugänglich, Teil einer groß angelegten, fortlaufenden Freigabe von Dokumenten aus der Zeit des Kalten Krieges gemäß der Durchführungsverordnung 12 958.
Der Treffer bestand aus dem Namen seines Vaters: L. Melvin Crew. Und der Titel des archivierten, immer noch geheimen Dokuments lautete: Zur Kritik des Diskreten Logarithmus- Verschlüsselungsverfahrens EVP-4 Thresher. Eine Angriffsstrategie auf Grundlage einer theoretischen Backdoor-Kryptoanalyse unter Verwendung einer Gruppe von φ-Torsionspunkten einer elliptischen Kurve in der Charakteristik φ.
»Heilige Mutter Gottes«, sagte Gideon leise und starrte auf den Monitor. Das war nun wirklich keine Falschmeldung.
Seit Jahren versuchte er schon, irgendetwas zu finden. Aber das hier war mehr als »irgendetwas«. Es könnte sich um den Schlüssel zu allem handeln.
Es war unfassbar, unglaublich. Konnte es sich um ebenjenes Gutachten handeln, mit dem sein Vater Thresher kritisiert hatte, jenes Gutachten, das General Tucker angeblich vernichtet hatte?
Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.