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Schlecht gelaunt fuhr Gideon durch den nachmittäglichen Verkehr von Jersey. Er hatte durch den Holland Tunnel die Stadtgrenze von New York City verlassen und war mit dem gemieteten Chevy Richtung Norden durch dieses alte, trostlose urbane Ärgernis gefahren, in dem eine Stadt nahtlos in die andere überging: Kearny, North Arlington, Rutherford, Lodi. Die Straßen sahen alle gleich aus – schmal, voller Menschen, gesäumt von drei- und vierstöckigen Backsteingebäuden, die Schaufensterauslagen schäbig, ein Durcheinander von Telefonmasten, deren Leitungen auf klaustrophobische Art und Weise herabhingen. Hin und wieder konnte er durch den urbanen Wildwuchs einen Blick auf etwas werfen, das einst eine Innenstadt gewesen war: das Schriftdisplay eines Kinos, jetzt leerstehend; die Fensterfront eines ehemaligen Cafés. Vor fünfzig oder sechzig Jahren waren das alles voneinander getrennte kleine Städte gewesen, hell und freundlich, voll junger Mädchen und Typen mit Entenschwanzfrisuren. Jetzt bildeten sie nur noch gespenstisch zersiedelte Flächen mit einem endlosen Strom von salumerias, mercados, Discount-Läden und Handy-Shops.

Er überquerte die Grenze zum County Bergen und fuhr durch ein weiteres halbes Dutzend trostlos wirkender Städte. Natürlich gab es sehr viel schnellere Möglichkeiten, sein Ziel zu erreichen, aber Gideon wollte sich eine Weile im Autofahren verlieren. Er steckte voller unbehaglicher und nicht willkommener Gefühle: Erregung, weil er Nodding Crane entdeckt hatte, Scham und Verlegenheit, weil er Orchid so schlecht behandelt hatte. Er redete sich ein, dass alles zu ihrem Nutzen sei, zu ihrem Schutz; dass es besser sei, dass sie sich nicht mit einem Mann einließ, der nur noch ein Jahr zu leben hatte. Aber das verschaffte ihm auch kein besseres Gefühl. Er hatte sie ausgenutzt, hatte sie zynisch benutzt.

Während er weiter nach Norden fuhr, auf die Grenze des Staates New York zu, wurden die beengten Straßen breiter und grüner, und der Verkehr ließ nach. Die Häuser wurden größer und lagen weiter auseinander. Er blickte auf das Blatt Papier, das er auf den Beifahrersitz gelegt hatte. Biyu Liang, Bergen Dafa Center hatte er daraufgekritzelt. Weil van Rensselaer ihm unwissentlich die Anwesenheitslisten ausgehändigt hatte, war es ein Kinderspiel gewesen herauszufinden, welcher der asiatischen Jungen auf dem JFK Airport gewesen war – Jie Liang – und anschließend die Identität der Mutter festzustellen. Zwar wusste Gideon nicht, worum es sich bei einem Dafa Center handelte, aber es war der Arbeitsplatz der Frau – und sein Ziel.

Eine Viertelstunde später lenkte er den Wagen auf ein Gelände, das zu seinem Erstaunen ein altes Anwesen zu sein schien. Nicht riesig, aber gepflegt, ein großes Puddingstein-Gebäude, eine separate Garage und ein angrenzendes Torhaus, das Ganze inzwischen in eine Art kleinen Campus umgewandelt. Auf dem von der Straße zurückversetzten Schild stand BERGEN DAFA CENTER.

Gideon stellte den Wagen auf dem Parkplatz neben dem Hauptgebäude ab und ging die Stufen zur doppelflügeligen, mit gusseisernen Filigranarbeiten verzierten Eingangstür hinauf. Er betrat eine opulente Diele, die in einen Empfangsbereich umgewandelt worden war. Auf einem geschmackvollen Schild an einer Wand war zu lesen: FALUN-GONG-ÜBUNGEN WERKTAGS 15 bis 17 Uhr, UNTERRICHT WERKTAGS 19 bis 22 UHR. Drum herum hingen weitere Schilder mit Symbolen und chinesischen Schriftzeichen.

Hinter einem Schreibtisch saß eine junge Asiatin. Sie lächelte ihn an, als er näher kam.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie in akzentfreiem Englisch.

Gideon erwiderte ihr Lächeln. »Ich möchte bitte mit Biyu Liang sprechen.«

»Sie leitet im Moment eine Sitzung«, sagte die Frau und deutete in Richtung einer offenen Tür, aus der ein Gemisch aus Musik und Reden drang.

»Vielen Dank, ich warte, bis sie zu Ende ist.«

»Sie können auch zuschauen.«

Gideon ging an der Frau vorbei und betrat einen großen Raum von Zen-hafter Schlichtheit. Eine Frau führte eine Gruppe von Teilnehmerinnen und Teilnehmern durch eine Reihe langsamer Übungen, alle bewegten sich leise zum hypnotischen Klang von Fünftonmusik, klimpernden Glöckchen und Perkussionsinstrumenten. Die Frau gab anscheinend Anweisungen in melodiösem Mandarin. Er betrachtete sie genauer. Sie war jünger als die Frau auf dem Flughafen, ähnelte ihr aber genug, dass die Frau auf dem Video die Großmutter des Kindes gewesen sein konnte.

Gideon wartete, bis die Sitzung zu Ende war. Währenddessen stieg seine Verwunderung über das, was er da sah. Es war etwas Unbeschreibliches in den Bewegungen, etwas Schönes, fast Universelles. Falun Gong. Er hatte vage davon gehört und erinnerte sich, dass es sich um eine Art buddhistischer Bewegung in China handelte. Keine Frage, er musste mehr darüber erfahren.

Die Sitzung setzte sich noch zehn Minuten fort. Während die Gruppe leise plaudernd auseinanderging, blieb Gideon am Eingang stehen und wartete. Die Frau, die die Sitzung geleitet hatte, bemerkte ihn und kam zu ihm herüber. Sie war klein und hatte ein ausgesprochen rundes, sympathisches Gesicht.

»Kann ich Ihnen helfen?«

»Ja.« Er strahlte sie an. »Ich heiße Gideon Crew, und mein Sohn Tyler geht ab Herbst auf die Throckmorton Academy – wir sind vor kurzem aus New Mexico hierhergezogen. Er wird in die Klasse Ihres Sohnes kommen.«

»Wie schön«, sagte sie und lächelte. »Herzlich willkommen.«

Sie schüttelten einander die Hand; die Frau stellte sich ihm vor.

»Wir haben meinen Sohn adoptiert«, fuhr Gideon fort, »aus Korea. Wir wollen sichergehen, dass er sich dort wie zu Hause fühlt – er hat noch ein paar Probleme mit dem Englischen –, und deshalb waren meine Frau und ich erfreut zu erfahren, dass auch noch andere asiatische Kinder in der Klasse sind. Es ist schwierig, an einem neuen Wohnort eine gute Schule zu finden. Deshalb hatte ich gehofft, Sie und einige der anderen Eltern zu treffen.«

»Ich spreche mit Jie über Ihren Jungen. Jie ist ein sehr freundliches Kind, und ich weiß, dass er sich besonders große Mühe geben wird, sich mit Ihrem Sohn anzufreunden.«

Gideon war das peinlich. »Vielen Dank, das wird meinem Sohn bestimmt sehr helfen.« Er wandte sich zum Gehen, aber dann drehte er sich, einem Impuls folgend, noch einmal um. »Verzeihen Sie, wenn ich Sie belästige. Ich konnte nicht anders als zuzusehen, was hier in dem Raum vor sich ging, während ich wartete, um mit Ihnen zu sprechen. Mich hat das sehr angesprochen, die Musik, die Bewegungen. Worum handelt es sich dabei eigentlich genau?«

Ihre Miene hellte sich auf. »Wir praktizieren hier Falun Gong – oder genauer gesagt Falun Dafa.«

»Ich bin sehr neugierig, und … na ja, ich fand es sehr schön. Wozu dient dieses Falun Dafa? Zur körperlichen Ertüchtigung?«

»Das ist nur ein kleiner Teil. Bei Falun Dafa handelt es sich um eine umfassende Lehre zur Kultivierung von Körper und Geist, einen Weg, um das ursprüngliche, wahre Selbst wiederzuerlangen.«

»Handelt es sich um eine Religion?«

»O nein. Es ist eine Form von Wissenschaft. Auch wenn es buddhistische und taoistische Prinzipien einschließt. Man könnte es einen spirituellen und geistigen Pfad nennen. Eine Religion ist etwas anderes.«

»Ich würde gern mehr darüber erfahren.«

Sie reagierte warmherzig und zuvorkommend mit einer gut geprobten Beschreibung. »Die Praktizierenden von Dafa werden von universellen Prinzipien geleitet: Aufrichtigkeit, Mitgefühl und Zurückhaltung. Wir streben kontinuierlich danach, uns mit diesen Prinzipien in Einklang zu bringen, durch eine Reihe von fünf einfachen Übungen sowie durch Meditation. Mit der Zeit wandeln diese Übungen Körper und Geist und verbinden uns mit den tiefsten und profundesten Wahrheiten des Kosmos. Und auf diese Weise findet man am Ende den Pfad zur Rückkehr zum wahren Selbst.«

Das war zweifellos ein Thema, das ihr am Herzen lag. Trotzdem, auf eine merkwürdige Art war Gideon aufrichtig beeindruckt. Es war ja vielleicht tatsächlich etwas dran; er hatte es gefühlt, allein schon durchs Zuhören und Beobachten der Bewegungen. »Darf jedermann an den Sitzungen teilnehmen?«

»Selbstverständlich. Wir heißen alle Menschen willkommen. Wie Sie ja gesehen haben, haben wir alle möglichen Praktizierende, aus jeder sozialen Schicht, von jeder Herkunft – ja mehr noch, die meisten unserer Praktizierenden hier sind Menschen aus dem westlichen Kulturkreis. Möchten Sie einmal an einer Sitzung teilnehmen?«

»Gern. Ist das teuer?«

Sie lachte. »Sie können kommen, zuhören, die Übungen machen, so lange Sie wollen. Die meisten unserer englischsprachigen Sitzungen finden abends statt. Wenn Sie zukünftig den Eindruck haben, dass wir Ihnen helfen können, würden wir natürlich eine Spende für das Zentrum willkommen heißen. Wir erheben aber keine Gebühren.«

»Stammen die Übungen aus China?«

Da zögerte die Frau. »Unsere Bewegung steht in Zusammenhang mit alten chinesischen Überlieferungen und Glaubensüberzeugungen. Aber sie ist in China unterdrückt worden.«

Das wäre ein extrem interessantes weiterführendes Thema. Doch erst einmal musste er die ältere Frau finden – die Großmutter. »Vielen Dank, dass Sie sich so viel Zeit für mich genommen haben. Ich werde bestimmt einmal an einer der Sitzungen teilnehmen. Aber kommen wir zur Schule zurück: Mir wurde dort mitgeteilt, dass Jie eine Großmutter hat, der er sehr nahesteht.«

»Das könnte meine Mutter sein. Sie hat das Bergen Dafa Center gegründet.«

»Ah ja. Könnte ich sie treffen?«

Noch während er die Frage stellte, wurde ihm klar, dass er sich etwas zu weit vorgewagt hatte. Das Gesicht der Frau wirkte nicht mehr ganz so offen. »Es tut mir leid, sie ist gerade mit einer anderen Dafa-Angelegenheit beschäftigt und hat mit der täglichen Arbeit im Zentrum nichts mehr zu tun.« Sie hielt inne. »Wenn ich fragen darf – warum wollen Sie sie treffen?«

Gideon lächelte. »Weil sie und ihr Enkel einander so nahestehen … und sie ihn zur Schule bringt … nun, da habe ich mir gedacht, es wäre gut, sie zu treffen. Aber natürlich ist das nicht nötig …«

Gideon merkte, dass er einen weiteren Fehler begangen hatte. Der Gesichtsausdruck der Frau wirkte auf einmal ein wenig kühl. »Sie bringt ihn nie nach Throckmorton. Es wundert mich, dass die Schule überhaupt von ihr weiß.« Eine Pause. »Und ich frage mich auch, woher Sie von ihr wissen.«

Pech gehabt, dachte Gideon betrübt. Er hätte lieber den Mund halten sollen, dann hätte er einen Informationsvorsprung behalten. »Man hat in der Schule von ihr gesprochen … Hat Jie dort vielleicht von ihr erzählt?«

Ihre Miene wurde etwas freundlicher. »Ja. Das kann ich mir vorstellen.«

»Ich möchte Ihre Zeit nicht mehr länger in Anspruch nehmen.«

Gideon trat einen Schritt zurück und schenkte ihr ein unschuldiges Lächeln. »Sie waren sehr freundlich.«

Besänftigt holte sie ihm eine Broschüre. »Hier ist der Unterrichtsplan der einführenden Sitzungen. Ich hoffe, Sie bald wiederzusehen. Und ich spreche mit Jie über Ihren Sohn Tyler. Vielleicht können wir ihn ja einmal zum Spielen zu uns nach Hause holen, bevor die Schule im Herbst beginnt.«

»Das wäre außerordentlich freundlich«, sagte Gideon und lächelte zum Abschied noch einmal.