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Gideon wusste, er würde sterben, aber er fühlte absolut nichts. Wenigstens würde es auf diese Art schneller gehen und nicht so schmerzhaft sein.
Er hörte einen Schrei und eine Salve von Schüssen. Als er sich zu dem Klang umwandte, erblickte er eine monströse Erscheinung – eine mit Morast bedeckte Gestalt –, die aus der Schlammlawine hervorbrach, feuernd und schreiend wie eine Furie. Nodding Crane wurde heftig von den Kugeln zurückgeschlagen. Er erwiderte auch noch wild das Feuer, als er zu Boden stürzte.
»Ich hab keine Munition mehr!«, schrie Mindy, warf das Gewehr weg und suchte im Schlamm nach ihrer Faustfeuerwaffe.
Gideon stürzte sich auf Nodding Crane, packte dessen Waffe und versuchte, sie ihm aus der Hand reißen, in der Hoffnung, er sei tot. Aber er war es nicht – offenbar trug auch er einen Körperschutz. Die beiden Männer wälzten sich im Schlamm und rangen um die TEC-9. Aber Nodding Crane war unglaublich stark, er konnte Gideon abschütteln und zückte die Waffe.
Mindy stürzte sich mit einem Brett von einem der Särge ins Getümmel und versuchte, es Nodding Crane über den Schädel zu ziehen, aber der Killer wich geschickt aus, wehrte den Hieb mit der Schulter ab und hob unsicher die Waffe.
Gideon taumelte nach hinten, und da wurde ihm klar, dass sie jetzt nur eine Option hatten: zu fliehen. »Raus!«, schrie er.
Mindy sprang über den Rand des Grabens, Gideon hinterher. Noch eine Salve aus der TEC-9, aber sie rannten bereits über das Feld in die Schwärze des Unwetters, weshalb die Schüsse weit danebengingen.
Einen Augenblick lang wurde der Himmel von einem riesigen Blitz gespalten, gefolgt von Donnerkrachen.
»Der Mistkerl lädt nach«, stieß Mindy keuchend im Laufen hervor, gerade als sie die Baumreihe erreichten. Im selben Moment fetzte erneut ein Kugelhagel durch das Blattwerk rings um sie herum, so dass Vegetationsfetzen auf sie herabregneten. Sie stürmten weiter durchs Unterholz und liefen bis zur völligen Erschöpfung.
»Deine Waffe?«, stieß Gideon keuchend hervor.
»Hab ich verloren. Aber ich hab noch meinen Ersatz.« Sie zog einen 45er-Militär-Colt hervor. »Der Draht?«
»In meiner Tasche.«
»Wir müssen weiter.« Sie drehte sich um und lief im Laufschritt nach Süden, Gideon hinterher, der seine Schmerzen, so gut es ging, unterdrückte. Er hatte sein Nachtsichtgerät und die Taschenlampe während des Kampfs verloren, deshalb liefen sie jetzt im Stockdunkeln, irrten durch den Wald und stießen dabei dichte Büsche und Dornen zur Seite. Er hegte keinerlei Zweifel, dass Nodding Crane ihnen auf den Fersen war.
»So klappt das nicht«, stieß Gideon hervor. »Er hat ein Nachtsichtgerät. Wir müssen in offenes Gelände kommen, wo wir etwas erkennen können.«
»Stimmt«, sagte Mindy.
»Folge mir.« Gideon rief sich die Karte in Erinnerung und wandte sich nach Westen. Der Wald lichtete sich; wieder kamen sie über ein Feld mit Gebeinen, ihre Schuhe knirschten auf den halb unter dem Laub verborgenen Schädeln, und tauchten auf einer breiten, überwucherten Straße mit langen, niedrigen Gebäuden an einer Seite auf: das Arbeitshaus für Jungen. Der Himmel im Süden – die Lichter von New York City – spendete gerade so viel Licht, dass sie etwas erkennen konnten. Gideon fiel in Laufschritt, Mindy desgleichen.
»Wo liegt das Boot?«, keuchte sie.
»In der Nähe des Strandes, beim Schornstein.«
Auf einmal erklangen hinter ihnen Schüsse. Gideon warf sich instinktiv zu Boden. Mindy landete neben ihm, rollte sich ab und erwiderte das Feuer mit dem 45er. Ein scharfer Schrei, dann Stille.
»Ich hab ihn erwischt!«, sagte sie.
»Das bezweifle ich. Er ist ein gerissener Mistkerl.«
Sie rappelten sich wieder auf, liefen zum verfallenen Gebäude mit den Schlafsälen und sprangen über eine zerstörte Tür. Gideon lief weiter, rannte fast blind durch einen verfallenen Raum nach dem anderen und strauchelte dabei über demolierte Bettgestelle und abbröckelnden Putz. Als er am gegenüberliegenden Ende herauskam, bog er plötzlich in die verfallene Kapelle, lief ganz hindurch, sprang aus dem zerbrochenen Rosettenfenster und kam dann zurück.
»Was machst du da?«, rief Mindy leise von hinten. »Du hast doch gesagt, dass das Boot auf der anderen Seite liegt …«
»Ihn verwirren, das müssen wir. Wir müssen ihn abschütteln und uns verstecken.«
Keuchend und mit schmerzenden Rippen ging er voran durch ein dichtes Gehölz in Richtung des Ufers auf der anderen Seite der Insel. Er bewegte sich langsam und versuchte, so leise wie möglich zu sein. Die Bäume lichteten sich. Sie traten hinaus auf das überwucherte Footballfeld, das er schon einmal gesehen hatte, die Tribünen von Ranken bedeckt, das Spielfeld unter wild sprießendem Unkraut und Schösslingen verborgen.
Sie liefen über das Feld. Gideon blieb stehen und horchte. Der Wind heulte, der Regen prasselte in harten Tropfen vom Himmel – es war unmöglich, irgendetwas anderes zu hören.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir ihn abgehängt haben«, flüsterte Mindy, holte Patronen aus ihrer Tasche und lud nach. Mit einem Nicken wies sie zu den Tribünen. »Das sieht wie ein gutes Versteck aus.«
Gideon nickte. Auf Händen und Knien krochen sie unter die alte Tribüne. Sie war mit einer dicken Matte aus Vegetation bedeckt; darin war es wie in einer Höhle. Der Regen trommelte auf die Metallsitze über ihnen.
»Hier findet er uns nie«, sagte sie.
Gideon schüttelte den Kopf. »Am Ende findet er uns überall. Wir warten ein bisschen, und dann rennen wir zum Boot. Es ist nicht so weit.«
Er lauschte. In der Ferne war durch das Rauschen des Sturms hindurch die Brandung zu hören.
»Ich glaube, ich habe ihn dort hinten tatsächlich erwischt.«
Gideon gab ihr keine Antwort, sondern dachte an die Route, die sie einschlagen mussten, um zum Boot zu gelangen. Weder glaubte er, dass sie Nodding Crane erwischt hatte, noch, dass sie beide ihn abgehängt hatten.
»Du hast nicht zufällig eine Taschenlampe oder eine Karte dabei?«, fragte er.
»War alles in meinem Rucksack. Ich hab nur die Waffe gerettet.«
»Wie bist du aus dem Schlamm rausgekommen?«
»Er war ziemlich locker, außerdem hab ich nicht tief dringesteckt. Du hast das meiste weggeschaufelt. Gib mir den Draht.«
»Um Gottes willen«, zischte er, »damit befassen wir uns später.«
Die Waffe schwenkte herum und zeigte auf ihn. Mindy erhob sich langsam und trat einen Schritt zurück. »Ich sagte, gib mir den Draht.«
Einen Augenblick lang wurde Gideon schwarz vor Augen. Entgeistert blickte er auf die Waffe. Und da fiel ihm Nodding Cranes Satz ein. Du bist ein Narr. Es war ihm wie eine beiläufige Beleidigung vorgekommen, doch jetzt, zu spät, wurde ihm klar, dass sein Gegner nichts Beiläufiges sagte oder tat.
»Was zum Teufel machst du da?«
»Gib mir einfach den Draht.«
»Wer bist du? Du bist gar nicht von der CIA.«
»Früher mal. Die Bezahlung war beschissen.«
»Dann arbeitest du freiberuflich?«
Sie lächelte. »Könnte man so sagen. Diesen besonderen Auftrag erledige ich für die OPEC.«
»Die OPEC?«
»Ja. Und ich bin sicher, du bist intelligent genug, um zu erkennen, was die OPEC damit zu tun hat.«
»Nein«, sagte er, um Zeit zu gewinnen.
»Was glaubst du wohl, wie sich dieses Stück Draht auf ihre Geschäfte auswirken würde? Man könnte sich vom Erdölmarkt verabschieden. Wie auch vom benzinbetriebenen Automobil. Gib mir also den Draht, großer Junge. Ich möchte dich wirklich nicht töten, Gideon, aber ich mach’s, wenn du nicht tust, was ich sage.«
»Wie viel zahlen sie dir?«
»Zehn Millionen.«
»Dann hast du dich zu billig verkauft.« Er dachte zurück an Hongkong, wo sie ganz zufällig einen Diplomatenstempel in ihrer Handtasche hatte. Das allein hätte ihn misstrauisch machen sollen. Ihm fiel ein, dass sie immer allein zu arbeiten schien, kein Backup, kein Partner. Völlig untypisch für die CIA.
Nodding Crane hatte recht. Er war ein Narr.
Sie streckte die Hand aus. Natürlich konnte sie ihn trotzdem umbringen. Aber vielleicht, nur vielleicht, würde die Erinnerung an die gemeinsam verbrachte Zeit sie ja davon abhalten … Er griff in die Hosentasche und reichte ihr den Draht.
»Braver Junge.« Ihn immer noch mit der Waffe bedrohend, hielt sie den Draht hoch und betrachtete ihn eingehend. Dann schloss sie die Faust darum und zielte aufs Neue.
»Wow«, sagte sie. »Es tut mir wirklich leid.«
Und da wurde Gideon klar, dass sie es ernst meinte, dass es ihr wirklich leidtat. Aber sie würde es trotzdem tun.
Er schloss die Augen.