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Gideon Crew stieg aus dem Wagen und blickte am Gebäude der Throckmorton Academy hinauf, in dem die Aufnahmestelle untergebracht war. Das neoromanische Gebäude aus grauem Granit aus dem 19. Jahrhundert erhob sich zwischen makellos gestutzten Hecken und Büschen, Blumenrabatten und kurz geschorenen Rasenflächen. Eine an die alte Mauer geschraubte Plakette aus Messing wies das Gebäude als SWITHIN COTTAGE aus und entsprach damit der für die weiße Oberschicht gar nicht untypischen selbstironischen Gewohnheit, riesige, teure Domizile »Häuschen« zu nennen. Dabei roch es förmlich nach Reichtum, Privilegiertheit und einem selbstgefälligen Gefühl der Überlegenheit.
»Das hier ist wirklich idiotisch«, sagte Orchid, die auf dem Parkplatz stand und die Jacke ihres billigen orangefarbenen Hosenanzugs hinunterzog. »Ich kapiere das einfach nicht. Wir sehen aus wie Idioten. Die werfen uns doch sofort wieder raus aus dem Laden.«
»Kann sein«, antwortete Gideon, der eine dicke Mappe mit Unterlagen in der Hand hielt, deren Zusammenstellung ihn Stunden unablässiger und sorgfältiger Arbeit gekostet hatte. Er strich seine karierte Hose und das Jackett glatt, rückte seine Polyester-Krawatte zurecht und steuerte auf die Haustür zu.
»Ich begreife einfach nicht, wieso du uns derart ausstaffiert hast«, flüsterte Orchid wütend. »Wir passen hier überhaupt nicht her.«
Er fasste sie beruhigend am Arm. »Folge einfach meinem Beispiel. Es wird sich schon alles klären. Ich verspreche es dir.«
Sie betraten einen wohnlich eingerichteten Wartebereich. Die Dame am Empfang hob den Kopf. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« Ihr Tonfall war bemüht neutral.
»Guten Tag«, sagte Gideon herzlich, ging hinüber und schüttelte ihr die Hand. »Mr. und Mrs. Crew. Wir möchten unseren Sohn Tyler in der Schule hier anmelden.«
»Haben Sie einen Termin?«
»Ja.«
»Und mit wem, wenn ich fragen darf?«
Er blätterte in seinen Unterlagen. »Mr. van Rensselaer.« Einer dieser altehrwürdigen New Yorker Namen – den er extrem falsch aussprach.
Sie erhob sich und verschwand in einem der inneren Büroräume. Kurz darauf erschien sie wieder. »Mr. van Rensselaer wird Sie gleich empfangen«, sagte sie, wobei sie die korrekte Betonung hervorhob.
Der Leiter der Schüleraufnahme war genauso, wie Gideon gehofft hatte: großgewachsen, entspannt, freundlich, zurückhaltend gekleidet. Das ein wenig längere Haar und die modische Brille ließen auf einen Mann schließen, der sich, wenn auch nicht für wirklich aufgeschlossen, so doch für tolerant und moderat hielt.
Perfekt.
Van Rensselaer begrüßte sie herzlich. Kurz verriet sein Blick eine gewisse Bestürzung, was Kleidung und Benehmen seiner Besucher betraf, aber er war so professionell, dass er sich nichts anmerken ließ.
»Vielen Dank, dass Sie uns empfangen«, sagte Gideon nach der Vorstellungsrunde. »Wir möchten unseren Sohn Tyler für die zweite Klasse anmelden. Er ist ein ganz besonderer Junge.«
»Selbstverständlich. Aber natürlich haben wir hier in der Throckmorton Academy ein recht umfassendes Aufnahmeverfahren, zu dem Gespräche mit den Eltern und dem Kind, Referenzen der Lehrer sowie eine Vielzahl altersgerechter Testverfahren gehören. Bedauerlicherweise haben wir viel mehr Bewerber, als wir aufnehmen können. Ich fürchte deshalb, Ihnen mitteilen zu müssen, wie ich Ihnen bereits am Telefon erklärt habe, dass es derzeit keine freien Plätze in der zweiten Klasse gibt.«
»Aber Tyler ist etwas Besonderes.«
Van Rensselaer selbst hatte nicht Platz genommen. »Nun, wie gesagt: Wir würden Ihnen gern eine kurze Besichtigungstour über den Campus anbieten, aber es wäre unfair, mehr von Ihrer kostbaren Zeit zu beanspruchen, da wir Ihrem Sohn keine Hoffnung machen können, bei uns aufgenommen zu werden. Wenn sich etwas ergibt, melden wir uns selbstverständlich bei Ihnen. Und nun würden wir uns freuen, wenn wir Ihnen kurz das Gelände zeigen könnten.«
»Vielen Dank. Aber ich habe mir gedacht, die Mappe mit Tylers Arbeiten hierzulassen.« Gideon streckte die Mappe mit den Unterlagen van Rensselaer entgegen, der sie mit ein ganz klein wenig Widerwillen betrachtete.
»Das wird dieses Mal nicht nötig sein.«
»Darf ich Ihnen wenigstens die Symphonie hierlassen?«
»Die … wie sagten Sie?«
»Die Symphonie. Tyler hat eine Symphonie komponiert.«
Langes Schweigen. »Wie alt ist Tyler, sagten Sie?«
»Sieben.«
»Und hatte er Hilfe, als er diese … Symphonie komponierte?«
»Um Himmels willen, nein!«, sagte Orchid, deren Raucherstimme in der gedämpften Atmosphäre des Büros widerhallte. »Was verstehen wir denn schon von klassischer Musik!« Es folgte ein Lachen.
Gideon verkniff sich ein Lächeln und zog die Partitur hervor. Nach kurzem Zögern nahm van Rensselaer sie entgegen.
»Er hat GarageBand verwendet«, sagte Gideon. »Klingt super, jede Menge Trompeten. Die CD ist auch hier drin. Die müssen Sie sich unbedingt mal anhören.«
Van Rensselaer blätterte in der ausgedruckten Symphonie. »Es hat ihm doch sicherlich jemand dabei geholfen.«
»Niemand. Wirklich. Wir wussten nicht einmal, dass er sie geschrieben hat.«
»Hm, keiner von Ihnen ist musikalisch?«
»Ich finde Lady Gaga klasse«, sagte Orchid und lachte nervös.
»Von wem hat … Tyler denn sein Interesse an Musik?«
»Keine Ahnung. Wir haben ihn adoptiert, wissen Sie, aus Korea.«
»Korea«, wiederholte van Rensselaer.
»Ja, genau. Einige unserer Freunde adoptierten damals Kinder aus Asien, und da haben wir uns gedacht, es wäre toll, na ja – wir können keine Kinder bekommen. Außerdem war es etwas, das wir mit unseren Freunden teilen konnten, Sie wissen schon, worüber man sich unterhalten konnte. Aber die Symphonie ist nicht das Einzige. Hier sind ein paar von Tylers Zeichnungen. Sie können sie behalten – es sind Kopien.«
Er zog die Zeichnungen aus der Mappe. Erstaunlich, was man im Internet so alles finden konnte. Zu jeder Zeichnung hatte er am unteren Rand eine kleine Unterschrift – TYLER CREW – hinzugefügt und dann alles kopiert.
Van Rensselaer nahm die Zeichnungen entgegen und betrachtete sie.
»Das da ist unser Hund. Tyler ist ganz vernarrt in ihn. Und das ist irgend so eine alte Kirche, die er in einem Buch gefunden hat.«
»Chartres«, murmelte van Rensselaer.
»Wie bitte?« Es war enorm schwierig gewesen, die richtigen Zeichnungen aus der riesigen Sammlung herauszusuchen, die im Internet zur Verfügung stand. Kindlichkeit und künstlerisches Genie mussten auf genau die richtige Art und Weise zusammenkommen.
»Die Zeichnungen sind ganz verblüffend«, sagte van Rensselaer leise und blätterte darin.
»Tyler ist etwas Besonderes«, wiederholte Orchid. »Er ist jetzt schon intelligenter als ich.« Sie steckte sich einen Streifen Kaugummi in den Mund und fing an zu kauen. »Auch einen?«
Van Rensselaer gab ihr keine Antwort. Er vertiefte sich in die Zeichnungen.
»Ach, damit ich’s nicht vergesse«, sagte Gideon. »Tyler ist auch ein ganz normaler Junge. Nicht einer von diesen eingebildeten Typen. Er sieht unheimlich gern Family Guy mit uns und findet die Serie zum Brüllen komisch. Besonders hat ihm die Folge gefallen, in der Peter betrunken ist und im Vorgarten die Hose herunterlässt, gerade als die Polizei vorbeifährt.«
Orchid lachte auf. »Das war eine der besten.«
»Family Guy?« Ein Ausdruck des Entsetzens trat in van Rensselaers Miene.
»Wie auch immer, in der Mappe hier finden Sie einen Haufen von Tylers Sonetten, weitere Zeichnungen und noch einige musikalische Werke.«
»Alle von ihm?«
»Bei den Zeichnungen habe ich ihm geholfen«, sagte Gideon stolz. »Aber, na ja, in Musik, Literatur oder Malerei kennen wir uns schlecht aus. Sehen Sie, ich besitze eine Sportsbar. In Yonkers.«
Van Rensselaer blickte erst ihn, dann Orchid an.
»Er ist auch gut in Mathematik. Es ist mir allerdings ein Rätsel, wie zum Kuckuck er das Zeug gelernt hat. Genauso, wie er sich mit zweieinhalb selbst das Lesen beigebracht hat. Also, ich habe hier zwei Briefe von seinen Lehrern.« Gideon blätterte in der Mappe und zog zwei Schreiben hervor, die er sorgfältig komponiert und auf Papier mit gefälschtem Schulbriefkopf ausgedruckt hatte. »Den einen hat sein Mathematiklehrer geschrieben – demnach ist Tyler seiner Altersstufe weit voraus –, und der hier ist von seinem Schulleiter.« Die Briefe ergingen sich wortreich über Tylers überragendes Genie, machten aber auch einige sorgfältig verhüllte Anspielungen auf sein häusliches Umfeld.
»Ach, und hier sind ja seine Testergebnisse. Irgendwer hat mal einen IQ-Test mit ihm gemacht.«
Van Rensselaer warf einen Blick darauf. Sein Gesicht wurde ganz ruhig, fast ausdruckslos; das Papier zitterte ganz leicht. »Ich glaube …«, begann er langsam. »Unter diesen Umständen …. Vielleicht könnten wir hier in Throckmorton doch einen Platz für Tyler finden. Natürlich müssten wir ihn dennoch erst kennenlernen und ein Bewerbungsverfahren durchführen.«
»Wunderbar!«, rief Orchid und klatschte in die Hände. Langsam machte die Sache richtig Spaß.
»Bitte«, sagte van Rensselaer, »nehmen Sie doch Platz.«
»Nur eine Minute noch«, sagte Gideon, als er sich setzte. »Da wären noch ein paar Dinge, die ich klarstellen möchte. Zuallererst: Werden andere asiatische Schüler in seiner Klasse sein? Ich möchte nicht, dass er sich ausgeschlossen fühlt.«
»Absolut«, sagte van Rensselaer rasch und wechselte komplett in den Verkäufer-Modus.
»Und wie viele? Nicht nur in der zweiten Klasse, sondern in der gesamten Grundschule. Ich möchte die Zahlen wissen.«
»Lassen Sie mich die Klassenlisten holen.« Van Rensselaer rief die Empfangsdame ins Zimmer und brachte ihr seine Bitte vor. Kurz darauf kam sie mit einem Blatt Papier zurück. Er warf einen kurzen Blick darauf und schob es über den Schreibtisch. »Sie hat hier aufgelistet, welche Schüler asiatischer Abstammung sind.«
Gideon nahm die Liste entgegen.
»Ich fürchte, ich kann sie Ihnen nicht überlassen. Wir sind natürlich sehr bestrebt, die Privatsphäre unserer Eltern zu schützen.«
»Oh, gewiss, gewiss.« Gideon sah die Liste durch. Fünfzehn Schüler. Unter diesen musste er suchen. Er merkte sich die Namen.
»Mir ist außerdem zu Ohren gekommen«, sagte er streng und legte die Liste zurück auf den Tisch, »dass es hier in der Schule einen schweren Ausbruch von Grippe gegeben hat.«
»Das bezweifle ich.«
»Das hat man mir aber gesagt. Ich habe sogar gehört, dass am siebten Juni, unmittelbar vor der Abschlussfeier, mehr als drei Viertel der Grundschüler erkrankt waren und nicht zum Unterricht erscheinen konnten.«
»Das halte ich kaum für möglich.« Wieder rief van Rensselaer die Empfangsdame zu sich herein. »Bringen Sie mir bitte die Anwesenheitslisten der Grundschüler für den siebten Juni.«
»Wie Sie wünschen.«
»Wie wär’s mit einem Kaffee?«, fragte Gideon und warf einen Blick auf die Kanne in der Ecke.
»Wie bitte? Ach, entschuldigen Sie! Ich hätte Ihnen schon früher Kaffee anbieten sollen. Wie nachlässig von mir.«
»Kein Problem. Ich nehme ihn mit viel Sahne und drei Stück Zucker.«
»Für mich viel Sahne und vier Stück Zucker«, sagte Orchid.
Van Rensselaer erhob sich und machte den Kaffee selbst. Währenddessen kam die Empfangsdame zurück. Sie legte gerade das Dokument auf den Schreibtisch, als Van Rensselaer mit dem Kaffee zurückkehrte. Gideon griff danach und erhob sich von seinem Stuhl, und dabei stieß er irgendwie die Tassen um und verschüttete den Kaffee auf van Rensselaers Schreibtisch.
»Oh, das tut mir aber leid!«, rief er. »Was bin ich doch für ein Tolpatsch!« Er zog ein Taschentuch hervor und fing an, den Kaffee aufzuwischen, trocknete die Papiere ab, pusselte herum, schob alles hierhin und dorthin.
Sie alle machten gemeinsam sauber, als die Empfangsdame mit Papiertüchern zurückkehrte.
»Es tut mir sehr leid«, wiederholte Gideon. »Verzeihen Sie vielmals.«
»Kein Problem«, sagte van Rensselaer in gepresstem Tonfall und betrachtete dabei die feuchten, kaffeefleckigen Unterlagen. »So was kann doch jedem mal passieren.« Doch sogleich hellten sich seine Züge wieder auf. »Wir würden Tyler gern alsbald kennenlernen. Wollen wir schon einen Termin für das Vorstellungsgespräch vereinbaren?«
»Ich rufe Sie an«, sagte Gideon. »Behalten Sie die Akte. Wir müssen uns beeilen.«
Einige Minuten später saßen sie im Auto und fuhren durch das gusseiserne Tor. Orchid bog sich vor Lachen. »Meine Güte, du bist wirklich komisch, weißt du das? Nicht zu fassen, wie der Typ geglotzt hat. Er hat uns für echt fürchterliche Leute gehalten. Fürchterliche Leute. Ich kenne mich mit solchen Typen aus – die wollen immer Blowjobs, weil ihre Frauen es nicht mögen, einen …«
»Okay, okay«, sagte Gideon in der Hoffnung, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. »Er wollte den armen Tyler vor uns retten, so viel war offensichtlich.«
»Also wozu das Ganze? Warum diese Scharade? Und erzähl mir bloß nicht wieder irgendwelchen Scheiß von wegen New Yorker Schauspielmethode.«
Die Klassenlisten und die Anwesenheitslisten vom siebten Juni waren jetzt sicher in Gideons Jacketttasche verstaut. Sie würden genau zeigen, welches asiatische Kind am folgenden Morgen nach Wus Landung auf dem JFK im Unterricht fehlte. Denn ein Kind, das sich nach Mitternacht im Wartebereich der internationalen Ankunftshalle des JFK Airport aufhielt, würde am nächsten Morgen wohl kaum in die Schule gehen; so jedenfalls Gideons Annahme.
»Um das völlige Aufgehen in einer Rolle, darum geht’s«, sagte Gideon. »Ich gebe dir mein Ehrenwort: Es geht hier ausschließlich um Schauspielerei. Und du bist ein Star.«