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Dajkovic stapfte mit raschen Schritten die Skiliftschneise hinauf. Bis zum Gipfel waren es etwa achthundert Meter, und es ging durchgehend steil bergauf, aber er war körperlich in Topform und könnte die Strecke in zehn Minuten schaffen. Dann, nachdem er oben angekommen war, würde er auf dem Sawmill Trail hinuntergehen und sich am Gipfel eines Berges zweiten Ranges auf die Lauer legen, den er auf der Karte identifiziert hatte. Die ideale Stelle, von wo man das Gebiet mit den freiliegenden Felsen übersehen, den Gegner lokalisieren und dann in den Hinterhalt locken konnte.

Fünf Minuten später, auf halber Höhe des Berghangs, kam eine Hütte zur Wartung des Skilifts in Sicht, die im Sommer geschlossen war. Dajkovic stapfte weiter den Hang hinauf. Als er an der Hütte vorbeikam, hörte er ein lautes Bumm! und verspürte plötzlich oben einen heftigen Schlag gegen den Rücken, so dass er bäuchlings hinfiel und kaum noch Luft bekam.

Während er nach seinem 45er tastete, gegen den Schmerz im Rücken ankämpfte und nach Luft rang, spürte er, wie sich ein Stiefel auf seinen Nacken stellte und die warme Mündung einer Waffe seinen Kopf berührte.

»Die Arme ausbreiten, bitte.«

Er hielt inne und versuchte, trotz seiner Schmerzen einen klaren Kopf zu bekommen. Langsam breitete er die Arme aus.

»Ich habe Sie mit einem Gummigeschoss niedergestreckt«, ließ sich die Stimme vernehmen, »aber der Rest ist Schrotmunition mit großen Kugeln.«

Der Lauf der Waffe wurde weiterhin gegen seinen Hinterkopf gedrückt, während der Schütze – er hatte keinen Zweifel, dass es sich um Crew handelte – ihn durchsuchte, ihm den 45er, die 22er und das Messer im Gürtel abnahm. Das Messer in Dajkovics Stiefel fand er nicht.

»Umdrehen, die Hände so halten, dass ich sie sehen kann.«

Dajkovic wälzte sich im Staub des Wanderwegs auf den Rücken. Über ihm stand ein hochgewachsener, schlaksiger Mittdreißiger mit glatten schwarzen Haaren, einer langen Nase und durchdringenden, strahlend blauen Augen. Geübt hielt er eine Remington Kaliber 12 in der Hand.

»Ein schöner Nachmittag für einen Spaziergang, nicht wahr, Sergeant? Mein Name ist Crew.«

Dajkovic starrte ihn nur an.

»Ich weiß ziemlich viel über Sie, Dajkovic. Was für ein Märchen hat Tucker Ihnen eigentlich aufgetischt, dass Sie hier herauskommen und nach mir suchen?«

Dajkovic schwieg, er überlegte noch immer wie verrückt, wie er reagieren konnte. Es war ihm ungeheuer peinlich, dass der Mann ihn überwältigt hatte. Doch noch war nicht alles verloren – er hatte ja noch das Messer. Und Crew war zwar gut fünfzehn Jahre jünger, wirkte aber schmächtig, weichlich, nicht durchtrainiert.

Crew lächelte ihn an. »Ehrlich gesagt, kann ich mir denken, was der gute General Ihnen gesagt hat.«

Dajkovic gab ihm keine Antwort.

»Es muss schon ein ziemliches Lügenmärchen gewesen sein, dass er aus Ihnen so einfach einen angeheuerten Killer machen konnte. Sie sind normalerweise keiner, der jemanden in den Rücken schießt. Vermutlich hat er Ihnen gesagt, dass ich ein Landesverräter bin. Im Bunde mit al-Qaida vielleicht – das wäre der treason du jour, nehme ich an. Zweifellos missbrauche ich meine Stellung in Los Alamos und verrate mein Vaterland. So was bringt Sie natürlich in Rage.«

Dajkovic starrte ihn nur an. Wieso zum Teufel wusste der Kerl darüber Bescheid?

»Wahrscheinlich hat er Ihnen von meinem Verräter-Vater erzählt, von seinem Verrat, durch den diese Agenten ums Leben kamen.« Gideon lachte freudlos. »Vielleicht hat er auch gesagt, dass Verrat zu üben in unserer Familie liegt.«

Langsam wurde Dajkovics Kopf klarer. Er hatte es vermasselt, doch er musste nur seine Hände – eine Hand – auf das Messer in seinem Stiefel bekommen, und Crew war ein toter Mann, selbst wenn es ihm gelang, einen Schuss aus der Schrotflinte abzugeben.

»Darf ich mich aufsetzen?«, fragte Dajkovic.

»Ganz langsam und ruhig.«

Dajkovic setzte sich auf. Die Schmerzen waren größtenteils verschwunden. So was passierte bei gebrochenen Rippen manchmal. Hörten eine Weile auf, weh zu tun, und dann kamen die Schmerzen doppelt so heftig zurück. Er errötete bei dem Gedanken, dass ihn dieses Würstchen mit einem Gummigeschoss niedergestreckt hatte.

»Ich habe eine Frage an Sie«, sagte Crew. »Woher wissen Sie eigentlich, dass Ihnen der alte Tucker die Wahrheit gesagt hat?«

Dajkovic gab keine Antwort. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass an Crews rechter Hand das oberste Gelenk des Ringfingers fehlte.

»Ich war mir ziemlich sicher, dass Tucker einen Untergebenen auf mich ansetzen würde, denn er ist keiner, der sich selbst an die vorderste Front begibt. Und mir war klar, dass es sich um jemanden handeln würde, dem er vertraut, der unter ihm gedient hat. Ich habe mir angesehen, wer für ihn arbeitet, und mir gedacht, dass Sie der Betreffende sein müssten. Sie haben bei der Grenada-Invasion ein Team der Navy Seals geleitet und vor der Hauptlandung die amerikanische medizinische Hochschule gesichert. Sie haben da gute Arbeit geleistet – kein einziger Student wurde verletzt.«

Dajkovic verzog keine Miene. Er wartete auf seine Chance.

»Also, haben Sie sich nun ein Urteil über mich gebildet? Oder sind Sie bereit, die Ohren aufzusperren und sich ein paar Fakten anzuhören, die möglicherweise nicht ganz mit dem übereinstimmen, was General Tucker Ihnen erzählt hat?«

Dajkovic gab keine Antwort. Er dachte nicht im Traum daran, diesem Drecksack auch nur die geringste Genugtuung zu verschaffen.

»Aber weil ich der mit der geladenen Schrotflinte bin, müssen Sie mir wohl sowieso zuhören. Mögen Sie Märchen, Sergeant? Hier ist eines für Sie, nur dass niemand darin glücklich bis ans Ende seiner Tage lebt. Es war einmal im August neunzehnhundertachtundachtzig, da lebte ein zwölfjähriger Junge …«

Dajkovic hörte sich die Geschichte an. Er wusste, dass sie gelogen war, aber er schenkte ihr dennoch Aufmerksamkeit, denn ein guter Soldat wusste den Wert von Informationen zu schätzen, selbst von irreführenden Informationen.

Es dauerte nur fünf Minuten. Es war eine ziemlich gute Geschichte, interessant erzählt. Aber Menschen von diesem Schlag waren ja immer phantastische Lügner.

Als er geendet hatte, zog Crew ein Kuvert aus der Tasche und warf es Dajkovic vor die Füße. »Das ist das Gutachten, das mein Vater geschrieben und Tucker geschickt hat. Der Grund, weshalb er ermordet wurde.«

Dajkovic machte sich nicht mal die Mühe, den Umschlag aufzuheben. Einen Augenblick bewegten sich Gideon und Dajkovic nicht vom Fleck, sondern starrten sich nur gegenseitig an.

»Tja«, sagte Crew schließlich und schüttelte den Kopf, »es war wohl naiv von mir zu glauben, dass ich einen alten Soldaten wie Sie davon überzeugen kann, dass sein geliebter befehlshabender Offizier ein Lügner, Feigling und Mörder ist.« Er überlegte kurz. »Ich möchte, dass Sie Tucker eine Nachricht überbringen. Von mir.«

Dajkovic schaute nach wie vor verbissen drein.

»Richten Sie ihm aus, dass ich ihn vernichten werde, so wie er meinen Vater vernichtet hat. Es wird ganz langsam geschehen. Das Gutachten, das ich der Presse zugespielt habe, wird Ermittlungen nach sich ziehen. Bestimmt wird einer der Medienkonzerne ein Gesuch auf Akteneinsicht stellen, das bestätigen wird, dass das Dokument echt ist. Wenn die Wahrheit ans Licht kommt, Stück für Stück, wird das Tuckers Integrität beschädigen. Und in seiner Branche, auch wenn alle darin korrupt sind, ist der Anschein von Integrität Gold wert. Er wird erleben, wie seine Geschäfte austrocknen. Der arme Tucker. Wussten Sie eigentlich, dass er bis über beide Ohren verschuldet ist? Die Hypothek, die auf seiner geschmacklosen Fertighausvilla lastet, wird von ihm nicht mehr bedient. Und seine protzige Eigentumswohnung im Golfklub in den Poconos Mountains, das Apartment in New York und die Yacht an der New-Jersey-Küste sind ebenfalls bis oben hin mit Hypotheken belastet.« Crew schüttelte traurig den Kopf. »Wissen Sie, wie er seine Yacht nennt? Unbändiger Zorn. Ist doch komisch, oder? Es war die einzige Sternstunde des Weicheis Tucker. Die Poconos, die Fertighausvilla, die New-Jersey-Küste … einen guten Geschmack kann man dem General nicht absprechen, nicht wahr? Natürlich war die Freundin aus der piekfeinen Upper East Side ein Schritt in die richtige Richtung, aber sie ist ein hungriges kleines Vögelchen und sperrt Tag und Nacht den Schnabel auf. Er hat nichts gespart, so wie ein guter Junge das machen sollte. Doch die Insolvenz wird nur der Anfang sein, denn die Ermittlungen werden am Ende alles ans Licht bringen. Ich habe es Ihnen soeben gesagt: Tucker hat meinem Vater den Tod jener sechsundzwanzig Agenten angehängt, aber er selbst trägt die Schuld daran. Er wird hinter Gittern landen.«

Dajkovic merkte, wie Crew ihn musterte. Wieder sagte er nichts. Er sah, dass Crew frustriert war, weil er nicht reagierte.

»Ich möchte Ihnen eine andere Frage stellen«, sagte Crew schließlich.

Dajkovic wartete. Seine Chance kam, er spürte es in den Knochen.

»Haben Sie Tucker tatsächlich einmal unter Beschuss erlebt? Was wissen Sie von dem Mann als Soldat? Ich wette, dass Tucker seinen Fuß erst an Land gesetzt hat, als der Brückenkopf absolut sicher war.«

Dajkovic erinnerte sich, wie sehr es ihn enttäuscht hatte, dass Tucker als allerletzter Soldat auf Grenada landete. Aber er war General, einer der obersten Kommandeure, die Vorschriften des Heeres schrieben dieses Verhalten vor.

»Scheiß drauf«, sagte Crew und trat einen Schritt zurück. »Es war ein Fehler zu erwarten, dass Sie tatsächlich fähig sind, eigenständig zu denken. Aber Sie haben die Botschaft vernommen. Gehen Sie und liefern Sie sie ab.«

»Darf ich aufstehen?«

»Selbstverständlich, heben Sie Ihren bedauernswerten Hintern hoch und verschwinden Sie.«

Der Moment war gekommen. Dajkovic legte die Hände auf den Boden und begann aufzustehen. Und während die eine Hand den Stiefel passierte, zückte er das Messer und warf es in einer weichen Bewegung in Richtung Crews Herz.