30

Tom O’Brien aß das letzte Stück von den Chicken Nuggets – kalt und zäh – und blätterte geräuschvoll kauend in dem letzten Ausdruck. Dann spülte er den Bissen mit einem Schluck Kombucha runter. Sein winziges Büro war von Glühbirnen hell erleuchtet – fluoreszierendes Licht machte ihn depressiv – und mit Zeitungen, Büchern, Zeitschriften, Kaffeebechern, Tellern und Essensresten vollgestopft. Das einzige, vergitterte Fenster ging tagsüber in einen Luftschacht, aber nachts verwandelte es sich in einen beunruhigenden Spiegel der Aktivitäten im Büro. Irgendwann, dachte O’Brien, müsste er mal Jalousien anbringen.

Er hielt inne, hörte ein Quietschen, das er sofort erkannte: Der klebrige Türknauf an seiner Bürotür wurde gedreht. Blitzschnell zog er sein Taschenmesser und stellte sich mit klopfendem Herzen hinter die Tür.

Der Türknauf verharrte, langsam wurde die Tür aufgeschoben. O’Brien stand mit erhobenem Messer da, bereit zum Angriff.

»Tom?«, flüsterte eine Stimme.

»Jesses.« O’Brien ließ den Arm sinken, und Gideon trat ein. Doch das war gar nicht Crew. Er schrie auf, sprang zurück und zückte das Messer. »Wer zum Teufel …?«

»Hey, ich bin’s.«

»Verdammt, du siehst ja grauenhaft aus. Was fällt dir eigentlich ein, dich hier so reinzuschleichen? Und wie bist du überhaupt reingekommen? Das Gebäude ist nachts abgeschlossen. Oh, warte, sag’s mir nicht – alte Gewohnheiten sterben langsam, richtig?«

Gideon betrat das Zimmer, schloss und verschloss die Tür hinter sich, wischte ein paar Bücher von einem Stuhl und ließ sich darauf nieder. »Entschuldige bitte meine List. Es ist, genau genommen, zu deinem Schutz.«

O’Brien stöhnte. »Du hättest mich vorher anrufen sollen.«

»Ich mache mir Sorgen, dass die CIA involviert ist«, sagte Gideon. »Könnte sein, dass mein Telefon angezapft wird.«

»Ich dachte, du arbeitest für die Regierung.«

»Im Hause meines Vaters gibt es viele Zimmer.«

O’Brien klappte das Messer zu und steckte es wieder ein. »Du hast mir eine Heidenangst eingejagt.« Er musterte Gideon von oben bis unten. »Mann, du sieht aus, als hättest du jeden Tag rund um die Uhr fette Würstchen mit Milchshakes verdrückt.«

»Erstaunlich, was man mit Prothesen so alles machen kann. Wie läuft’s mit der Arbeit?«

»So einigermaßen.« O’Brien ging zum Tisch, auf dem stapelweise Papiere lagen, sah einen Stapel durch und zog mehrere Blätter heraus. »Schau dir das mal an.«

Gideon nahm die Blätter entgegen.

»Auf den ersten Blick sind die Zahlen nichts weiter als eine Liste.« Er hielt ihm ein weiteres Blatt unter die Nase. »Hier, das sind die Zahlen, genauso wie du sie mir gegeben hast. Außer dass ich sie in Dreiergruppen eingeteilt habe. Aber nachdem ich das getan hatte, kam ein bemerkenswertes Muster zum Vorschein. Sieh mal.«

871 050 033 022 014 010

478 364 156 002

211 205 197 150 135 101 001

750 250

336 299 242 114 009

917 052 009 008 004 003

500 278 100 065 057

616 384

370 325 300 005

844 092 060 001 001 001 001

»Was meinst du?«, sagte O’Brien und grinste Gideon amüsiert an. Aber Gideon erkannte das Muster nicht. Manche Leute waren eben doof, was Zahlen betraf.

»Was soll ich meinen?«

»Pass auf. Zehn Gruppen mit dreistelligen Zahlen. Sieh sie dir an. Das Muster müsste jeder Idiot erkennen.«

»Jede Zahlengruppe in absteigender Ordnung?«

»Ja, aber das ist nicht das Wichtige. Betrachte jede Gruppe – zähl sie zusammen.«

Langes Schweigen. »Oh, mein Gott.«

»Richtig. Jede Gruppe ergibt addiert eintausend.«

»Was bedeutet …?«

»Ich würde annehmen, dass es sich um Listen prozentualer Anteile handelt, von denen jede addiert tausend ergibt – oder hundert Prozent mit einer signifikanten Ziffer rechts vom Dezimalkomma. Es handelt sich um irgendeine Art Rezeptur: zehn Formeln, bestehend aus den Anteilen ihrer verschiedenen Elemente, die addiert hundert Prozent ergeben.«

»Hundert Prozent von was?«

»Es könnte sich um eine Formel für hochexplosive Sprengstoffe handeln, eine exotische metallurgische Formel, ein chemisches oder Isotopengemisch. Ich bin kein Chemiker oder Festkörper-Physiker, ich muss einen Fachmann hinzuziehen.«

»Schwebt dir da jemand vor?«

»Sadie Epstein. Sie unterrichtet Physik an der Columbia, Spezialgebiet: Analyse von metastabilen Quasikristallen.«

»Ist sie diskret?«

»Sehr. Aber ich werde ihr nicht viel erzählen.«

»Gib ihr die Zahlen und erfinde eine Geschichte dazu. Denk dir irgendetwas aus. Sag ihr, es handle sich um irgendeine Art Wettbewerb. Dass du eine Reise nach Oxford für die Isaac-Newton-Tagung im September gewinnen kannst.«

»Kannst du eigentlich nicht lügen? Du denkst dir Geschichten aus, auch wenn es gar nicht nötig ist.«

»Es macht mir keinen Spaß zu lügen.«

»Du bist der heilige Römische Kaiser der Lügner. Und seit wann bist du so flüssig? Normalerweise bist du immer ziemlich knapp bei Kasse. Wo wohnst du im Moment?«

»Ich ziehe in der Stadt herum. Gestern habe ich in einem Zwanzig-Dollar-Motel in Canarsie übernachtet. Heute schlafe ich im Waldorf. Morgen früh geht’s mit dem Flieger nach Hongkong.«

»Hongkong? Wie lange wirst du weg sein?«

»Nicht mehr als einen Tag. Ich komme vorbei, sobald ich wieder hier bin, mal sehen, was du herausgefunden hast. Aber ruf mich nicht an. Und sorge um Gottes willen dafür, dass diese Sadie Epstein den Mund hält.«