40

Tom O’Briens stoppelbärtiges Gesicht rutschte von seiner stützenden Handfläche weg, wodurch er unsanft aus dem Schlaf gerissen wurde. Schlaftrunken warf er einen Blick auf den Wecker: erst kurz nach zehn. Er hatte mehrere Stunden am Schreibtisch geschlafen, und beide Beine kribbelten. Es war wieder passiert: Er hatte sich derart in das Datenerfassungssystem Python vertieft, das er geschrieben hatte, dass er die Nacht durchgemacht und total vergessen hatte, ins Bett zu gehen.

Er gähnte, stand auf und massierte sich die Beine. Essen, das würde seine Lebensgeister wecken.

Er schob eine CD von Sacramentum ein, drehte die Lautstärke auf und tappte in die Küche. Dann schob er die Stapel schmutzigen Geschirrs zur Seite, um Platz zum Arbeiten zu haben, zog ein Baguette aus der Folie und schnitt es der Länge nach auf. Rasch bereitete er sich ein Sandwich: Erdnussbutter, geschnittene Banane, Mini-Marshmallows. Ein paar süßsauer eingelegte Gurken- und Peperonischeiben krönten das Werk. Er drückte die beiden Hälften des Sandwichs zusammen, steckte es sich unter den Arm, holte eine Literflasche Dr. Pepper aus dem Kühlschrank und ging in sein Büro zurück.

Er schrie auf vor Überraschung und Schreck beim Anblick eines Mannes in seinem Wohnzimmer. Flasche und Sandwich fielen gleichzeitig zu Boden, die Marshmallows und Gurken- und Peperonischeiben flogen in der Gegend herum. Dann sah er, dass es sich um Gideon Crew handelte.

»Mach so etwas nie wieder!«, schrie er seinen Freund an. »Wenn ich einem Herzinfarkt erliege, wer soll dann dein kleines Problem lösen?« Er kniete sich hin und begann, das Sandwich wieder zusammenzustellen, wobei er mehrere Katzenhaare von den Gurken- und Peperonischeiben zupfte.

»Unglaublich, dass du immer noch Erdnussbutter-und-Deli-Pickles-Sandwichs isst«, sagte Gideon. »Scheint dich ja nicht besonders zu interessieren, lange genug zu leben, um in den Genuss deiner Rente zu kommen.«

»Wegen mir mach dir mal keine Sorgen. Ich werde ja nicht von der Hälfte der Gorillas aus Langley verfolgt.« Er zog eine verdrießliche Miene. »Ich hatte noch keine Zeit, um mich weiter mit den Zahlen zu beschäftigen.«

»Nein? Und warum nicht?«

»Anders als manche Leute muss ich arbeiten, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen.«

»Ja. Als studentische Hilfskraft an der Columbia. Wann hörst du endlich mit dem Leben als ewiger Student auf und machst deinen Abschluss?«

»Und stellst dich dem wirklichen Leben?« Er biss vom Sandwich ab und ging ins Büro, Gideon im Schlepp. »Schau mal, es geht nicht nur um meine Arbeit, sondern um die Beschaffenheit deines Problems. Ich hab dir gesagt, es ist so, als hätte man ein Rezept ohne die Zutaten. Drei Esslöffel X, fünfzig Gramm Y und eine Prise Z. Ohne die Zutaten kann ich gar nichts machen! Da bin ich aufgeschmissen.«

»Es gibt noch etwas, wofür ich deine Hilfe benötige.«

»Gibt’s noch mal einen Tausender?«

Gideon ignorierte die Frage, griff in seine Manteltasche und zog eine DVD hervor. »Hierauf befindet sich ein Überwachungsvideo. Du musst ein Bild für mich vergrößern.«

O’Brien nahm die DVD. Sein Gesicht hellte sich auf. »Oh. Das ist leicht.«

Gideon zeigte mit gequälter Miene auf den CD-Player. »Bevor wir anfangen – kannst du das mal ausschalten? Wenn es eine krebserregende Musik gibt, dann diese.«

O’Brien blickte ihn mit gespieltem Entsetzen an. »Du magst keinen Death Metal?«

»Nicht mal, wenn du mich dafür zu einem Billigessen einlädst.« Gideon sah sich nach einem Platz zum Sitzen um, aber in dem winzigen, unglaublich vollgepackten Büro gab es nur einen Stuhl, auf dem bereits O’Brien saß. »Ich hab noch nie so viel Müll in einen so kleinen Raum gestopft gesehen. Wann wirfst du endlich einmal irgendwas von dem Kram weg?«

»Müll? Kram?« O’Brien schnaubte verächtlich und stellte den CD-Player leiser. »Alles hier drin ist absolut erforderlich für meine Arbeit. Zum Beispiel.« Indem er den Stuhl umdrehte, zog er ein graues metallenes Gerät von der Größe eines Schuhkartons herunter, das kippelig auf einem alten UNIX-Terminal stand, stellte es auf den Schreibtisch, stöpselte es ein und schloss es an seinen PC an.

»Was ist das?«, fragte Gideon.

»Ein VDT

»Ich wiederhole: Was ist das?«

»Ein digitaler Filmabtaster. Normalerweise wird er verwendet, um verschiedene Arten von Videomaterial von einem Format in ein anderes zu übertragen. Aber dieses besondere Modell ist ausgesprochen nützlich für forensische Videoarbeit.« Er stellte das Gerät an, drückte ein paar Knöpfe an dem winzigen LED-Display, dann steckte er Gideons DVD in den Schlitz. Während das Gerät surrte, biss er einen großen Happen von seinem Sandwich ab und doppelklickte ein Icon auf dem PC. »Ich fahre jetzt die Hostanwendung des VDT hoch.«

Auf dem Bildschirm erschien ein großes Fenster, darum herum mehrere kleinere Fenster, darunter eine Transportsteuerung zur Feinabstufung, eine Gammakorrektur sowie Hilfsprogramme zur Bildbearbeitung. »Wo ist es?«

»Geh einfach auf Play. Ich sage dir, wenn du beim Zielbild angekommen bist.«

O’Brien klickte auf den Vorwärts-Knopf im Fenster für die Transportsteuerung; auf dem Monitor erschien ein Bild. »Ein Flughafen«, sagte O’Brien. »Scheiße. Das ist ja ein Security-Band.«

»Und?«

»Die sind meistens von mieser Qualität. Außerdem stark komprimiert.«

Schweigend sahen sie eine Minute lang zu, wie ein besorgt dreinblickender Asiate das Bild durchquerte und sich einen Weg durch eine Gruppe Fluggäste bahnte.

»Das Band wurde ›hard-telecined‹«, sagte O’Brien und starrte auf den Monitor. »Ein Strich unter dreißig fps …«

»Da.« Gideon deutete auf den Bildschirm. »Etwas zurück, dann vorwärts, Bild für Bild.«

O’Brien spulte zurück bis zu dem Augenblick, in dem der Mann der Gruppe Passagiere begegnete, dann spielte er wieder vor.

»Langsamer bitte.«

O’Brien nahm einen langen Schluck aus der Dr. Pepper und hantierte mit der Transportsteuerung. »Ein Bild pro Sekunde.«

Gemeinsam sahen sie sich an, wie ein Junge in der Gruppe einen Teddybär fallenließ, eine Frau neben ihm den Teddy aufhob und zurückgab.

»Halt«, sagte Gideon. »Siehst du den Rucksack, den der Junge trägt?«

»Japp.« O’Brien spähte auf den flackernden Monitor.

»Ich möchte, dass du das klarste Bild von diesem Rucksack suchst und dann vergrößerst. Auf dem Rucksack ist irgendein Abzeichen. Ich möchte wissen, was daraufsteht.«

»Kein Problem.« O’Brien ließ die Bilder rückwärtslaufen, dann vorwärts, bis er die Einstellung gefunden hatte, auf der der Rucksack am deutlichsten zu erkennen war.

»Das ist sehr unscharf«, murmelte er. »Wer immer das hier für dich entschachtelt hat, hat ziemlich großen Mist gebaut.«

»Die Leute hatten kaum Zeit.«

»Ich muss die Zwischensprünge aus dem Bild rausbekommen, sonst können wir vor lauter Flimmern nichts mehr sehen.« O’Briens Finger huschten über die Tastatur. Das Bild im Hauptfenster verblasste, wurde größer.

»Was sind das für Balken über dem Bild?«, fragte Gideon.

»Das ist ein Zwei-zu-drei-Pulldown. Ich versuche, das auszugleichen.« Wieder tippte er eine blitzschnelle Folge von Befehlen ein. Das Bild wurde heller, stabilisierte sich. »Schon besser. Ich will mal eine Maske zur Unschärferegulierung drüberlegen.« O’Brien klickte sich mit der Maus durch eine Reihe von Untermenüs.

»Das ist ein Abzeichen mit einem Leitspruch«, sagte Gideon und musterte es.

O’Brien tippte und klickte, stellte das Bild noch schärfer.

»Pectus Est Quod Disertos Facit«, las Gideon vom Bildschirm ab.

»Was ist das? Latein?«

»Der Geist ist es, der den Redner macht«, sagte Gideon.

»Was für ein Schwachsinn«, meinte O’Brien und schüttelte betrübt den Kopf, weil der Satz so irre doof war. »Wer hat das denn gesagt?«

»Der Satz stammt aus den Reden des Quintilian. Aber das ist einfach nur pompös und so inhaltsleer, dass es auch als Leitspruch für eine Privatschule dienen könnte.« Er stand auf. »Danke, Tom.«

»Hey. Wie wär’s mit noch mal tausend Kröten?«

»Lass dir dein Sandwich schmecken. Ich melde mich.« Er blieb stehen, kurz bevor er zur Tür hinausging. »Von dem Arzt hast du vermutlich noch nichts gehört?«

»Oh, doch. Hab ich. Ich wollte es dir gerade erzählen.«

»Und?«

»Ich hoffe, die Röntgenbilder stammen nicht wirklich von einem Freund von dir.«

Gideon sah ihn an. »Warum sagst du das?«

»Weil der Typ laut Aussage des Doc im Arsch ist.«