48

Orchid trat aus dem kleinen Einkaufsladen in der 51. Straße und ging schnellen Schritts den Bürgersteig entlang in Richtung Park Avenue, öffnete die Packung Zigaretten, die sie gerade eben gekauft hatte, und warf die Zellophanhülle in einen Abfalleimer. Anstatt in ihr Apartment zurückzugehen, war sie, ganz wirr im Kopf, nur so in den Straßen herumgegangen. Sie war wütend und entschlossen. Gideon war furchtbar, ein echter Dreckskerl, aber er steckte offensichtlich in großen Schwierigkeiten. Das war ihr jetzt klar. Er brauchte Hilfe – und sie wollte ihm helfen. Sie würde ihn retten aus dieser Sache, die ihn verfolgte, ihn quälte, ihn dazu trieb, all diese bizarren Dinge zu machen.

Aber wie? Wie konnte sie ihm helfen?

Schwungvoll bog sie um die Ecke und schritt entschlossen die Park Avenue hinauf. Der uniformierte Doorman vor dem Waldorf öffnete ihr die Tür. Schwer atmend blieb Orchid in dem umwerfenden Foyer stehen. Nachdem sie sich schließlich wieder im Griff hatte, ging sie zum Empfangstresen und nannte dann die falschen Namen, unter denen Gideon und sie sich angemeldet hatten. »Ist Mr. Tell zurückgekehrt? Ich bin Mrs. Tell.«

»Ich rufe in seinem Zimmer an.« Der Empfangschef wählte, aber niemand ging ran.

»Ich warte in der Halle auf ihn«, sagte sie. Irgendwann musste er ja zurückkommen – seine Sachen waren ja noch alle hier. Sie öffnete die Packung Zigaretten, schüttelte eine heraus und steckte sie sich zwischen die Lippen.

»Verzeihen Sie, Mrs. Tell, Rauchen ist im Foyer nicht gestattet.«

»Ich weiß, ich weiß, ich geh nach draußen.« Sie zündete sich die Zigarette im Hinausgehen an, nur um ihn zu ärgern. Heftig paffend, ging sie auf dem Bürgersteig vor dem Hotel auf und ab. Als sie aufgeraucht hatte, warf sie dem Doorman die Kippe vor die Füße, fischte sich noch eine Zigarette aus der Handtasche und zündete sie sich an. Dabei hörte sie die leise Gitarrenmusik, die dieser Obdachlose vor der Saint Bart’s Kirche spielte. Um sich die Zeit zu vertreiben, überquerte sie die Straße, um zuzuhören.

Der Mann, der einen dünnen, unförmigen Trenchcoat anhatte, spielte Gitarre und sang dazu. Er saß mit übergeschlagenen Beinen da und zupfte die Saiten mit seinen Fingerpicks. Sein Gitarrenkasten lag offen neben ihm, darin ein paar zerknitterte Geldscheine.

Meet me Jesus meet me

Meet me in the middle of the air

If these wings should fail me Lord

Won’t you meet me with another pair

Der Typ spielte gar nicht so übel. Sein Gesicht konnte sie allerdings nicht erkennen. Er hatte sich über seine alte Gitarre gebeugt und trug einen braunen Fedora. Aber seine Stimme, die hörte sie, irgendwie rauh, voller Trauer und nach einem schweren Leben klingend. Damit konnte sie sich identifizieren. Sie fühlte sich traurig und glücklich zugleich. Einem Impuls folgend, griff sie in ihre Handtasche, zog einen Dollarschein hervor und ließ ihn in den Gitarrenkasten fallen.

Er nickte, sang aber weiter.

Jesus gonna make up

Jesus gonna make up

Jesus gonna make up my dyin’ bed

Der letzte melancholische Akkord verklang, dann war das Lied zu Ende. Er legte die Gitarre beiseite und hob den Kopf.

Es wunderte sie, dass er Asiate war und jung, ziemlich hübsch, seinem Gesicht fehlten die üblichen Anzeichen von Alkoholismus oder Drogensucht, seine Augen blickten klar und tief. Mehr noch: Ihr Instinkt verriet ihr, dass er trotz seiner schäbigen äußeren Erscheinung überhaupt kein Typ war, der auf der Straße lebte – sondern wahrscheinlich ein echter Musiker. Die abgerissenen Klamotten und der dreckige alte Fedora, die waren bestimmt nur Schau.

»Hey, Sie spielen ziemlich gut, wissen Sie das?«

»Danke.«

»Wo haben Sie so gut spielen gelernt?«

»Ich bin ein Jünger des Blues. Ich lebe den Blues.«

»Ja. Manchmal bin ich auch traurig.«

Er schaute sie an, bis sie rot wurde. Dann begann er, das Geld aus seinem Gitarrenkasten einzusammeln, stopfte es sich in die Tasche und verstaute die Gitarre. »Das reicht für heute«, sagte er. »Ich möchte im Starbucks um die Ecke einen Tee trinken. Hätten Sie Lust, mich zu begleiten?«

Hätten Sie Lust, mich zu begleiten? Der Typ studierte wahrscheinlich am Juillard, und hier draußen war er nur, um ein bisschen Geld zu verdienen und um ein freies Leben zu führen. Ja, so musste es sein. Dass er sie so höflich gefragt hatte, gefiel ihr, und sein Quasi-Undercover-Outfit fand sie auch gut. Irgendwo im Inneren war sie immer noch wütend auf Gideon. Sie wünschte, er könnte sie zusammen sehen; das würde ihm eine Lehre sein.

»Na klar«, sagte sie. »Warum nicht?«