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Nodding Crane saß an dem kleinen Tisch, nippte am grünen Tee und hörte der Frau beim Reden zu. Diese Gelegenheit war ihm direkt in den Schoß gefallen, und er wusste genau, wie er sie nutzen konnte, um Crew aus seinem Versteck hervorzulocken, ihn aus der Ruhe zu bringen, ihn wieder zurück in die Defensive zu drängen.
In der Tat, es war eine phantastische Chance.
»Sie sind heute schon mal an mir vorbeigegangen«, sagte er. »Ich habe Sie sofort bemerkt.«
»Ach ja, stimmt, bin ich.«
»Sie waren mit einem Mann zusammen – Ihrem Ehemann?«
Sie lachte. »Er ist nur ein Freund.« Sie beugte sich nach vorn. »Und Sie sind kein Mann, der auf der Straße lebt – hab ich recht?«
Nodding Crane blieb regungslos sitzen.
»Sie führen mich nicht an der Nase herum.« Sie zwinkerte. »Obwohl, ich muss schon sagen, es ist eine ziemlich gute Nummer.«
Er trank seinen Tee in kleinen Schlucken, so als sei nichts geschehen. Im Inneren war er jedoch tief beunruhigt. »Ein Freund? Ihr Freund?«
»Na ja, nicht wirklich. Eigentlich ist er ein komischer Typ.«
»Ach ja? Wieso denn?«
»Er hat behauptet, er sei Schauspieler, Produzent. Er verkleidet sich, wirft sich in Kostüme, geht los, gibt sich als jemand anders aus und schleppt mich dabei mit. Völlig irre. Er hat gesagt, er sei Schauspieler, aber ich glaube, er steckt in irgendwelchen Schwierigkeiten.«
»Was für Schwierigkeiten?«
»Wenn ich das nur wüsste! Ich würde ihm ja gern helfen, aber er lässt mich nicht. Er hat mich mit rauf nach Riverdale geschleppt, zu dieser piekfeinen Privatschule. Wir haben so getan, als wären wir die Eltern von irgend so einem Wunderkind, und da hat er irgendwelche Papiere mitgehen lassen – wieso, ist mir völlig schleierhaft. Und dann haben wir noch diesen verrückten Zimmertausch im Waldorf mitten in der Nacht durchgezogen.«
»Wie seltsam.«
»Ja, und dann hat er einen Freund im Krankenhaus besucht, und dabei hat sich herausgestellt, dass der Typ gestorben ist.«
Nodding Crane nippte an seinem Tee. »Klingt für mich so, als ob er in irgendwelche illegalen Geschäfte verstrickt ist.«
»Ich weiß nicht. Er macht einen ziemlich ehrlichen Eindruck auf mich. Ich weiß nur nicht, was dahintersteckt.«
»Wo ist er denn jetzt?«
Orchid zuckte mit den Achseln. »Er hat mich in der U-Bahn sitzenlassen, ist einfach rausgesprungen, hat gesagt, er ruft mich später an. Er kommt bestimmt zurück. Unsere ganzen Sachen sind noch im Hotelzimmer.«
»Sachen?«
»Ja. Er schleppt einen Koffer voller Verkleidungen mit sich herum. Und einen dieser Hartschalenkoffer, der ist immer verschlossen. Keine Ahnung, was da drin ist, er passt ziemlich genau auf ihn auf.«
»Ein Hartschalenkoffer? Im Hotelzimmer?«
»Ja, Hartschalenplastik. Er bewahrt ihn verschlossen im Gepäckraum des Waldorf auf.«
Sie plauderte weiter, völlig arglos. Als Nodding Crane alle Informationen aus ihr herausbekommen hatte, die er brauchte, brachte er das Thema wieder zurück auf sich. »Sie haben angedeutet, dass Sie glauben, ich hätte mich verkleidet. Was haben Sie damit gemeint?«
»Na, kommen Sie. Sehen Sie sich doch mal an.« Sie lachte und zog ihn damit auf. »Ich weiß, wer Sie wirklich sind.«
Er stand auf und sah auf die Uhr. »Gleich beginnt der Vespergottesdienst in Saint Bart’s.«
»Was? Sie gehen in die Kirche?«
»Ich gehe dahin, um die Musik anzuhören. Ich liebe gregorianische Gesänge.«
»Oh.«
»Hätten Sie Lust, mitzukommen?«
Orchid zögerte. »Na ja … sicher. Aber glauben Sie ja nicht, das ist ein Date.«
»Natürlich nicht. Ich würde mich über Ihre Gesellschaft freuen. Als Freund.«
»Also gut, warum nicht?«
Wenig später hatten sie die Kirche betreten. Die Tür war nicht verschlossen, aber der Altarbereich war leer und, weil es draußen dämmerte, dunkel.
»Wo ist die Musik?«, fragte sie. »Hier ist niemand.«
»Wir sind ein wenig früh dran«, sagte Nodding Crane. Er fasste ihren Arm und führte sie sanft den Mittelgang hinunter in den dunkelsten der Chorstühle in der Nähe des Altars. »Hier haben wir einen guten Platz.«
»Okay.« Ihre Stimme klang zweifelnd.
Nodding Crane hatte die rechte Hand in die Manteltasche geschoben. Die Picks waren immer noch an seinen Fingern. Während sie in den Schatten der Kanzel traten, zog er die Hand aus der Tasche.
»Ich kann hören, wie Ihre Picks klicken.«
»Ja«, sagte er. »Ich höre ständig Musik. Höre immer den Blues.« Er hob die Hand, die Finger zogen an ihrem Gesicht vorbei, die Fingerpicks glänzten schwach in dem matten Licht, und dann begann er ganz leise zu singen.
In my time of dyin’
Don’t want nobody to mourn
All I want for you to do
Is to take my body home