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Aus der Dunkelheit ertönte ein einzelner Schuss. Gideon spürte nichts, keinen Schmerz, keinen Aufprall einer Kugel. Er riss die Augen auf. Zunächst schien sich nichts geändert zu haben. Dann aber sah er den leeren Ausdruck in Mindys Gesicht, das Einschussloch zwischen ihren Augen. Einen Augenblick lang stand sie da, dann stürzte sie nach hinten in den Morast.

Gideon schnappte sich den Draht aus ihrer zuckenden Hand und rannte los.

Weitere Schüsse fetzten durch die Tribünensitze, so dass Holzsplitter und Grünzeug auf ihn herabprasselten. Er trat durch die rückwärtige Seite der Tribünen ins Freie und begab sich auf kürzestem Weg zum Boot. Nur so hatte er eine Chance zu überleben.

Vor ihm erstreckte sich das postapokalyptische Vorstadtviertel. Er spurtete durch die überwucherten, zerstörten Straßen, bog um eine Ecke, dann noch eine. Er hörte, wie Nodding Crane hinter ihm hergelaufen kam und langsam aufholte.

In ein Haus zu gehen würde bedeuten, in der Falle zu sitzen. Und davonlaufen konnte er seinem Gegner auch nicht. Und da wurde ihm klar, dass er niemals bis zum Boot kommen würde.

An der nächsten Straße machte er kehrt und lief um mehrere Ecken, um seinem Verfolger keine freie Schussbahn zu bieten. Er hatte keine Waffe, keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Er hätte Mindys 45er mitnehmen sollen, aber er hatte sich entscheiden müssen: entweder der Colt oder der Draht. Es war keine Zeit gewesen, beides mitzunehmen.

Nodding Crane kam unaufhaltsam näher. Und Gideon keuchte so schwer, dass er das Gefühl hatte, seine gebrochenen Rippen würden ihm die Lunge durchbohren. Was jetzt?

Die letzte Straße endete. Geradeaus lag das offene Feld neben dem Maschinenraum. Hier war er schon einmal gewesen. Das war das Gebiet, um das der Wachmann einen weiten Bogen gemacht hatte. Das Betreten des Feldes ist verboten, hatte er gesagt. Es gibt auf der Insel eine Menge gefährliche Orte.

Worin bestand hier die Gefahr? Vielleicht bot das Feld ja doch eine Chance. Es war garantiert seine letzte.

Er spurtete mitten über die Fläche, im Zickzack. Er hörte, dass Nodding Crane die Lücke schloss, aber der machte sich gar nicht die Mühe, stehen zu bleiben und zu schießen, sondern nutzte die Gelegenheit, so nahe heranzukommen, dass er sein Ziel nicht verfehlen konnte. Gideon blickte zurück. Und tatsächlich, dort sah er die laufende Gestalt, jetzt nur noch fünfzig Meter entfernt.

Als er das Feld zur Hälfte überquert hatte, wurde Gideon klar, dass er einen schweren Fehler begangen hatte. Er würde es niemals bis zum anderen Ende schaffen, und hier gab es nichts, das irgendeine Chance zur Flucht bot, keine unerwartete Gefahr, kein Hinweis auf Gruben oder alte Gebäude. Nur ein großes verdammtes Feld ohne Deckung. Der Boden war fest und eben. Es war ein Wettrennen – und Nodding Crane war der bessere Läufer.

Er schaute zurück und rannte so schnell er konnte. Nodding Crane war jetzt nur noch dreißig Meter entfernt.

Während Gideon den Kopf in Richtung des unerreichbaren anderen Endes des Feldes wandte, fiel sein Blick auf den riesigen, bröckeligen Schornstein, der aus dem Maschinenraum emporragte. Plötzlich war ihm alles klar. Die Gefahr lauerte gar nicht auf dem Feld selbst, sondern ging vom Schornstein aus. Er war alt und instabil. Das war der Grund, warum der Wachmann einen Umweg gemacht hatte: Der verdammte Schornstein sah aus, als könnte er jeden Moment einstürzen.

Eine alte Treppe führte spiralförmig bis zur Spitze.

Gideon bog mitten im Lauf ab und rannte auf den Schornstein zu. Er bahnte sich mit den Händen einen Weg durch das Unterholz und kam unten am Schlot an, wo er einen Moment zögerte. Das hier war eine Fahrt ins Nirgendwo – ohne Wiederkehr.

Scheiß drauf.

Er sprang auf die verrostete Treppe und begann hinaufzusteigen. Hinter ihm ertönten drei Schüsse, sie krachten in die Ziegelsteine um ihn herum und ließen Splitter und Staub herabregnen. Doch die Treppe führte spiralförmig um die Rundung des Schornsteins herum, wodurch er Deckung hatte.

Die Treppe war alt und rostig. Beim Hinaufsteigen knarrte und quietschte sie, nachgebend und schwankend bei jedem Schritt, während der Rost wegen der plötzlichen Belastung auf ihn herabrieselte. Als eine Stufe brach, packte er das Geländer, schwang kurz in die Luft und fand die Balance wieder. Er packte die nächste Stufe und zog sich wieder hoch.

Während er höher und höher stieg, hörte er unter sich ein metallisches Ächzen und spürte eine neuartige Schwingung. Nodding Crane nahm die Verfolgung auf.

Natürlich. Es war ein törichter Schritt. Sein Gegner würde ihn bis zur Spitze des Schornsteins jagen und ihn dann von unten erschießen.

Während des Aufstiegs spürte er den Schlot im böigen Wind vibrieren, hörte das Knirschen und Knacken zerbröckelnden Mörtels.

Und da ging ihm ganz allmählich auf, was für ein Wahnsinn es war, was er da vorhatte. Der Sturm schüttelte den gesamten Schornstein, was sich anfühlte, als stürze er im nächsten Augenblick ein. Gideon konnte sich keinen Ausgang des Geschehens vorstellen, bei dem er die Jagd bis an die Spitze überleben würde.

Ein einzelner Schuss ertönte, die Kugel streifte das Geländer neben seiner Hand. Er kraxelte schneller nach oben und nutzte die Treppe weiter als Deckung. Ein Blitzschlag erhellte die gespenstische Szene: die Insel, die Ruinen, der bröckelnde Schornstein, die marode Treppe, das sturmumtoste Meer dahinter.

»Crew!«, erschallte ein Ruf von unten. »Crew!« Nodding Cranes eigenartige, ausdruckslose Stimme drang durch den heulenden Wind.

Er blieb stehen und lauschte. Der Schornstein ächzte, knackte und schwankte im Wind.

»Du sitzt in der Falle, du Narr! Komm mit dem Draht runter, dann lasse ich dich am Leben!«

Gideon kletterte weiter. Noch ein Schuss ertönte, aber er ging weit daneben, und da merkte er, dass Nodding Crane unglaublich viel Mühe haben musste, angesichts des schwankenden Schornsteins, des heulenden Windes und des strömenden Regens genau zu zielen. Und da war noch etwas: Er meinte, einen Anflug von Angst aus der Stimme des anderen herausgehört zu haben. Was auch kein Wunder war – und so etwas wie einen Fortschritt bedeutete.

Merkwürdigerweise verspürte Gideon selbst keine Angst. Das hier war das Ende – es war schlechterdings nicht möglich, von diesem Schornstein lebend herunterzukommen. Aber spielte das eine Rolle? Sein Schicksal war ohnehin schon besiegelt.

Bei diesen Gedanken empfand er eine seltsame Erleichterung. Das war seine Geheimwaffe gewesen, die, der Nodding Crane sich nicht bewusst war: Er war ein Mann, dessen Uhr ablief.

Während er höher kletterte, brausten um ihn herum heftigere Windböen, mitunter so stark, dass sie ihn fast von der Treppe fegten. Wieder zuckte ein Blitz vom Himmel herab, der Donnerschlag folgte sogleich. Gideon hörte ein Kreischen von Metall, als sich ein Abschnitt der Treppe vom Schornstein löste. Die Nieten sprangen knallend ab, ähnlich wie Gewehrfeuer, gleichzeitig schwang der losgelöste Bereich weit hinaus über die gähnende Tiefe. Gideon hielt sich am Geländer fest. Er packte das Metall mit aller Kraft, als der Wind ihn zurück gegen die Ziegel schleuderte. Das Eisen hielt, bis die wilden Schwingungen der Treppe schließlich nachließen. Er fand Halt, kam mit den Füßen wieder auf die wankenden Eisenstufen und kletterte weiter.

Er blickte auf, als ein Blitz einschlug. Er befand sich ungefähr auf halber Höhe.

Er musste weiter, um zu verhindern, dass sein Gewicht allzu lange auf einer der verrosteten Stufen verweilte, und gleichzeitig auf der von Nodding Crane abgewandten Seite des Schornsteins bleiben.

»Crew!«, ertönte es von unten. »Das ist Selbstmord!«

»Das gilt für uns beide!«, schrie Gideon zurück. Und es war tatsächlich Selbstmord. Ob der Schornstein nun umstürzte oder nicht, er konnte die Treppe nicht wieder zurück nach unten gehen; sie war mittlerweile zu beschädigt. Außerdem saß er in Nodding Cranes Falle. Er hatte keine Waffe. Sobald er oben eingetroffen war, würde der Gegner an ihn herankommen, und das wär’s dann.

»Crew! Du bist verrückt!«

»Darauf kannst du wetten!«

Der Schornstein erschauerte unter einer besonders heftigen Windböe, worauf abermals ein Schauer aus Ziegelsteinen auf Gideon herabprasselte. Er drückte sich an den Schornstein, während die Ziegel laut scheppernd von den Stufen abprallten. Er blickte nach unten, aber Nodding Crane befand sich außer Sichtweite, hinter der Rundung des Schornsteins. Die Blitze schlugen inzwischen fast ununterbrochen ein und ließen alle paar Sekunden einen Blick zu.

Er schaute nach oben. Er war jetzt beinahe an der Spitze angelangt. Um den Rand des mächtigen Schornsteins führte ein schmaler eiserner Laufsteg, bei dem die Gitterstreben zur Hälfte fehlten. Und er war bedrohlich schief. Gideon drängte weiter, einen Fuß nach dem anderen aufsetzend, und klammerte sich mit aller Kraft an das Geländer.

Und mit einem Mal war er ganz oben im heulenden Sturm. Er krabbelte durch eine Öffnung auf die eiserne Plattform, wobei er sich wegen der Neigung festhalten musste. Am Rand waren Ziegel abgebrochen, was dem Schornstein das Aussehen von schartigen schwarzen Zähnen verlieh. Die Öffnung des Schlots war von einem schweren Gitterrost bedeckt, das die Flugasche zurückhalten sollte, und zwei Messing-Drosselklappen standen offen, ähnlich wie gigantische Fledermausflügel. Ein seltsames hohles Klagen erhob sich aus dem Inneren des Schornsteins wie aus der Kehle irgendeines primitiven, urzeitlichen Ungeheuers.

Es gab keinen Ort, an den er fliehen konnte.

Einer von uns wird auf Hart Island sterben. So hast du es geplant, und so muss es sein.