II.

Gideon Crew

12

Einem alten Saumpfad folgend, bahnte sich Gideon Crew einen Weg den steilen Berghang in Richtung Chihuahuenos Creek hinunter. Die tiefen Becken und Tümpel des Gebirgsbachs, der sich durch die Wiese unten im Tal schlängelte, waren schon zu sehen. In über 3000 Meter Höhe war die Juniluft klar und frisch, der azurblaue Himmel voller Quellwolken.

Bestimmt gibt es später ein Gewitter, dachte er.

Die rechte Schulter schmerzte noch ein wenig, aber in der vergangenen Woche waren die Fäden gezogen worden, und jetzt konnte er den Arm wieder frei bewegen. Die Messerwunde war tief, aber sauber gewesen. Die leichte Gehirnerschütterung, die er sich beim Gerangel mit Dajkovic zugezogen hatte, hatte keine weiteren Probleme verursacht.

Er trat ins Sonnenlicht und blieb stehen. Es lag nun einen Monat zurück, dass er in diesem kleinen Tal geangelt hatte – unmittelbar bevor er nach Washington aufgebrochen war. Er hatte auf spektakuläre Art und Weise das eigenartige, übergeordnete und geradezu zwanghaft verfolgte Ziel seines Lebens erreicht. Es war vorbei. Tucker war tot, seine Schandtat öffentlich gemacht, das Ansehen seines Vaters wiederhergestellt.

In den vergangenen zehn Jahren war Gideon so fixiert auf dieses eine Ziel gewesen, dass er alles andere vernachlässigt hatte – Freunde, eine Beziehung, das Fortkommen im Beruf. Und jetzt, da er ans Ziel gekommen war, empfand er eine ungeheure Befreiung. Freiheit. Endlich konnte er beginnen, ein richtiges Leben zu führen, es zu genießen. Er war erst dreiunddreißig, fast das ganze Leben lag noch vor ihm. Es gab noch so vieles, was er tun wollte.

Angefangen damit, die riesige Cutthroat-Forelle zu angeln, die mit Sicherheit in dem großen Tümpel dort unten lauerte.

Gideon atmete tief den Duft nach Gras und Kiefern ein und versuchte, die Vergangenheit zu vergessen und sich auf die Zukunft zu konzentrieren. Er blickte sich um und nahm die Landschaft in sich auf. Dies war sein Lieblingsort auf dem Planeten Erde. Niemand angelte in dieser Gegend, nur er. Denn sie lag weitab von den Waldwegen und erforderte eine lange, anstrengende Wanderung. Die wilden Cutthroats hielten sich gern in den tiefen Becken und an den Ufern auf, sie waren lebhaft und scheu und schwierig zu angeln. Eine falsche Bewegung, der Schatten einer Fliegenrute auf dem Wasser, der feste Tritt eines Schuhs auf dem morastigen Gras – und schon waren die Aussichten für den Rest des Tages gleich null.

Gideon setzte sich mit gekreuzten Beinen ins Gras, weit weg von dem Gebirgsbach, legte seinen Rucksack ab und stellte die Fliegenrutentasche auf den Boden. Er schraubte den Deckel ab, zog die einzelnen Steckteile aus Bambus heraus und fügte sie zusammen, befestigte dann die Rolle, fädelte die Schnur durch die Ösen und durchsuchte die Tasche schließlich nach der richtigen Fliege. Es gab auf dem Feld wenig Grashüpfer, aber immerhin so viele, dass ein paar vielleicht ins Wasser gesprungen und gefressen worden waren. Ein Grashüpfer würde deshalb einen glaubhaften Köder abgeben. Er entnahm der Tasche eine kleine grün-gelbe Grashüpfer-Fliege und befestigte sie. Er ließ Rucksack und Ausrüstung am Rand der Wiese liegen und schritt vorsichtig durch das Gras, wobei er darauf achtete, so leicht wie möglich aufzutreten. Als er sich dem ersten großen Becken näherte, ging er in die Hocke, warf die Angel mit einem Ruck aus und gab ein wenig Leine. Dann tauchte er, mit einem kurzen Schnappen des Handgelenks, die Fliege leicht ins Becken.

Beinahe augenblicklich strudelte das Wasser, und er hatte einen Biss.

Gideon sprang auf, hob die Angelrute, legte Spannung auf die Schnur und rang mit dem Fisch. Es war ein großer, ein Kämpfer, der sich in ein Wurzelgestrüpp unter dem Ufer flüchten wollte. Während Gideon die Spitze weiter anhob, erhöhte er gleichzeitig mit Hilfe des Daumens den Zug an der Schnur und hielt die Forelle dadurch in der Mitte des Beckens. Er gab Leine, und da durchstieß die Forelle aufblitzend die Wasseroberfläche, sprang hoch und schüttelte sich, dass die Wassertropfen in der Sonne funkelten. Auf ihrem muskulösen, strahlend farbigen Leib spiegelte sich das Sonnenlicht, der rote Strich unter den Kiemen wirkte fast wie Blut; und dann ließ sie sich zurück ins Wasser fallen und versuchte wieder zu fliehen. Abermals erhöhte Gideon den Zug, aber die Forelle wollte unbedingt in das Wurzelwerk am Ufer gelangen und bekämpfte Gideon bis zu dem Punkt, an dem das Vorfach fast bis zur Grenze der Belastbarkeit gespannt war …

»Dr. Gideon Crew?«

Erschrocken wandte sich Gideon um und gab die Leine frei. Sofort nutzte der Fisch die Gelegenheit und floh zum Gestrüpp der unter Wasser liegenden Wurzeln. Gideon versuchte, nachzusetzen und mehr Spannung auf die Leine zu bringen, aber zu spät. Das Vorfach hatte sich bereits im Wurzelwerk verheddert, die Forelle riss sich los, und die Spitze der Angelrute schnellte nach oben, die Schnur hing schlaff herab.

Vor Verärgerung überwältigt, blickte er den Mann wütend an, der dort ungefähr sieben Meter hinter ihm stand, bekleidet mit einer gebügelten Khakihose, einem karierten Hemd und einer Sonnenbrille. Er war nicht mehr ganz jung, in den Fünfzigern, hatte graumeliertes Haar, einen olivenfarbenen Teint und ein Gesicht, das müde wirkte. Und ein wenig vernarbt, so als hätte er einen Brand überlebt. Und doch wirkten die Gesichtszüge bei aller Müdigkeit auch sehr lebendig.

Mit einem gemurmelten Fluch kurbelte Gideon die schlaffe Schnur zurück und untersuchte das flatternde Vorfach. Dann blickte er wieder zu dem Mann auf, der, ein leises Lächeln auf den Lippen, geduldig wartete. »Wer sind Sie?«

Der Mann trat vor und streckte die Hand aus. »Manuel Garza.«

Gideon sah den Mann stirnrunzelnd an, bis der die Hand zurückzog. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie in Ihrer Freizeit störe«, sagte Garza. »Aber die Angelegenheit kann nicht warten.« Er lächelte weiter, blieb aber unnatürlich gefasst. Das ganze Gebaren des Mannes strahlte Ruhe und Selbstbeherrschung aus. Gideon fand das irritierend.

»Wie haben Sie mich gefunden?«

»Durch eine begründete Vermutung. Wir wissen, dass Sie manchmal hier angeln. Außerdem haben wir, als Sie das letzte Mal mit dem Handy telefoniert haben, Ihre Position geortet.«

»Dann sind Sie also Big Brother. Also, worum geht’s bei der Angelegenheit?«

»Ich kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht mit Ihnen darüber sprechen.«

Handelte es sich hier womöglich um eine Art Bumerang, der aus der Sache mit Tucker zu ihm zurückkehrte? Aber nein: Das war alles aus und vorbei, erledigt, ein uneingeschränkter Erfolg, die offiziellen Fragen alle beantwortet, er und sein Familienname reingewaschen. Gideon sah demonstrativ auf die Uhr. »Cocktailstunde ist um sechs Uhr in meiner Hütte. Sie wissen sicherlich, wo sie liegt. Bis dann. Ich möchte jetzt wieder angeln.«

»Es tut mir leid, Dr. Crew, aber, wie gesagt, die Angelegenheit kann nicht warten.«

»Die Angelegenheit? Was für eine Angelegenheit?«

»Es geht um einen Job.«

»Danke, aber ich habe schon einen. Oben in Los Alamos. Sie wissen schon – da, wo all die netten Atombomben entwickelt werden.«

»Ehrlich gesagt ist unser Job aufregender und wird auch sehr viel besser bezahlt. Hunderttausend Dollar für eine Woche Arbeit. Ein Auftrag, für den Sie einzigartig geeignet sind und der unserem Land nutzen wird. Und Sie brauchen weiß Gott Geld. All diese Kreditkartenschulden …« Garza schüttelte den Kopf.

»Hey, was ist denn so schlimm daran, seine Kreditlinie auszureizen? Wir leben im Land der Freiheit, oder?« Gideon zögerte. Das war viel Geld. Und er brauchte welches, unbedingt. »Also. Was habe ich in Ihrem Job zu tun?«

»Nochmals, das kann ich Ihnen noch nicht sagen. Der Hubschrauber wartet oben. Er fliegt Sie zum Flughafen Albuquerque, von dort geht’s dann mit einem Privatjet zu Ihrem Auftraggeber.«

»Sie sind mit einem Helikopter hierhergekommen, um mich abzuholen? Meine Güte!« Gideon erinnerte sich vage, den Helikopter gehört zu haben. Aber er hatte ihn nicht weiter beachtet; die entlegenen Jemez Mountains wurden oft vom Luftwaffenstützpunkt in Kirtland für Trainingsflüge genutzt.

»Wir müssen uns beeilen.«

»Immer mit der Ruhe. Wen repräsentieren Sie?«

»Das darf ich Ihnen auch nicht verraten.« Wieder ein Lächeln und eine Geste mit dem Arm, Handfläche geöffnet, zum Saumpfad, der zur Hochebene führte. »Wollen wir?«

»Meine Mama hat mir gesagt, niemals zu Fremden in den Hubschrauber zu steigen.«

»Dr. Crew, ich wiederhole, was ich eben gesagt habe. Sie dürften den Job sehr interessant, herausfordernd und lukrativ finden. Wollen Sie nicht wenigstens mit mir in unser Unternehmen kommen und sich die Details anhören?«

»Wo ist Ihre Firma denn ansässig?«

»In New York City.«

Gideon blickte ihn an, dann schüttelte er den Kopf. Aber hunderttausend, das wäre kein schlechtes Startkapital für die vielen Pläne und Ideen, die er für sein neues Leben geschmiedet hatte.

»Ist die Angelegenheit illegal?«

»Ganz und gar nicht.«

»Ach, was soll’s? Ich war schon eine Weile nicht mehr im Big Apple. Also gut, gehen Sie voran, Manuel.«