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Nachdem Gideon aufgelegt hatte, kleidete er sich rasch aus. Er schob die Tür zum begehbaren Kleiderschrank auf und legte einen Kleidersack aufs Bett. Er holte ein duftendes, maßgeschneidertes Turnbull-&-Asser-Hemd daraus hervor, streifte es über seinen schlanken Oberkörper und knöpfte es zu. Als Nächstes kam ein blauer Anzug von Thomas Mahon dran. Er zog die Hose an, schloss den Gürtel, band sich eine geblümte Krawatte von Spitalfield (woher hatten die Engländer bloß diese Namen?), zog den Knoten mit kurzem Ruck zu und streifte die Jacke über. Er gab etwas Haargel auf die Handflächen und strich sich das Haar nach hinten. Zum Abschluss kämmte er ein ganz klein wenig graue Haartönung in die Koteletten, was ihn im Handumdrehen fünf Jahre älter aussehen ließ.
Er drehte sich um und betrachtete sich im Spiegel. 3200 Dollar für das neue Ich – Hemd, Anzug, Schuhe, Gürtel, Krawatte, Haarschnitt –, 2900 für Reisekosten, Motel, Auto und Chauffeur. Bezahlt hatte er das alles mit vier brandneuen Kreditkarten, die er sich zu ebendiesem Zweck besorgt und bis auf den letzten Dollar ausgereizt hatte, wobei allerdings so gut wie keine Hoffnung bestand, dass die Kredite je zurückgezahlt werden würden.
Willkommen in Amerika.
Der Wagen wartete bereits vor dem Motel, ein schwarzer Lincoln Navigator. Gideon setzte sich in den Fond und nannte dem Chauffeur die Adresse. Er ließ sich ins weiche Nappaleder sinken, während der Wagen anfuhr, fasste sich und versuchte, nicht an den Preis, nämlich 300 Dollar pro Tag, zu denken. Und übrigens auch nicht an den sehr viel höheren Preis, den er zu zahlen hätte, sollte man ihn bei seinem Schwindel erwischen …
Weil nur leichter Verkehr herrschte, bog der Wagen eine halbe Stunde später auf die Zufahrtsstraße von Fort Belvoir, in dem das Direktorium für Informationsmanagement von INSCOM untergebracht war: ein niedriges, außerordentlich hässliches Gebäude aus den sechziger Jahren inmitten von Robinien und umgeben von einem extrem großen Parkplatz.
Irgendwo in dem Gebäude saß Lamoine Hopkins und schwitzte bestimmt schon Blut und Wasser. Und an irgendeiner anderen Stelle in dem Haus befand sich das geheime, von Gideons Vater verfasste Gutachten.
»Fahren Sie vor den Haupteingang und warten Sie auf mich«, sagte Gideon. Seine Stimme klang, wie ihm selbst auffiel, ein wenig piepsig vor lauter Nervosität.
»Entschuldigen Sie, Sir, aber das da ist ein Halteverbotsschild.«
Gideon räusperte sich und entgegnete ruhig und selbstbewusst: »Wenn jemand fragt, sagen Sie, Kongressabgeordneter Wilcyzek ist mit General Moorehead in einer Besprechung. Aber wenn darauf bestanden wird, machen Sie keine Szene, fahren Sie einfach weiter und stellen den Wagen irgendwo ab. In spätestens zehn Minuten dürfte ich hier fertig sein.«
»Ja, Sir.«
Gideon stieg aus und ging den Fußgängerweg entlang, schob die Eingangstür auf und steuerte auf den Empfangs-/Informationstresen zu. Die weiträumige Lobby war voll von militärischem Personal und wichtigtuerischen Zivilisten, die mit langen Schritten hin und her eilten. Mein Gott, wie sehr er Washington hasste.
Kühl lächelnd trat Gideon vor die Frau an einem der Empfangstresen. Sie hatte sorgfältig frisiertes, bläulich gefärbtes Haar und sah aus wie aus dem Ei gepellt; eindeutig eine Prinzipienreiterin – eine, die ihre Arbeit extrem wichtig nahm. Konnte nicht besser sein. Wer sich strikt an die Vorschriften hielt, war besonders leicht zu berechnen.
Er lächelte und sagte dabei nur ein paar Zentimeter über ihren Kopf hinweg: »Kongressabgeordneter Wilcyzek, ich bin mit dem Stellvertretenden Kommandanten General Thomas Moorehead verabredet. Ich bin …«, er sah auf die Uhr, »… drei Minuten zu früh dran.«
Blitzartig richtete sie sich auf. »Selbstverständlich, Herr Kongressabgeordneter, einen Augenblick bitte.« Sie nahm den Telefonhörer zur Hand, drückte einen Knopf, sprach einen Moment. Dabei warf sie Gideon einen kurzen Blick zu. »Entschuldigen Sie, Herr Kongressabgeordneter, aber könnten Sie bitte Ihren Namen buchstabieren.«
Er seufzte ein wenig verärgert und kam ihrem Wunsch nach, wobei er ihr überdeutlich zu verstehen gab, dass sie den eigentlich kennen müsste. Mehr noch: Er zeigte das Gebaren eines Mannes, der erwartete, erkannt zu werden, eines Menschen, der nichts als Verachtung für all jene empfand, die ihn nicht kannten.
Sie schürzte die Lippen und sagte erneut etwas in den Telefonhörer. Es folgte ein kurzes Gespräch, dann legte sie auf. »Herr Kongressabgeordneter, es tut mir schrecklich leid, aber der General ist heute nicht im Hause, und seine Sekretärin hat keinen entsprechenden Eintrag in ihrem Terminkalender gefunden. Sind Sie sicher …?« Sie stockte, als Gideon sie mit strengem Blick fixierte.
»Ob ich sicher bin?« Er hob eine Augenbraue.
Inzwischen waren die Lippen der Empfangsdame vollständig geschürzt, und ihre blaustichigen Haare bebten beinahe vor unterdrücktem Beleidigtsein.
Er sah auf die Uhr und blickte dann zu der Empfangsdame auf. »Mrs. …?«
»Wilson.«
Er zog ein Blatt Papier aus der Hosentasche und reichte es ihr. »Sehen Sie selbst.«
Die E-Mail hatte er sich ausgedacht, angeblich geschrieben von der Sekretärin des Generals. Darin wurde der Termin mit dem General, von dem Gideon bereits wusste, dass er nicht anwesend sein würde, bestätigt. Mrs. Wilson las sie und reichte ihm das Blatt Papier zurück. »Es tut mir sehr leid, aber er ist offenbar nicht im Hause. Soll ich seine Sekretärin noch einmal anrufen?«
Gideon blickte sie weiterhin böse an, musterte sie mit eiskaltem Blick. »Ich möchte gern selbst mit seiner Sekretärin sprechen.«
Die Empfangsdame gab klein bei, nahm den Hörer von der Gabel und reicht ihn Gideon, aber vorher wählte sie noch die Nummer.
»Entschuldigen Sie, Mrs. Wilson, aber es handelt sich um eine Geheimsache. Ich muss doch sehr bitten.«
Jetzt wurde ihr Gesicht, das nach und nach errötet war, vollends puterrot. Schweigend stand sie auf und trat einen Schritt vom Informationstresen weg. Gideon legte den Hörer ans Ohr. Es klingelte, aber dann drückte er, während er sich umdrehte, um der Empfangsdame den Blick zu verstellen, einen Knopf und wählte, fast unmerklich, eine andere Nummer – die Durchwahl zur Sekretärin des Direktors General Shorthouse.
Nur die obersten drei Leute in der Organisation erhalten das Passwort – der Direktor, der stellvertretende Direktor und der Sicherheitschef …
»Büro des Direktors«, ließ sich die Stimme der Sekretärin vernehmen.
Leise und rasch sagte Gideon, in der Stimmlage des Mannes, den er am Vorabend an der Mülltonne angesprochen hatte: »Lamoine Hopkins aus der IT-Abteilung. Ich erwidere den Anruf des Generals. Es handelt sich um eine dringende Angelegenheit – eine Sicherheitslücke.«
»Einen Augenblick bitte.«
Er wartete. Nach einer Minute war General Shorthouse am Apparat. »Ja? Wo liegt das Problem? Ich habe Sie nicht angerufen.«
»Es tut mir leid, General«, sagte Gideon in Hopkins’ Tonfall, aber jetzt mit leiser, salbungsvoller Stimme, »dass Sie heute einen so schlechten Tag haben.«
»Wovon reden Sie, Hopkins?«
»Ihr System hat sich aufgehängt, Sir, aber der Ersatzrechner ist nicht eingesprungen.«
»Mein System hat sich nicht aufgehängt.«
»General? Unsere Rechner zeigen, dass sich Ihr gesamtes Netzwerk aufgehängt hat. Damit liegt ein Verstoß gegen die Sicherheitsbestimmungen vor, Sir, und Sie wissen ja, was das bedeutet.«
»Das ist doch lächerlich. Mein Computer ist momentan eingeschaltet und funktioniert tadellos. Und warum rufen Sie mich vom Empfang aus an?«
»General, das ist Teil des Problems. Die Telefonie-Matrix ist mit dem Computer-Netzwerk verknüpft und zeigt falsch an. Loggen Sie sich bitte aus und wieder ein, während ich die Sache verfolge.« Gideon blickte zur Empfangsdame hin, die immer noch ein wenig abseits stand und sich gewissenhaft bemühte, nicht zu lauschen.
Gideon hörte Tastaturgeklapper. »Fertig.«
»Komisch, ich sehe unter Ihrer Netzwerk-Adresse keine Aktivität von Datenpaketen. Versuchen Sie noch mal, sich abzumelden.«
Wieder Tastengeklapper.
»Nichts, General. Sieht so aus, als könnte Ihre ID-Nummer gefährdet sein. Das ist schlimm – das dürfte einen Bericht erfordern, eine Untersuchung. Und es betrifft Ihr System. Es tut mir sehr leid, Sir.«
»Wir wollen nicht vorschnell sein, Hopkins. Ich bin mir sicher, wir kriegen das wieder hin.«
»Tja … wir könnten es versuchen. Aber dazu muss ich einen Neustart durchführen und anschließend Ihren Account von unserer Abteilung aus abfragen. Dafür brauche ich bitte Ihre ID-Nummer und Ihr Passwort.«
Pause. »Ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen die geben darf.«
»Möglicherweise ist es Ihnen nicht bewusst, aber im Fall eines Netzwerk-Neustarts wird das Passwort automatisch verändert, also dürfen Sie es intern an die IT-Abteilung weitergeben. Wenn Sie sich damit unwohl fühlen, Sir, so verstehe ich das durchaus, aber dann muss ich die Nationale Sicherheitsbehörde anrufen, damit sie einer Aufhebung des Passworts zustimmt, es tut mir wirklich leid …«
»Na gut, Hopkins. Ich war mir dieser Bestimmung nicht bewusst.« Er nannte Gideon das Passwort und die ID-Nummer. Gideon notierte sich beides.
Nach einem Augenblick sagte er, mit riesengroßer Erleichterung in der Stimme: »Toll, der Neustart hat geklappt, Sir. Anscheinend hatte sich nur Ihr Bildschirm aufgehängt. Kein Sicherheitsverstoß. Damit wäre die Sache erledigt.«
»Ausgezeichnet.«
Gideon hob den Finger von der Taste und drehte sich zu der Empfangsdame um. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Ihnen so viel Mühe gemacht habe.« Er reichte ihr den Hörer. »Es ist alles geklärt.« Und damit verließ er schnellen Schritts das Gebäude in Richtung des wartenden Autos.
Eine halbe Stunde später war Gideon wieder zurück in seinem Motelzimmer. Er legte sich aufs Bett und verband seinen Laptop mit einem ungesicherten Computer in den Tiefen der General Service Administration, in den er sich gehackt hatte. Er hatte sich entschlossen, die GSA ins Visier zu nehmen – die riesige Agentur, die US-Behörden mit Büromaterial, Telekommunikationsausstattung und Transportkapazitäten versorgte –, weil sie ein relativ leichtes Ziel bot, aber trotzdem innerhalb des Sicherheitskordons der Regierung lag.
Hopkins hatte ihm – unwissentlich – gesagt, dass INSCOM lediglich Dokumente an zuvor autorisierte IP-Adressen verschicken könne, die sich aber leider ebenfalls überwiegend innerhalb des Kordons befänden, der geheime Dokumente schützte … Mit einer Ausnahme: die National Security Archives der George Washington University. Das private Archiv, das größte der Welt neben der Bibliothek des US-Kongresses, sammelte Riesenmengen an Regierungsdokumenten, darunter praktisch alles, was routinemäßig unter das gesetzlich vorgeschriebene Programm zur Aufhebung des Geheimschutzes von Dokumenten fiel. Und in dieses Archiv strömte Tag für Tag ein wahrer Amazonas von Informationen.
Über den Computer der GSA schickte Gideon über den Port 6151 eine automatisierte Anfrage an das geschützte Archiv von INSCOM an der George Washington University mitsamt der Anweisung, dass über den gleichen Port eine PDF-Datei eines bestimmten als geheim eingestuften Dokuments verschickt werden solle. Diese Anweisung war durch das Shorthouse-Passwort autorisiert, und so landete das Dokument auf der Müllhalde der vom Geheimschutz befreiten Dokumente aus der Zeit des Kalten Krieges, die als Batch-Dateien Tag für Tag an die National Security Archives geschickt wurden. Die Datei wurde ordnungsgemäß übermittelt; sie passierte die Firewall des einzigen autorisierten Ports, wo das Passwort geprüft und genehmigt wurde. Und so wurde das Dokument schließlich zusammen mit Millionen anderer an die George Washington University weitergeleitet und in einer der Datenbanken des Archivs eingelagert.
Gideon hatte damit erfolgreich für die irrtümliche Aufhebung des Geheimschutzes einer Verschlusssache gesorgt und diese in dem riesigen Strom jener Daten versteckt, die den Sicherheitsbereich des Regierungssystems verließen. Jetzt blieb nur noch eines zu tun: Er musste das geheime Dokument herausholen.
Tags darauf um elf Uhr betrat ein ungepflegt aussehender, jedoch unbestreitbar reizender Gastprofessor mit Namen Irwin Beauchamp, bekleidet mit einer Tweedjacke, einer farblich nicht dazu passenden Cordhose, ausgetretenen Budapester Schuhen und einer Strickkrawatte (32 Dollar; Heilsarmee) die Gelman Library der George Washington University und bat um die Herausgabe mehrerer Dokumente. Er war noch nicht als ständiger Leser angemeldet und hatte seinen befristeten Bibliotheksausweis verloren, aber eine freundliche Sekretärin erbarmte sich des schusseligen Burschen und gestattete ihm den Zugang zum System. Eine halbe Stunde später verließ Beauchamp das Gebäude mit einer schmalen Aktenmappe unter dem Arm.
Zurück im Hotel, breitete Gideon Crew mit zittrigen Händen die in der Mappe befindlichen Papiere aus. Der Augenblick der Wahrheit war gekommen, der Wahrheit, die ihn frei machen würde – oder nur noch unglücklicher.