I.
Melvin Crew
1
August 1988
Seine Mutter fuhr ihn im Plymouth-Kombi von der Tennisstunde nach Hause. Es war ein heißer Tag, weit über dreißig Grad, so heiß, dass die Kleidung auf der schweißfeuchten Haut klebte und die Sonne eine sengende Kraft entfaltete. Gideon hatte die Lüftungsschlitze im Armaturenbrett auf sein Gesicht eingestellt und genoss den kühlen Luftstrom. Sie fuhren gerade auf der Route 27, an der langen Betonmauer entlang, hinter der der Nationalfriedhof von Arlington lag, als zwei Polizisten auf Motorrädern ihren Wagen anhielten. Mit heulenden Sirenen und eingeschaltetem Blaulicht setzte sich das eine Motorrad vor, das andere hinter sie. Der vordere Polizist zeigte mit seiner schwarzbehandschuhten Hand in Richtung Ausfahrt Columbia Pike, und sobald sie auf der Ausfahrt waren, machte er Gideons Mutter das Zeichen, rechts ranzufahren. Nichts erinnerte an das bedächtige Vorgehen, wie man es von einer routinemäßigen Verkehrskontrolle kannte. Stattdessen sprangen beide Polizisten von ihren Motorrädern und kamen herbeigelaufen.
»Folgen Sie uns«, sagte der eine und beugte sich zum Seitenfenster herab. »Sofort.«
»Worum geht’s?«, fragte Gideons Mutter.
»Ein Notfall, nationale Sicherheit. Halten Sie sich dicht hinter uns. Wir werden schnell fahren und eine Gasse freimachen.«
»Ich verstehe nicht …«
Aber da liefen die Polizisten bereits zu ihren Motorrädern zurück.
Unter Sirenengeheul eskortierten sie Gideon und seine Mutter auf dem Columbia Pike bis zum George Mason Drive, drängten dabei die anderen Verkehrsteilnehmer links und rechts zur Seite. Weitere Motorräder, Streifenwagen und schließlich ein Krankenwagen schlossen sich ihnen an, eine Fahrzeugkolonne, die durch die stark befahrenen Straßen raste. Gideon wusste nicht, ob er nun freudig erregt oder verängstigt sein sollte. Als sie in den Arlington Boulevard einbogen, konnte er sich denken, wohin sie fuhren: zur Arlington Hall Station, denn dort arbeitete sein Vater für das nachrichtendienstliche und Sicherheits-Hauptkommando der US Army (INSCOM).
Vor dem Eingang zu dem Gebäudekomplex waren Sperrgitter errichtet, die allerdings rasch zur Seite geschoben wurden, damit die Wagenkolonne passieren konnte. Mit kreischenden Sirenen fuhren die Fahrzeuge den Ceremonial Drive entlang und kamen vor einer zweiten Reihe von Absperrungen zum Stehen, neben einer Vielzahl von Feuerwehrfahrzeugen, Streifenwagen und Kleintransportern für Spezialeinheiten. Hinter den Bäumen erblickte Gideon das Gebäude, in dem sein Vater arbeitete, die imposanten weißen Säulen und die Backsteinfassade zwischen den smaragdgrünen Rasenflächen und gestutzten Eichen. Früher hatte das Haus ein Mädchenpensionat beherbergt – und es sah immer noch so aus. Davor war eine große Fläche geräumt worden. Hinter einer Bodenwelle auf dem Rasen lagen zwei Scharfschützen, ihre Gewehre auf Zweibeinstative gestützt.
Seine Mutter drehte sich zu ihm um und sagte in scharfem Ton: »Du bleibst im Auto. Und steigst nicht aus, egal, was passiert.« Dass ihr Gesicht so grau und angestrengt wirkte, machte ihm Angst.
Seine Mutter stieg aus. Die Phalanx der Polizisten stürmte durch die Menschengruppe, die sich unmittelbar vor ihr befand, und sie verschwanden darin.
Sie hatte vergessen, den Motor auszuschalten. Die Klimaanlage lief immer noch. Als Gideon das Seitenfenster herunterkurbelte, drangen die Geräusche von Sirenen, Walkie-Talkie-Gesprächen und Rufen ins Wageninnere. Zwei Männer in blauen Anzügen liefen an ihm vorbei. Ein Polizist rief lauthals irgendetwas in ein Funksprechgerät. In der Ferne ertönten weitere Sirenen, sie kamen aus allen Richtungen.
Aus einem elektronischen Megaphon ertönte eine plärrende, verzerrte Stimme. »Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus.«
Die Leute verstummten augenblicklich.
»Sie sind umstellt. Sie haben keine Chance. Lassen Sie Ihre Geisel frei und kommen Sie sofort raus.«
Wieder Stille. Gideon blickte sich um. Die Aufmerksamkeit der Leute war auf die Eingangstür des Gebäudes gerichtet. Dort spielte sich, so schien es, das Entscheidende ab.
»Ihre Frau ist hier. Sie möchte mit Ihnen sprechen.«
Aus der Lautsprecheranlage ertönte ein Knistern, dann das elektronisch verstärkte Geräusch eines kurzen Schluchzers, grotesk und fremdartig. »Melvin?« Noch ein erstickter Ruf. »MELVIN?«
Gideon zuckte zusammen. Das ist die Stimme meiner Mutter.
Es kam ihm alles vor wie ein Traum, in dem nichts einen Sinn ergab. Völlig irreal. Er legte die Hand auf den Türgriff, drückte die Tür auf und trat in die Gluthitze.
»Melvin …« Ein Schluchzen. »Bitte komm heraus. Niemand wird dir etwas antun, ich verspreche es. Bitte lass den Mann gehen.« Die Stimme aus dem Megaphon klang schroff und fremdartig – und war doch unverkennbar die seiner Mutter.
Gideon drängelte sich durch die Grüppchen der Polizeibeamten und Armeeoffiziere nach vorn. Niemand schenkte ihm Beachtung. Er ging bis zur äußeren Absperrung und legte eine Hand auf das rauhe, blau gestrichene Holz. Er blickte in die Richtung der Arlington Hall, konnte aber weder vor der idyllischen Fassade noch auf dem nahe gelegenen Gelände, das von allen Leuten geräumt worden war, irgendeine Bewegung erkennen. Das Haus, das in der Hitze flirrte, wirkte wie ausgestorben. Draußen hingen die Blätter schlaff von den Ästen der Eichen, der niedrige Himmel war wolkenlos und so blass, dass er fast weiß wirkte.
»Melvin, wenn du den Mann gehen lässt, wird man dir zuhören.«
Wieder erwartungsvolles Schweigen. Dann bewegte sich auf einmal irgendetwas in der Eingangstür. Ein rundlicher Mann im Anzug, den Gideon nicht kannte, trat stolpernd aus dem Gebäude. Er blickte sich einen Augenblick lang orientierungslos um, dann rannte er auf seinen dicken Beinchen los, auf die Absperrungen zu. Vier Beamte mit Helmen auf dem Kopf stürmten mit gezückten Waffen hervor, packten den Mann und zerrten ihn hinter einen Kleintransporter der Spezialeinheiten.
Gideon duckte sich unter der Absperrung hindurch und drängelte sich durch die Gruppen der Polizisten, der Männer mit Walkie-Talkies, der Männer in Uniform. Niemand bemerkte ihn, keiner interessierte sich für ihn. Alle Blicke richteten sich auf den Vordereingang des Gebäudes.
Und dann ertönte hinter der Eingangstür eine leise Stimme. »Es muss Ermittlungen geben!«
Das war die Stimme seines Vaters. Gideon blieb stehen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.
»Ich verlange eine Untersuchung! Sechsundzwanzig Menschen haben ihr Leben verloren!«
Ein gedämpftes, elektronisch verstärktes Knistern, dann ertönte eine Männerstimme aus der Lautsprecheranlage. »Dr. Crew, Ihre Anliegen werden berücksichtigt werden. Aber Sie müssen jetzt mit erhobenen Händen herauskommen. Verstehen Sie? Sie müssen sich ergeben.«
»Sie haben nicht auf mich gehört«, erschallte die bebende Stimme. Sein Vater klang verängstigt, fast wie ein Kind. »Menschen sind umgekommen, aber man hat nichts dagegen unternommen! Ich verlange eine Untersuchung.«
»Wir versprechen es Ihnen.«
Gideon war an die innerste Absperrung gelangt. An der Vorderseite des Gebäudes war noch immer alles ruhig, aber inzwischen stand er nahe genug davor, um erkennen zu können, dass die Tür halb offen stand. Es war ein Traum; bestimmt würde er gleich daraus erwachen. Ihm war schwindlig wegen der Hitze, und er hatte einen kupferähnlichen Geschmack im Mund. Es war ein Alptraum, der in der Realität spielte.
Und da sah er, wie die Tür nach innen schwang und sein Vater im schwarzen Rechteck des Türrahmens erschien. Vor der eleganten Fassade des Gebäudes wirkte er furchtbar klein. Mit erhobenen Händen, die Handflächen nach vorn weisend, trat er einen Schritt vor. Das glatte Haar klebte ihm an der Stirn, seine Krawatte hing schief, der blaue Anzug war zerknittert.
»Das ist weit genug«, ertönte die Stimme. »Halt.«
Melvin Crew blieb stehen und blinzelte ins helle Sonnenlicht.
Die Schüsse fielen so kurz hintereinander, dass es sich anhörte, als knatterten Feuerwerkskörper, gleichzeitig wurde er jählings zurück ins Dunkel der Eingangstür gestoßen.
»Dad!«, schrie Gideon, sprang über die Absperrung und lief über den heißen Asphalt des Parkplatzes. »Dad!«
Hinter ihm ertönten Schreie, Rufe wie »Wer ist der Junge?« und »Feuer einstellen!«.
Er sprang über den Kantstein und rannte mitten über die Rasenfläche auf den Eingang zu. Männer liefen los, um ihn zurückzuhalten.
»Verdammt noch mal, haltet ihn auf!«
Er glitt auf dem Rasen aus, stürzte auf Hände und Knie, stand wieder auf. Er sah bloß die beiden Schuhe seines Vaters, sie ragten aus dem dunklen Türrahmen ins Sonnenlicht, die abgewetzten Schuhsohlen zeigten nach vorn, so dass alle sehen konnten, dass eine Sohle ein Loch hatte. Es war ein Traum, ein Alptraum – und dann war das Letzte, was Gideon sah, bevor er zu Boden gerissen wurde, wie sich die Füße bewegten, zweimal zuckten.
»Dad!«, schrie er ins Gras und versuchte, sich aufzurappeln, während sich das Gewicht der Welt auf seinen Schultern auftürmte. Aber er hatte doch gesehen, dass sich die Füße bewegten, sein Vater lebte, er würde aufwachen, und alles wäre wieder gut.