19
Der Polizei-Schrottplatz lag am Harlem River in der South Bronx, im Schatten der Willis Avenue Bridge. Gideon stieg aus dem Taxi und stand mitten in einer düsteren Gegend mit Lagerhäusern und Gewerbegrundstücken voll alter Eisenbahnwaggons, ausrangierter Schulbusse und rostender Container. Vom Fluss wehte ein Gestank nach Unrat und toten Muscheln herüber, und das Rauschen des abendlichen Stoßverkehrs auf dem Major Deegan Expressway summte in der Luft wie ein Bienenstock. Gideon hatte mal in einer Gegend gewohnt, die der hier ähnelte – in der letzten in einer Reihe zunehmend ärmlicherer Behausungen, in denen er mit seiner Mutter gelebt hatte. Selbst der Geruch war ihm vertraut. Es war ein Gefühl, das ihn ungeheuer deprimierte.
Ein Maschendrahtzaun mit Stacheldraht obendrauf umgab das Gelände, das an der Vorderseite von einem Rolltor neben einem Wachhaus begrenzt wurde. Hinter dem Zaun befand sich ein fast leerer, von abgestorbenen Giftsumachsträuchern gesäumter Parkplatz, hinter dem sich ein langes Lagerhaus erstreckte. Hinter diesem und zur Rechten lag ein Schrottplatz voller gepresster und gestapelter Autos.
Gideon schlenderte auf das Wachhaus zu. Hinter den Plastikfenstern saß ein dunkelhäutiger Polizist und las in einem Buch. Als Gideon sich näherte, schob er das straßenseitige Seitenfenster mit seiner kräftigen, mit dicken schwarzen Härchen bedeckten Hand auf. »Ja?«
»Hallo«, sagte Gideon. »Können Sie mir vielleicht helfen?«
»Wobei?« Der Polizist steckte seine Nase immer noch ins Buch. Gideon beugte sich leicht zur Seite, um den Einband erkennen zu können, und stellte verwundert fest, dass es sich um Augustinus’ Der Gottesstaat handelte.
»Na ja«, sagte Gideon und befleißigte sich seines schmeichlerischsten, unterwürfigsten Tonfalls. »Ich möchte Sie nicht stören.«
»Kein Problem«, sagte der Polizist und legte das Buch zur Seite.
Erleichtert stellte Gideon fest, dass der Mann trotz seiner ausgeprägten Neandertaler-Stirn und dem starken Bartschatten freundliche, offene Gesichtszüge hatte. »Mein Schwager Tony Martinelli, er ist der Taxifahrer, der gestern Abend bei diesem Unfall ums Leben gekommen ist. Der, den irgend so ein Kerl auf der Hundertsechzehnten von der Fahrbahn gedrängelt hat. Haben Sie davon gelesen?«
Plötzlich zeigte der Polizist Interesse. »Natürlich. Der schlimmste Verkehrsunfall seit Jahren – wurde doch in allen Medien drüber berichtet. Der Mann war Ihr Schwager? Mein Beileid.«
»Meine Schwester ist deswegen völlig am Boden zerstört. Es ist einfach entsetzlich. Sie hat zwei kleine Kinder zu Hause, ein und drei Jahre alt, kein Geld, eine große Hypothek auf dem Haus.«
»Das ist wirklich schlimm.« Der Polizist legte das Buch beiseite, seine Anteilnahme wirkte aufrichtig.
Gideon zog ein Taschentuch hervor und wischte sich damit über die Stirn. »Also, es geht um Folgendes. Er hatte ein kleines Medaillon am Innenrückspiegel befestigt. Ein sehr schönes, reines Silber, besaß es schon seit Ewigkeiten. Mit dem heiligen Christophorus.«
Der Polizist nickte verständnisvoll.
»Tony ist nach Italien geflogen, zur Feier der Jahrtausendwende, und da hat der Papst das Medaillon gesegnet. Hat es persönlich gesegnet. Ich weiß nicht, ob Sie katholisch sind, aber der heilige Christophorus ist der Schutzpatron der Reisenden, und weil mein Schwager Taxifahrer ist und so – na ja, das Medaillon war der wertvollste Gegenstand, den er besaß. Die Audienz beim Papst war der Höhepunkt seines Lebens.«
»Ich bin katholisch«, sagte der Cop. »Ich kenne das alles.«
»Das ist gut, schön, dass Sie mich verstehen. Ich weiß zwar nicht, ob Sie das dürfen oder nicht, und ich möchte Ihnen auch keine Probleme machen, aber es würde seiner Witwe sehr viel bedeuten, wenn sie das Medaillon zurückbekäme. Um es, Sie wissen schon, in den Sarg zu legen und es mit ihrem Mann zu beerdigen. Es würde ihr so viel Trost spenden …« Seine Stimme brach. »Entschuldigen Sie.« Er zog ein Taschentuch hervor, das er zu dem Zweck gekauft hatte, und schneuzte sich.
Der Polizist rutschte ein wenig unruhig auf dem Stuhl herum. »Ich verstehe Sie ja. Und ich fühle mit Ihrer Schwägerin und ihren Kindern, wirklich. Aber es gibt da ein Problem.«
Gideon wartete geduldig.
»Das Problem besteht darin«, wiederholte der Cop unsicher und überlegte, wie er es treffend formulieren könnte, »dass das Unfallfahrzeug ein Beweismittel in einer Morduntersuchung ist. Es ist im Moment eingeschlossen, niemand kommt da ran.«
»Eingeschlossen?«
»Ja, genau. In dem Beweismittel-Käfig dort.«
»Aber ich könnte doch einfach da hineingehen und das Medaillon vom Rückspiegel abnehmen? Das Medaillon ist doch kein Beweismittel.«
»Ich verstehe Sie, wirklich. Aber das Taxi befindet sich unter Verschluss. In einem Maschendrahtkäfig, mit einem Maschendrahtdach darüber und allem. Und das Lagerhaus selbst ist verschlossen und mit einer Alarmanlage gesichert. Sie müssen verstehen, in einem Fall wie diesem ist das Entscheidende die lückenlose Aufbewahrung der Asservate. Und das Taxi gilt als Asservat. Es sind Kratzer darauf, Farbreste vom anderen Fahrzeug – der Beweis, dass es gerammt wurde. Es handelt sich um einen großen Mordfall, sieben Personen sind bei dem Unfall ums Leben gekommen, weitere wurden schwer verletzt. Und es wird immer noch nach dem Dreckskerl gefahndet. Außer dem autorisierten Personal darf niemand den Käfig betreten, und das auch nur nach Erledigung aller Formalitäten. Außerdem muss alles, was mit dem Wagen gemacht wird, auf Video aufgenommen werden. Und das aus gutem Grund – um den Täter zu fassen und sicherzustellen, dass er verurteilt wird.«
Gideon zog ein langes Gesicht. »Ah ja, verstehe. Schade, aber es hätte meiner Schwester sehr viel bedeutet.« Er hob den Kopf, wobei sich seine Miene aufhellte, als sei ihm eine Idee gekommen. »Tony wird erst in ein, zwei Wochen beerdigt, frühestens. Bleibt der Wagen lange unter Verschluss?«
»So, wie solche Dinge laufen, bleibt er so lange unter Verschluss, bis der mutmaßliche Täter festgenommen ist, dann kommt der Prozess, vielleicht eine Revision … Das könnte Jahre dauern. Ich wünschte, es wäre anders.« Der Beamte breitete die Arme aus. »Jahre.«
»Was soll ich denn meiner Schwester sagen? Das Lagerhaus ist alarmgesichert, sagten Sie?«
»Alarmgesichert und bewacht, rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Und selbst wenn Sie dort hineinkämen, das Fahrzeug steht, wie gesagt, verschlossen in einem Beweismittel-Käfig, ganz hinten. Nicht einmal der Wachmann hat einen Schlüssel dafür.«
Gideon rieb sich das Kinn. »Maschendrahtkäfig?«
»Ja, so ähnlich wie die, die man in Guantánamo verwendet.«
»Und der Käfig ist auch alarmgesichert?«
»Nein.«
»Wie ist denn das Lagerhaus gesichert?«
»An Türen und Fenstern.«
»Bewegungsmelder? Laser?«
»Nein, ein Wachmann dreht da drin alle halbe Stunde seine Runde. Ich glaube, nur die Türen und Fenster sind alarmgesichert.«
»Videokameras?«
»Ja, überall. Das ganze Areal wird überwacht.« Der Polizist hielt inne, sein Gesicht wurde ernst. »Denken Sie nicht mal dran.«
Gideon schüttelte den Kopf. »Sie haben recht. Was zum Teufel denke ich da?«
»Haben Sie Geduld. Am Ende bekommen Sie Ihr Medaillon zurück, und vielleicht haben Sie dann auch die Genugtuung zu erleben, dass der Täter fünfundzwanzig Jahre bis lebenslänglich auf Rikers Island absitzt.«
»Ich hoffe, der Dreckskerl landet auf dem elektrischen Stuhl.«
Der Polizist legte seine kräftige Hand auf Gideons. »Ihr Verlust tut mir sehr leid.«
Gideon nickte, drückte dem Polizisten die Hand und schlenderte davon. Am Ende des Häuserblocks wandte er sich um und blickte zurück. Unter den Dachvorsprüngen an den Ecken des Lagerhauses befanden sich mehrere Überwachungskameras, die die Außenanlage komplett abdeckten. Er zählte zwölf Kameras allein von seinem Standort aus. Auf der anderen Seite des Gebäudes würden sicher noch viel mehr angebracht sein und die gleiche Anzahl drinnen.
Er drehte sich um und dachte darüber nach, was er erfahren hatte. Tatsache war: Die meisten sogenannten Sicherheitssysteme waren Flickschusterei, nichts weiter als teurer elektronischer Krempel, der mehr schlecht als recht zusammengebastelt wurde, ohne zu bedenken, dass man ein koordiniertes, umfassendes Netzwerk aufbauen musste. Zu Gideons schlimmsten Gewohnheiten, die ihm die Freude an Museumsbesuchen vergällt hatte, gehörte seine Neigung, sich vorzustellen, auf wie viele Weisen er das Museum ausrauben konnte: drahtlose Sender, Vibrations- und Bewegungsmelder, kontaktlose Infrarot-Detektoren, Ultraschall – es war alles so offensichtlich.
Er schüttelte fast bedauernd den Kopf. Das Lagerhaus der Polizei würde keine Herausforderung darstellen, überhaupt keine.