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Seufzend verschloss und verriegelte Roger Marion die Tür zu seinem Apartment. Es war ein Tag voll hektischen Treibens in Chinatown gewesen, die Mott hatte von Menschen nur so gewimmelt, und noch immer drang der Trubel durch die geschlossenen und vergitterten Fenster, die auf die Feuerleiter und die andere Straßenseite hinausgingen, bis in seine Wohnung.

Er hielt inne, um sich zu sammeln, seine Mitte und Ruhe wiederzufinden, die das unaufhörliche Chaos in dieser Stadt zerstört hatte. Er schloss die Augen, betrat die Stille und führte die fließenden, unter dem Begriff mile shenyao bekannten Bewegungen aus. Er spürte förmlich, wie sich das »Rad des Gesetzes« drehte, drehte, auf ewig drehte.

Als er seine Übungen beendet hatte, ging er in die Küche, um sich Tee zu machen. Er stellte den Kessel auf die Herdplatte, nahm die schwere eiserne Teekanne und eine Dose mit losem weißem Tee vom Bord und stellte beides auf den Küchentresen. Kurz bevor das Wasser kochte, nahm er den Kessel von der Platte, goss ein wenig Wasser in die Eisenkanne, um sie zu wärmen, schwenkte das Wasser darin und schüttete es aus. Dann gab er mit einem Löffel eine Portion gewellte weiße Teeblätter hinein und goss sie mit heißem Wasser auf. Als er mit Kanne und Tasse ins Wohnzimmer zurückkehrte, stand dort mitten im Raum ein Mann, mit verschränkten Armen, ein Lächeln im Gesicht.

»Tee, wie schön«, sagte der Mann auf Chinesisch. Er trug einen unscheinbaren Anzug, ein weißes Hemd und eine klassische grau gestreifte Krawatte. Sein Gesicht war so glatt und faltenfrei wie ein Ballen Seide, seine Augen kalt und leer, seine Bewegungen anmutig. Unter der Kleidung war er, wie Marion sah, der Inbegriff schlanker Sportlichkeit.

»Der Tee muss ziehen«, sagte Marion. Er ließ sich nichts anmerken, auch wenn es ihn erstaunte und bestürzte, dass der Mann in seine Wohnung hatte eindringen können. »Erlauben Sie mir, Ihnen eine Tasse zu holen.«

Der Mann nickte. Marion drehte sich um und ging zurück in die Küche. Als er die Tasse vom Küchenregal nahm, zog er gleichzeitig ein kleines Messer aus einem auf der Arbeitsplatte stehenden Messerblock und steckte es sich hinten in den Hosenbund.

Zurück im Wohnzimmer, stellte Marion die Tasse neben die Teekanne.

»Ich ziehe es vor, weißen Tee mindestens zehn Minuten ziehen zu lassen«, sagte der Mann. »In der Zwischenzeit können wir miteinander reden.«

Marion wartete.

Der Mann verschränkte die Arme hinter dem Rücken und begann, langsam im Zimmer umherzugehen. »Ich suche nach etwas.« Er blieb vor dem Plakat an der Wand stehen und betrachtete es eingehend.

Marion schwieg. In Gedanken stellte er die Bewegungen zusammen, die nötig waren, um dem Mann das Messer in den Hals zu bohren.

»Wissen Sie, wo es sich befindet?«, fragte der Fremde.

»Sie haben mir nicht gesagt, wonach Sie suchen.«

»Sie wissen es nicht?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«

Der Mann tat seine Antwort mit einer knappen Geste ab, so als wedelte er eine Stechmücke weg. »Was haben Sie damit vor?«

Marion sagte nichts. Er hatte alles im Kopf durchgespielt. »Tee?«

Der Mann wandte sich um. »Er hat nicht lange genug gezogen.«

»Ich ziehe ihn ein wenig milder vor.«

»Bitte bedienen Sie sich. Ich warte noch.«

Marion beugte sich in einer geschmeidigen Bewegung vor und hob die Eisenkanne am Henkel an. Sein Geist war so klar und hell wie ein Diamant. Er kippte die Kanne ein wenig, füllte die Tasse mit dem heißen Tee, stellte die Kanne ab, hob die Tasse ganz ruhig an, so, als wolle er daraus trinken, und dann schüttete er dem Mann mit einem kurzen Schnappen des Handgelenks den siedend heißen Tee ins Gesicht, zückte dabei blitzartig das Messer und zog es ihm über den Hals.

Doch der Mann – und der Hals – waren nicht da, und so sauste das Messer harmlos durch die Luft. Von der Bewegung kurz aus dem Gleichgewicht gebracht, kippte Marion ein wenig nach vorn, aber gerade als er versuchte, die Balance wiederzufinden, kam wie aus dem Nichts ein Arm mit einer klauenförmigen Hand hervorgeschossen. Marion erblickte etwas, das wie Metallkrallen aussah; er wollte sich ducken, aber zu spät. Er verspürte ein brutales Ziehen am Hals und ein jähes, brennendes Ausströmen von Luft.

Als Letztes sah er, wie der Mann neben ihm stand und irgendetwas gepackt hielt, bei dem es sich, wie Marion erkannte, um seine eigene blutige, pulsierende Luftröhre handelte.

Nodding Crane trat einige Schritte von dem zuckenden Leib zurück. Stoßweise strömte Blut auf den Teppich. Er ließ das grausige Körperorgan fallen und wartete, bis alles still war, dann trat er um das Hindernis herum in die Küche. Er wusch sich die Hände dreimal mit heißem Wasser und untersuchte sorgfältig seinen Anzug. Seine Kleidung hatte keine Flecken von dem xiaoren, dem kleinen Menschen, abbekommen. Die ganze Wucht der Bewegung hatte vom Körper weggeführt. Nur ein paar Blutstropfen befanden sich auf seinem linken Maßschuh, den er penibel mit einem feuchten Lappen säuberte und dann kurz polierte.

Zurück im Wohnzimmer, sah er, dass der Blutstrom versiegt war. Der Teppich hatte das Blut größtenteils aufgesogen und dafür gesorgt, dass der Fleck sich nicht ausbreitete. Er trat darum herum, schenkte sich eine Tasse Tee ein und trank sie mit Genuss. Der Tee hatte die ideale Zeit gezogen. Er trank in kleinen Schlucken aus und goss sich noch eine Tasse ein. Da fiel ihm ein besonders treffender Gedanke aus dem riesigen Schatzhaus der konfuzianischen Philosophie ein: Wird die Bestrafung nicht regelgerecht erteilt, wissen die Menschen weder Hände noch Füße zu bewegen.