51
Gegen elf Uhr abends traf Gideon wieder im Waldorf ein. Er stahl sich durch den Personaleingang in das Gebäude und mied dadurch Saint Bart’s, wo, so fürchtete er, Nodding Crane womöglich immer noch mit seiner Gitarre wartete. Während er auf der Rückfahrt von New Jersey über alles nachgedacht hatte, wurde ihm klar, dass sich Nodding Crane von den Stufen vor Saint Bart’s ein unverstellter Blick auf die Fenster seiner beiden Hotelzimmer bot, wie auch auf den Haupteingang des Hotels und den Eingang an der 51. Straße. Gideon konnte zwar nicht sicher sein, dass Nodding Crane von beiden Zimmern wusste, aber er musste davon ausgehen. Der Killer hatte seinen Standort gut gewählt.
Gideon verfluchte seine Dummheit, drückte den Knopf an einem der Service-Aufzüge und fuhr darin bis zum Flur seines Hotelzimmers. Leise betrat er das Zimmer, schaltete aber kein Licht an, für den Fall, dass Nodding Crane immer noch von der Straße aus alles im Blick hatte. Doch vielleicht wartete der Kerl auch in dem Zimmer auf ihn. Gideon blieb stehen und lauschte. Zum ersten Mal wünschte er, er hätte seine Handfeuerwaffe nicht im Fluss verloren oder wenigstens Garza um eine neue gebeten.
Am meisten beunruhigte ihn an Nodding Crane nicht, dass der ihm so erfolgreich auf den Fersen blieb. Das nicht – sondern dass er so verdammt gut Blues-Gitarre spielte. Trotz der Dinge, die Mindy Jackson ihm erzählt hatte, hatte er angenommen, Nodding Crane sei eine Art chinesischer Auftragskiller, eine Karikatur aus einem Kung-Fu-Film, ein Experte in Kampfsportarten, aber nicht mit der amerikanischen Kultur vertraut und wegen seiner Fremdheit und mangelnden Vertrautheit mit New York in seiner Bewegungsfähigkeit eingeschränkt. Jetzt ging ihm auf, dass diese Annahmen falsch waren.
Es lief ihm kalt den Rücken hinunter. Im Zimmer war es still, die Luft stand. Schließlich trat er ans Bett und zog den Pelican-Koffer darunter hervor. Im Licht, das durch das Fenster fiel, sah er unangetastet aus. Er wählte die Kombination, öffnete die Tasche und zog den großen braunen Umschlag mit Wus Röntgenbildern und den Arztbericht aus der Tasche, dann verschloss er sie wieder. Er zog den Mantel aus, steckte sich die Mappen unters Hemd und zog den Mantel wieder an.
Seine Gedanken wanderten zu seinen eigenen Röntgenbildern und CT-Aufnahmen, dann unterdrückte er sie. Er würde mit Sicherheit scheitern, wenn er jetzt seine Konzentration verlor.
Auf der Straße vor dem Hotel hörte man anschwellendes Sirenengeheul. Gideon trat vorsichtig ans Fenster und spähte nach draußen. In Saint Bart’s ging irgendetwas vor. Mehrere Krankenwagen und Einsatzwagen waren vorgefahren, blockierten die Fahrspuren der Park Avenue in Richtung Norden, außerdem versammelten sich schon die ersten Schaulustigen. Die Polizisten errichteten Absperrungen und drängten die Leute zurück. Nodding Crane mit seiner Gitarre war nirgends zu sehen, wahrscheinlich war er wegen all des Trubels abgezogen. Aber er hielt sich in der Nähe auf und beobachtete alles – da war sich Gideon sicher.
Er trat aus dem Hotelzimmer und schloss die Tür leise hinter sich. Auf dem hell erleuchteten Flur war es still. Er musste das Hotel verlassen und O’Brien aufsuchen, und zwar so, dass er absolut sicher war, nicht verfolgt zu werden. Der U-Bahn-Trick war ziemlich gut, aber wahrscheinlich würde sich Nodding Crane kein zweites Mal derartig austricksen lassen. Außerdem war er ziemlich sicher, dass sein Verfolger seine Verkleidungen mittlerweile durchschaute.
Gideon dachte eine Weile nach. Das Waldorf hatte vier Ausgänge, einen zum Central Park, einen zur Lexington Avenue und zwei an der 51. Straße. Nodding Crane konnte nur einen bewachen. Möglicherweise hatte er sogar gesehen, wie er das Hotel betrat.
Verdammt. Wie sollte er da unentdeckt zur Columbia hinauffahren?
Ihm kam eine Idee. Die Leute vor Saint Bart’s könnten ihm paradoxerweise dabei helfen, seinen Verfolger abzuschütteln. Er würde in der Menge seine Chance suchen.
Er fuhr mit dem Lift nach unten, ging mitten durchs Foyer und verließ das Hotel durch den Haupteingang.