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Gideon betrat die Bar und sah, dass sie ganz hinten saß, mit einem Glas in der Hand. Er war überrascht, wie gut sie aussah, hochgewachsen und schlank, nicht der muskulöse Roller-Derby-Typ, mit dem er gerechnet hatte. Er wiederum hatte den Anzug ausgezogen und trug enge schwarze Jeans, T-Shirt und Chuck-Taylor-Schuhe. Er ging zu ihr hin und setzte sich.

»Ich warte auf jemanden«, sagte sie mit australischem Akzent.

»Ich bin der Mann, auf den Sie warten. Gideon Crew, zu Ihren Diensten.« Der Barkeeper kam herüber. »Ich nehme, was sie hat.«

»Das wäre ein Pellegrino.«

»Igitt! Streichen Sie das und bringen Sie uns zwei doppelte Martini.«

Gideon registrierte, dass sie ihn anblickte, und meinte, in ihren Zügen einen Ausdruck freudiger Überraschung zu lesen.

»Ich dachte, ich würde irgendeinen alten Anzugträger treffen.«

»Falsch. Ich bin ein schlanker Nicht-Anzugträger. Und wie heißen Sie?«

Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. »Gerta. Wie alt sind Sie?«

»Ungefähr so alt wie Sie. Woher kommen Sie. Coomooroo? Goomalling?«

Sie lachte. »Spinnen Sie? Waren Sie schon mal in Australien?«

Er sah auf die Uhr. »Kommen Sie, wir gehen mit den Drinks ins Restaurant und bestellen uns etwas zu essen. Ich habe Kohldampf.«

Im Hotelrestaurant, nachdem er sie mit Chateau Pétrus und Kalbsbries verwöhnt hatte, schüttete er ihr sein Herz aus. Und zwar langsam, widerstrebend und nur nach sanftem Drängen. Er erzählte Gerta davon, wie er durch den Verkauf seines Unternehmens ein Vermögen gemacht hatte, wie er so hart gearbeitet hatte, dass er seinen kleinen Sohn kaum einmal zu Gesicht bekam, wie sich seine Frau von ihm scheiden ließ und dann beide bei einem Autounfall ums Leben kamen, wie er den kleinen Leichnam seines Söhnchens im Sarg auf der Totenfeier kaum erkannt hatte, weil es so lange her gewesen war, dass er ihn gesehen hatte … Und nun war er hier, ein Milliardär und so einsam, dass er das alles – alles – gegen eine Stunde mit seinem Sohn eintauschen würde. Eine Stunde von den vielen, die er weggeworfen hatte, um das ganze Geld zu verdienen, während sein Sohn jeden Abend darauf wartete, dass er nach Hause kam, manchmal mit der Taschenlampe unter der Bettdecke, damit er nicht schlief, wenn Daddy endlich kam. Aber er war immer eingeschlafen, lag da, die Taschenlampe noch angeschaltet. Gideon zog das Foto eines himmlischen blonden Jungen aus der Brieftasche, vergoss eine Träne darüber und erklärte sich zum einsamsten, traurigsten Milliardär auf Erden.

Er wurde belohnt, denn auch Gerta vergoss eine Träne.

Wieder im Zimmer, fing Gerta an, ihre Sachen mit, wie er feststellte, einem gewissen Widerstreben auszupacken, aber als sie den Reißverschluss ihrer Kulturtasche aufzog, gestand Gideon ihr, dass er noch nie jemanden wie sie kennengelernt habe, dass sie seine Freundin sein solle und er noch ein wenig mehr erzählen wolle. Und dass sie so witzig und interessant sei, dass er sich nicht vorstellen könne, diese Dinge mit ihr zu machen – die Dinge, die ihm dabei halfen, zu vergessen, und wenn nur ein klein wenig –, weil er sie inzwischen viel zu sehr respektiere.

Gideon fragte sie nach ihren interessanteren Erlebnissen, und sie begann, zunächst widerstrebend, aber dann begieriger, ihm von ihrer Arbeit zu berichten. Sie saßen nebeneinander auf dem Bett, und Gerta redete. Nach fünf oder sechs ihrer Geschichten kam sie endlich auf den Vorfall zu sprechen, der ihn interessierte. Es sei, sagte sie, vor ungefähr zwei Wochen passiert. Sie war von einem Mitarbeiter einer australischen Firma für einen Spezialauftrag engagiert worden. Offenbar hatte der Chinese irgendwelche technologischen Neuerungen seines Unternehmens gestohlen – wusste Gideon eigentlich, dass China australische Firmen schon seit geraumer Zeit bestahl? –, und die Firma wollte, dass sie einen der chinesischen Manager in eine kompromittierende Situation manövrierte, damit man die technologische Neuerung zurückbekam. Der Preis: 10 000 Dollar für einen Abend.

»Ich hatte mit irgend so einem chinesischen Gangstertyp gerechnet«, sagte sie, »aber der Mann war klein und nervös. Kaum größer als ein Liliputaner. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er damit herausrückte, was er wollte.« Sie lachte. »Aber als er dann losgelegt hat … Mannomann.«

Gideon stimmte in ihr Lachen ein und stand auf, um einen Piccolo Veuve Clicquot aus der Minibar zu holen. Er schenkte zwei Gläser voll.

»Ja, es war ziemlich lustig. Er hat sich benommen wie ein gieriger Teenager.«

»Und was hat er beruflich gemacht?«, fragte Gideon.

»Erst klang alles geheim und hochwichtig, wie er das so erzählte, irgendwas mit Elektrizität. Hat nicht mal erwähnt, dass sein eigentliches Geschäft darin bestand, Australien zu bestehlen.«

»Elektrizität?« Gideon öffnete eine zweite Piccolo-Flasche.

»Na, ich glaube, das hat er gesagt, Elektrizität oder vielleicht Elektronen oder irgendwas in der Art. Hat angedeutet, dass sich dadurch alles ändern und China die Welt übernehmen würde. Am Ende war er ziemlich betrunken und hat reichlich wirres Zeug geredet.«

»Waren die Australier, die Sie engagiert hatten, mit den Informationen zufrieden?«

»Sie waren mehr daran interessiert, alles auf Video festzuhalten. Sie wollten den Mann dazu zwingen, ihnen ihre technologische Neuerung zurückzugeben.«

»Was für eine technologische Neuerung?«

Gerta nahm einen großen Schluck Champagner. »Das hat man mir nicht verraten. Das war geheim.«

»Und das hat sich alles in seinem Zimmer abgespielt?«

»O ja. Ich arbeite nie zu Hause.«

»Haben Sie gesehen, ob er einen Laptop bei sich hatte? Oder eine tragbare Festplatte?«

Sie zögerte und blickte ihn an. »Nein. Warum?«

Gideon merkte, dass er sie zu sehr drängte. »Reine Neugier. Sie sagten, er sei Wissenschaftler. Ich habe mir gedacht, dass sich die gestohlene technologische Neuerung vielleicht in dem Zimmer befand.«

»Kann sein. Mir ist aber nichts aufgefallen. Das Zimmer war sehr aufgeräumt, alles war verstaut.«

Er entschloss sich, es noch einmal zu versuchen. »Hat er irgendetwas von einer Geheimwaffe erwähnt?«

»Einer Geheimwaffe? Nein, er hat nur viel davon gesprochen, dass China die Welt beherrschen werde, die übliche Prahlerei. Ich höre das oft von chinesischen Geschäftsleuten. Die glauben alle, dass China in zehn, zwanzig Jahren den Rest von uns in der Tasche hat.«

»Was hat er sonst noch erzählt?«

»Nicht viel. Als es vorbei war, wurde er plötzlich echt paranoid, hat sich im Zimmer nach Wanzen umgesehen, hatte Angst, dass ich weggehe. Er ist echt schnell wieder nüchtern geworden. Es war, ehrlich gesagt, irgendwie unheimlich, wie sehr er ausgeflippt ist.«

»Und man hat Ihnen zehntausend gezahlt?«

»Fünf vorher, fünf hinterher.«

»Australier, sagten Sie?«

»Richtig. Und sie kamen aus Sydney, woher auch ich komme. Ich fand es nett, jemanden von Down Under zu treffen.«

Gideon nickte. Die CIA war cleverer, als er dachte.

»Und dann«, fuhr Gerta mit einem Lachen fort und verschüttete dabei ein wenig Champagner, »war da noch dieser Typ vor zwei Jahren, der seinen Affen mitbringen wollte. Affen sind grässliche Tiere, und ich meine grässlich! Sie werden nicht glauben, was er wollte …«

Schließlich schlief sie auf der Bettdecke ein, leise schnarchend. Gideon bettete sie behutsam auf die eine Seite, dann legte er sich auf die andere. Auch sein Kopf drehte sich vor lauter Martinis, Wein und Champagner.